von Lutz Götze

Wir übernachten im Claridge, Tucumán 535. Das Hotel, im Herzen der Stadt zwischen der Florida und San Martin gelegen, verrät die Pracht früherer Jahre, in denen wir häufig davorstanden und den Glanz des alten England bewunderten, der die Fassade prägte. Leisten konnten wir uns damals eine Übernachtung freilich nicht. Jetzt können wir es, auch dank des schwachen Peso. Dafür ist, beginnend in der Lobby und endend im bescheiden ausgestatteten Zimmer, der Zauber entschwunden. Brüchigkeit und Verfall allenthalben statt einst prachtvoller Lüster, strahlender Weingläser und lärmschluckender Teppiche!

 Das Claridge steht beispielhaft für einen Teil der Metropole Argentiniens. Misswirtschaft, Korruption und daraus resultierende Resignation prägen Stadt und Menschen. Sie sind hart und grau geworden im zermürbenden Alltagskampf um bezahlbare Mieten, gegen steigende Preise und drohende Arbeitslosigkeit. Das Hotel warnt vor Überfällen mit stinkenden Exkrementen, vor Geldraub und Entführungen, nennt jene Viertel bei Namen, die man keineswegs nur nach Einbruch der Dunkelheit tunlichst meiden sollte, und empfiehlt sichere Restaurants und Museen. Eines davon ist das Muséo de Arte Latinoamericano de Buenos Aires (MALBA), das bedrückende Fotos der Vertreibung der Yanomami am oberen Amazonas zeigt, daneben die Klassiker der lateinamerikanischen Malerei wie Diego Rivera und Fernando Botero und schließlich moderne Grafiken , Installationen und Plastiken. Der Besucher ist beeindruckt, erfährt er doch das andere Buenos Aires: prallvolles Leben, Kreativität und Zukunftshoffnung. In Palermo, dem einstigen Viertel der Dichter Jorge Luis Borges, Julio Cortázar und so vieler anderer, wird es evident: Tango und Milonga, wohin man sieht und hört an diesem Sonntagnachmittag, sich begrüßende und umarmende Portenos, dem guten Mendoziner Wein zusprechend, singend und palabernd. La palabra, das Spanische also in seiner besonderen gesprochenen Variante der Stadt am Rio de la Plata, wird gefeiert und feiert sich selbst. Wir tauchen ein in diese Atmosphäre und sind glücklich, wieder am Ort zu sein.

Doch das Land ist im Umbruch. Argentinien hat Jahrzehnte peronistischer Herrschaft hinter sich, zuletzt die Familie Kirchner aus Patagonien. Ihre Vorfahren sind irgendwann aus der Deutschschweiz eingewandert. Die schillernde Christina hatte, nach dem frühen Tod ihres Gatten Nestór, das Ruder übernommen und war, auch durch eigene Fehler und Korruption, in schwere See geraten. Ihr Nachfolger verlor kürzlich die Wahl. Seither regiert der neoliberale Macri, zuvor Bürgermeister von Buenos Aires, der dem Peronismus den Kampf angesagt hat. In seiner noch kurzen Amtszeit hat er bereits Fakten geschaffen: Eine Reihe von Sozialgesetzen wurden aufgehoben, der Kulturetat geschröpft, die Steuer für Wohlhabende gestrichen und dergestalt die Spaltung zwischen Arm und Reich verschärft.

Man sieht es auf den Straßen: Bettler, Schwarzgeldhändler und Kaugummiverkäufer allerorten, der Müll stapelt sich zu stinkenden Bergen, nachts liegen Obdachlose in den Hauseingängen. Die Gesichter sind hart und verschlossen, das Lächeln vergangener Jahre fehlt.

In den feinen Stadtteilen Recoleta und Puerto Madero hingegen prunken Villen und Luxuseinkaufspassagen, werden Kinder in schusssicheren Jeeps zur Schule gefahren und führen Studenten die kläffenden Hunde der Oberschicht spazieren. Die Stadt bricht auseinander.

Die Kultur blüht dennoch: Theater an der Corrientes, in Palermo oder Belgrano spielen täglich, das altehrwürdige Teatro Colón im Herzen der Stadt – einst Fluchtort und Heimstatt europäischer Musiker von Rang wie Arturo Toscanini, Erich Kleiber und Adolf Busch – bietet, nach Jahren der Renovierung, mit Beginn der Saison im April wieder Opernvorstellungen und Konzertabende mit allen namhaften Interpreten aus Europa und Nordamerika. Die Stadt brilliert zudem mit einer Vielzahl von Buchhandlungen: Orte der Ruhe und geistigen Besinnung. Hartmut Becher, früherer Direktor des hiesigen Goethe-Instituts, vermittelt erfolgreich deutsche Dramatiker nach Argentinien. Das alles lässt hoffen.

