von Ulrich Schödlbauer

Die Darstellung der Handlung ist der Mythos (denn ich nenne Mythos die Zusammensetzung der Begebenheiten). Charakter ist das, wodurch wir den Handelnden eine gewisse Beschaffenheit beilegen. Denkungsart ist das, wodurch sie etwas mit Worten dartun oder eine Gesinnung äußern.
Aristoteles, Poetik

1.

Die ›Causa Özil‹ ist längst vergessen. An ihre Stelle trat ›Marrakesch‹, sprich: der Auftritt der Kanzlerin vor der Kulisse von Machtdelegierten aus Ländern, gegen die gehalten die Türkei Erdogans als demokratisches Musterland durchgehen kann. Als fremdenfeindlich gelten die Einwände gegen den ›Pakt‹, wie er vereinfachend heißt, ohnehin. Der Migrationspakt, der seine segensreiche Wirkung offenbar vor allem in Ländern entfalten soll, die bereits in der Vergangenheit den festen Willen bekundet haben, sich nicht an die in ihm niedergelegten Grundsätze zu halten, sofern sie nicht, als Menschenexporteure, dafür bezahlt werden, wird sich in den reichen Ländern mit niedriger Geburtenrate vor allem auf dem Feld der Stimmungsmache und Stimmungsmacher bewähren müssen: Die einen nennen’s Zensur, die andern haben damit kein Problem. Gewiss dürfte, wer damit ›kein Problem‹ hat, in Zukunft noch ein bisschen besser dastehen als ohnehin. Doch ebenso gewiss wird dieses Quentchen mehr die Gesellschaft nicht in einen ideologischen Hochsicherheitstrakt verwandeln. Schon jetzt haben die, die damit kein Problem haben, ein Problem. Statt es zu lösen, legen sie drauf. Das ist archaischer Brauch.

2.

Rascher als gedacht hat sich die Gesellschaft an Religionsvertreter gewöhnt, die sich schützend vor die politischen Verirrungen von Fußballern stellen und selbst von Sportverbänden öffentlich personelle Konsequenzen verlangen, wenn für sie nicht alles am Schnürchen läuft. Ach ja, da war diese Geschichte. In dem Stadium stellt sich die Frage nach dem politischen Charakter einer solchen Religionsausübung nicht mehr. Sie darf als beantwortet gelten. Zu diesem Schluss bedarf es keiner gesonderten Nachforschung, wie hoch der Anteil der Gläubigen jener Religion liege, für den die ›Sprecher‹ zu sprechen befugt seien. Die kollektivistische Anmaßung wäre auch bei unerreichbaren hundert Prozent mit Händen zu greifen. Leider begreifen die Unterstützten selten, dass es Formen der Unterstützung gibt, die ihren scheinbaren Nutznießern an den Kragen gehen. Und das nicht erst auf lange oder mittlere Sicht. »Das ist einer von denen« darf noch als die mildeste Art der Verrechnung gelten, auch wenn im Einzelfall ebenso viel gegen wie für den Augenschein zeugt.

3.

Der Einzelne und das Kollektiv: eine alte Beziehung, selten glücklich, selten zufriedenstellend – wenn, dann selten auf lange Zeit. Selten steht auf der Seite der Dränger das Individuum. Solche Hochzeiten des Individualismus gab es in der Geschichte, doch in der Regel ist das Kollektiv auf dem Vormarsch. Wenn nicht eines, dann viele, wenn nicht das Kollektiv, dann ein, zwei, drei von vielen, die ihre Zeit für gekommen halten oder den besseren Zeiten vorarbeiten wollen. Bis dahin traktieren sie die Gesellschaft mit Botschaften. Dabei sind es nicht die Kollektive selbst, die sich rühren. Was sich rührt, sind Einzelne, in denen das Kollektiv mächtig wird, teils durch Delegation, teils durch ›Erwähltheit‹. Doch auch Vormünder müssen organisiert sein, um wirken zu können und im voraus das Machtgefühl genießen zu können, das ihre künftige Bedeutung vor ihnen ausbreitet. So kommt es, dass selbst die Aufrichtigsten unter ihnen am Gängelband von Interessen laufen, die älter sind als ihr Anspruch auf Gehör und organisierter als jeder Sportverein.

4.

