von Lutz Götze

Fast niemand weiß, wo Vanuatu liegt. Allenfalls in Kreuzworträtseln wird nach einem Inselstaat im Südpazifik mit sieben Buchstaben gefragt. Franzosen hingegen wissen gemeinhin genauer, wovon die Rede ist, wenn Neu-Kaledonien oder Vanuatu genannt werden: einstmals waren sie französische Kolonien und sind heute noch immer, je unterschiedlich, mit Frankreich verbunden.

Vanuatu, ›das Land, das aus dem Meer emporsteigt‹, so heißt es auf Bislama, der meistgebrauchten Sprache der Einheimischen, ist heute eine unabhängige Parlamentarische Republik und Mitglied im Commonwealth of Nations. Auf halbem Wege zwischen Australien und den Fidji-Inseln gelegen, bezeichnen sich die meisten Einwohner von Port Vila, der Hauptstadt, und der umliegenden Inseln als die glücklichsten Menschen auf Erden – und dies trotz häufiger Erdbeben, Vulkanausbrüche und Taifune. Der vorletzte mit dem Namen Pam verwüstete die Inselwelt im Jahre 2015. Warum dennoch dieses Glücksgefühl?

Es gibt zahlreiche Gründe. Zum einen natürlich die, zumal auf den nördlichen Inseln, üppige und verführerische Natur mit prachtvollen Regenwäldern, paradiesischen Stränden und einer türkisfarbenen See, die Schwimmern und Tauchern unendliche Glücksgefühle beschert. Zudem betören die Fülle an Fischen und Meeresgetier, noch immer leuchtende Korallen und zum Entdecken ladende Eilande. Zum zweiten ist der Inselwelt bislang ein zerstörerischer Massentourismus, wie ihn Fidji in erschreckender Weise bietet, erspart geblieben. Hotelketten und Riesenkreuzfahrtschiffe haben 2018 noch Seltenheitswert. Zum dritten bieten die üppigen tropischen Regengüsse beste Grundlagen für eine florierende Landwirtschaft. Vor allem im Norden, auf Espiritu Santo, gedeihen Kokosnüsse, Maniok, Papayas, Mangos, Kohl und andere Gemüse auf das Beste, blüht die Fischerei mit dem herrlichen Poulet-Fish, finden Kühe ideale Weidebedingungen. Kopra, Milch und pharmazeutische Produkte sind denn auch die Hauptexportartikel.

Entscheidend aber dürften historische und aktuelle politische Faktoren sein. Zunächst zur Geschichte: Entdeckt im Jahre 1774 von James Cook, der der Inselgruppe den Namen New Hebrides gab, war Vanuatu während des Zweiten Weltkrieges eine der größten Basen der Luftwaffe der Vereinigten Staaten von Amerika und wurde, wie bereits in den Jahrhunderten des Sklavenhandels, nach 1945 von den einstigen Kolonialmächten England und Frankreich ausgebeutet. Dies führte bereits in den 60-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu Aufständen. Der legendäre Landwirt Jimmy Stevens forderte 1971 die Unabhängigkeit der Inselgruppe. Nach blutigen Auseinandersetzungen, die auch mythische Züge trugen, erlangten die Inseln im Jahre 1980 ihre Unabhängigkeit und wurden fortan Vanuatu genannt. Jedes Jahr wird am 30. Juli die Unabhängigkeit gebührend gefeiert.

Der Gedanke des Stolzes, der Selbstbestimmtheit und der Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger prägt die Insulaner auch heute entscheidend. Namentlich die Frauen, zur Kolonialzeit in die Rolle der gottesfürchtigen Mutter und Hausfrau verwiesen, emanzipieren sich Zug um Zug. Frauen in herausragenden Positionen von Staat und Gesellschaft sind keineswegs selten, Scheidungen erlaubt. Es gibt bei der Regierung eine Petitionsstelle gegen Frauendiskriminierung. Sie werde, so ist zu hören, häufig in Anspruch genommen. Ein starkes Gemeinschaftsgefühl ist allenthalben zu spüren. Frauen wie Männer engagieren sich für das Wohl der Gesellschaft und gegen überbordenden Egoismus. Gegenseitige Hilfe im Alltag prägt das Leben. Die größeren Städte wie die Hauptstadt Port Vila auf Efate oder Luganville auf Espiritu Santo, allgemein nur Santo genannt, wirken gepflegt und weisen keine Slums an ihren Rändern auf: anders als Nadi auf Fidji oder Papeete auf Tahiti. Die Dörfer sind ein Spiegelbild dessen. Freundlich lächelnde und selbstbewusste Menschen begegnen dem Fremden allerorten.