Hat der Peronismus abgewirtschaftet?

Die Meinungen befragter Einheimischer dazu prallen hart aufeinander. Das beginnt bei der Definition dessen, was diese einstige Massenbewegung eigentlich sei: Für die Einen die kontinuierliche nationale und soziale Revolution des Generals und Volkshelden Juan Domingo Perón, für die anderen nichts anderes als eine grenzenlose Vetternwirtschaft des Demagogen, Nationalisten und Hitlerverehrers, der immens viel Geld einsammelte, als er, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, mithilfe des Vatikans Nazigrößen wie Adolf Eichmann Unterschlupf im Lande gewährte. Seine Sozialromantik, inkarniert in Eva, seiner ersten und früh verstorbenen Frau - unsterblich geworden als Evita – hätte schlimme Folgen gezeitigt: unökonomische Subventionen, unbezahlbare Sozialleistungen für die Armen, Zerrüttung der Wirtschaft und Kapitalflucht.

Der Peronismus hat von beidem etwas. Diese eigenartige, dem Europäer eher fremde, Massenbewegung umfasst so ziemlich alles, was politisch vorstellbar und, zumindest teilweise, widersprüchlich und trotzdem machbar ist: Betonung der Nation, Abwehr alter Kolonialmächte wie Großbritannien – daher die Hitlerverehrung des Generals –, tiefer Glaube an die Kraft des argentinischen Volkes und damit Ablehnung unterschiedlicher Parteien, großes Pathos und Vergötterung der Gaucho-Welt statt rationaler Vernunft (was gut ankam im Lande des Tangos), Vernichtung der indianischen Ureinwohner in Kriegen, engagierte Sozialpolitik und gleichzeitig Förderung der Wirtschaft (was schwer zu vereinbaren ist).

Als der Rausch nach dem Tode des Generals 1974 vorbei war und Isabella, die zweite Ehefrau, für zwei Jahre das Ruder übernahm, geriet sie schnell in die Abhängigkeit führender Wirtschaftskreise sowie des Militärs. Alsbald verfiel der peronistische Grundgedanke der Solidarität aller Bürgerinnen und Bürger Argentiniens. Was folgte, waren anwachsende Korruption und Steuerflucht, Schlendrian in der öffentlichen Verwaltung und allgemeiner moralischer Niedergang. 1976 putschten die Generäle unter Jorge Rafael Videla, verwandelten das Land in ein Konzentrationslager, massakrierten die politische Linke, bis sie 1983, nach der Niederlage im Krieg um die Malvinas (Falklandinseln), abtreten mussten. Sie hinterließen ein gespaltenes Land, in dem der Hass regierte. Die Mütter der Plaza de Mayo demonstrieren noch heute für Gerechtigkeit und Aufklärung der Verbrechen der Junta. Geschehen ist, trotz Nestor Kirchners Bemühungen, wenig.

Der Versuch, den sozialen Charakter des Peronismus neu zu beleben, misslang unter Präsident Alfonsín: Unter den Nachfolgern dominierte erneut die Korruption, auf die Spitze getrieben unter dem neoliberalen Carlos Menem. Die Kirchners bemühten sich von neuem, doch wenig erfolgreich. Es scheint heute, als sei der Peronismus – ohne den Heros Juan Domingo Perón - am Ende, weil die Massenbewegung an die Person des Generals gebunden, möglicherweise, gefesselt, war.

Wie geht es weiter?

Die Gewerkschaften haben bereits die ersten Proteste gegen die jüngsten Sozialkürzungen angekündigt; hinter vorgehaltener Hand ist von Generalstreik die Rede. Wann das geschehen wird, weiß niemand. Alle hüten sich, Prognosen zu verkünden. Und immer ist, in bitterer Erinnerung an die Videla-Junta, die Angst vor dem Eingreifen des Militärs im Spiel. Manche besorgte Bürger weisen vor allem, wenn es um die Frage eines neuerlichen Putsches geht, Richtung Norden: Solange Barack Obama im Weißen Haus regiere, fehle die Unterstützung des Militärs durch die Gringos, die damals gegeben war. Wenn aber Donald Trump demnächst das Rennen machen sollte, dann…

Ungewissheit und wachsende materielle Sorgen prägen die Riesenstadt am Rio de la Plata.