Mit jedem unwidersprochen bleibenden Votum wächst die Macht der vormundschaftlichen Verbände. Sie wächst ohne Unterlass, bis sie die Differenzen, die den freien Bürger in einem freien Land erst erschaffen, unter einer Decke aus Fürsprecherei, Gedankenschlaffheit, Hörigkeit und, sprechen wir’s aus, Ängstlichkeit unter sich begraben hat. Wer hofft, es handle sich um einen Nebenaffekt gesellschaftlicher Prozesse, die im Großen und Ganzen positiv verlaufen, der täuscht sich. Kein positiver Effekt wiegt den Verlust an Selbstbestimmtheit auf, von der Demokratie lebt. Solche Verluste sind wägbar. Doch nützt die ganze Wiegerei wenig, sofern die zum Einsatz kommenden Waagen nicht geeicht sind oder der Eichvorgang zu lange zurückliegt und nicht wiederholt werden kann, weil in der Zwischenzeit der dafür notwendige Konsens zerbrach. Jeder Verlust an individueller Freiheit kann daher bestritten werden und wird bestritten werden von Menschen, denen in diesem Prozess nichts abgeht, sei es, dass sie nur einen rohen Begriff davon besitzen und dem verbissenen Kampf gegen den kalten Egoismus des entfesselten Subjekts für das A und O der gesellschaftlichen Moral halten, sei es, dass er ihnen in dem engen Zirkel, in dem sie sich bewegen, nicht fühlbar wird. Am Ende ist die Freiheit der physischen Bewegung das Maß der Freiheit in einer Gesellschaft schlechthin. Wem in der DDR nichts abging außer der Freiheit, die Grenze Richtung Westen passieren zu dürfen, der findet auch nichts dabei, seinem Nachbarn solange das Wort im Munde herumzudrehen, bis er ihn als Staatsfeind entlarvt und an den Pranger gestellt hat.

5.

Müßige Frage, ob der Islam eine Religion ›im Sinne des Christentums‹ sei. Immerhin ist er, falls die Interpreten nicht irren, nicht bloß nach, sondern aus ihm hervorgetreten. Konkurrierende Religionen, durch eine lange Konfrontationsgeschichte geeint, fallen in ein und dieselbe Kategorie, insofern sie polare Positionen besetzen. Das Gemeinsame ist gerade das, worin sie sich unterscheiden. Das familiäre Gegeneinander zeichnet für die Ähnlichkeiten verantwortlich, die der oberflächliche Blick als erstes an ihnen konstatiert. Je verbissener die Kämpfer, desto subtiler die Differenzen und desto dominanter das Bild der Verschränkung im Kampf. Schlaumeier des interkonfessionellen Gesprächs begeben sich gern auf die Suche nach den gemeinsamen Wurzeln, vor allem dann, wenn die Anciennität der eigenen Richtung gesichert ist. Der Neuerer, auch innerhalb der eigenen Religion, ist stets der Eiferer. Die Differenz ist ihm wichtig, wer sie abzuschwächen oder zu leugnen versucht, begeht eine Sünde wider die eigene Existenz. Sind erst tausend Jahre und mehr verstrichen und stehen, aus politischen Gründen, neue Mobilisierungen an, dann heißt es rasch, den Gedanken an irgendeine Differenz nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Die Differenz um ihrer selbst willen, Abgrenzung und Überwältigung des Differenten werden zum zentralen Anliegen. Oberste Pflicht ist der Kampf. Leute, die diesen Weg gehen, zeigen sich gern kommod im Auftreten, aber stur in der Sache. Man kann auch sagen, sie stoßen auf die Verständigung an und leeren das Glas bei der erstbesten Gelegenheit hinter sich.

6.

Meisterdenker, die auf dem gemeinsamen Kern aller Religionen bestehen, verraten selten, wer sie die Kniffe gelehrt hat, mit deren Hilfe sie Kern und Schale so sicher zu unterscheiden wissen. Gewiss nicht das andere Lager, denn sonst wären sie bereits Renegaten. Mit Renegaten verhandelt man nicht, ihr Plädoyer für die verratene Sache ist nichts wert. Wäre es anders, sie wären nicht abgefallen vom ›Glauben der Väter‹. Zur Sache des Glaubens gehört die gehärtete Überzeugung, ein ›Glaube an sich‹ sei ein hölzernes Eisen, es sei denn, es wäre der Glaube an sich, das eigene Ego, und diente der Botschaft, das seiner selbst (und seiner argumentativen Mittel) sichere Individuum stehe über allen Differenzen, es habe sie in sich aufgenommen und trage sie aus, leider nur bis zur nächsten Konfrontation mit seinesgleichen. Daher sind Meisterdenker selten gefragt, wenn es darum geht, Differenzen unter Überzeugungskohorten auszutragen. Sie sind zu schnell, zu früh, zu allgemein, zu speziell, zu eigen, zu unnahbar gerade in Fällen, in denen sie sich gemein zu machen wünschen. Vor allem stört, dass sie wie Richter in komplizierten Erbschaftsangelegenheiten wirken. Solange sie anwesend sind, hält der mühsam ausgehandelte Friede, sind sie weg, gehen die Reklamationen weiter. Das teure, der anderen Seite zugesprochene Erbstück fehlt in der Sammlung, auch wenn man es sich in der Situation hat abschwatzen lassen, die Lücke bleibt immer, sie bleibt fühlbar. Es muss weiter gekämpft werden, wenn der große Habermas die Bühne verlässt.