Steuerparadies Vanuatu

Damit zur aktuellen politischen Situation: Der zwar langsam, aber beständig wachsende materielle Wohlstand eines großen Teiles der Gesellschaft hat freilich noch einen weiteren Grund: Vanuatu ist ein Steuerschlupfloch und bietet weit über einhundert ausländischen Gesellschaften und privaten Investoren ideale Bedingungen, um ihr Geld am Fiskus vorbei reinzuwaschen. Es gibt in Port Vila weder eine Einkommenssteuer noch Devisenkontrollen: ein Paradies für kriminelle oder zumindest anrüchige Geschäfte. Dem Land beschert dieser Schwarzmarkt zahlreiche Arbeitsplätze zu Lasten der Staaten des Nordens. Wie lange diese Steuerflucht noch fortbesteht, steht in den Sternen. In der Hauptstadt freilich wird offen drüber geredet: einhundertprozentige Zustimmung und keinerlei Kritik am System. Dass der Wohlstand auf Betrug beruht, ist für die Gesprächspartner kein Problem. Dass er auf den Inseln und unter den Menschen ungerecht verteilt ist? Achselzucken. Wozu solche Fragen?

Port Vila

Ein Spaziergang am Hafen von Port Vila bezeugt den wirtschaftlichen Aufschwung. Containerschiffe von beträchtlichem Bruttoregistervolumen liegen am Kai und werden entladen. Alle internationalen Speditionen sind präsent; Versicherungsagenturen und lokale Repräsentanten der großen Weltbanken residieren Tür an Tür. An den Eingängen der Neubauten im Zentrum gibt es die einschlägigen Adressen der Briefkastenfirmen: Investments Overseas Corp., South Pacific Finance System und dergleichen. Die Welt der Steuerbetrüger und Finanzhaie funktioniert allem Anschein nach bestens.

Weiter draußen aber fallen andere Tafeln ins Auge: Auf Englisch, Französisch und Bislama werden Frauenprojekte, Aktionen für Gesundheitsvorsorge, Alphabetisierungskampagnen und lokale Aktionen gegen die globale Erwärmung beschrieben und, vor allem, junge Frauen aufgefordert mitzuwirken. Ein freundlicher Inselbewohner erläutert die Vorzüge des neuen Erziehungs- und Schulsystems: eine wachsende Zahl kostenfreier Kindergärten und Primary Schools einerseits und der Ausbau der gebührenpflichtigen Secondary Schools sowie der Universität von Vanuatu. Begehrte Fächer seien Ökonomie, Finanzwesen und Neue Medien, wie überall auf der Welt. Vanuatu versucht Anschluss an die globale Entwicklung zu finden: möglicherweise um den Preis des Verlustes seiner kulturellen Traditionen und der Unverwechselbarkeit der Inseln, die einst aus dem Meer emporstiegen.

Sydney, eine Woche später: In der Zeitung lese ich, dass auf einer der kleinen Inseln des Vanuatu-Archipels ein seit langem tätiger Vulkan erneut und mit aller zerstörerischen Kraft ausgebrochen sei und Unmengen glühender Lava samt Ascheregen ausgestoßen habe. Die gesamte Bevölkerung, 15000 Menschen, habe evakuiert werden müssen, auf Dauer. Auf Nachbarinseln werde die Regierung den Opfern gratis Land zur Neuansiedelung anbieten. Die Insel dürfe nicht mehr betreten werden.

Die Folgen des Klimawandels sind hier, im Südpazifik, unmittelbar erfahrbar. Menschen verlieren Hab und Gut, ohne eigenes Verschulden. Denn die Hauptverursacher sitzen anderswo: in Nordamerika, China, Europa, in Russland und den Golf-Staaten. Wer also in Deutschland noch weiterhin Diesel-Autos oder andere Klimakiller schützt, sollte dafür bezahlen. Doch die Bewohner der reichen Länder schauen weg und leugnen ihre Verantwortung.

Vanuatu: ein Paradies am Abgrund.