7.

Wie immer man ihn zu präzisieren versucht: ›Islamophobie‹ ist ein politischer Kampfbegriff. Unter Menschen, die sich für aufgeklärt halten, rangiert das von ihm Bezeichnete auf derselben Ebene wie Christen- und Judenhass, aber nur deshalb, weil ›Phobie‹ und ›Hass‹ von ihnen gleichgesetzt werden. Das berührt merkwürdig und klärt darüber auf, auf welchen Wegen Angst und Schrecken, ›phobos‹ und ›elenos‹, in die neureligiöse Arena Europas Einzug gehalten haben. Eine Einschüchterungsformel wie ›Islamophobie‹ hilft den Schrecken zu verbreiten, der die Angst vor dem Fremden ins Herz senkt. Nicht der Fremde ist das Problem, sondern der Anspruch gewordene fremde Glaube, vor dem der eigene, säkularisiert und auf Wertüberzeugungen heruntergebrochen, wie er sich darstellt, nichts gilt. Das Herz hält still, solange die demographische Dynamik hinter der auf Dauer gestellten Einwanderung nicht lebensweltlich erfahrbar wird. Insofern rührt ›Marrakesch‹ mehr auf als die Frage, wie human die Staaten mit ihren Migranten umzugehen gedenken. Die religiöse Urangst, die hier in vielen geweckt wird, ist gerade diejenige, die durch die Religionen offengehalten und überwunden wird: durch Rückversicherung. Es sind die Glaubensschwachen, die vom Staat verlangen, er möge ihnen die Zumutungen einer fremden Religion vom Halse schaffen. Es sind die emanzipierten Nutznießer des säkularen Staates, die ihre Freiheit für unangreifbar halten, während sie sich von Tag zu Tag ein wenig mehr hüten, sie in demselben Umfang in Anspruch zu nehmen, der ihnen gestern noch als selbstverständlich galt. Wer Vorsicht als Rücksicht ausgibt, kaschiert seine Angst und gibt sich als das religiöse Wesen zu erkennen, das zu sein er wütend oder lächelnd bestreitet.

8.

Wer die Angst vor der Annihilation der eigenen Werte stereotyp als ›Hass‹ interpretiert – den es zweifellos auch gibt –, betreibt Annihilation. Er hat sich auf die andere Seite begeben und gehört jetzt selbst unter die Angsterzeuger, gleichgültig, welchem Glauben er sich verpflichtet fühlt. Christenvertreter, die ihre Stimme warnend gegen Islamophobie als gesellschaftliche Krankheit erheben, mögen theologisch im Recht sein – die fremde Religion zu fürchten ist ein Sakrileg, ein Verstoß gegen die Überzeugung von der Überlegenheit des eigenen Heiligen –, religiös und zivilgesellschaftlich sind sie Narren, die das aufgeklärte Erbe ihrer Religion verschütten – aus lauter Angst, ein weiteres Mal als mittelalterliche Bösewichter am Pranger der Öffentlichkeit zu stehen. Was die Leute wirklich fürchten, ist schnell erzählt: sie fürchten die kompakte Macht eines vom Selbstzweifel unangekränkelten, ihnen zutiefst unheimlichen Glaubens in Bereichen, in denen das Recht aufs Streiten mühsam erstritten wurde.

9.

Aller antireligiöse Kampf ist eitel. Das klingt paradox, weil in der Geschichte Europas der säkulare Staat und das autonome Individuum zusammen mit der Freiheit des Denkens durch stetes Zurückdrängen religiöser Instanzen gewonnen wurden. Wer diese ›Instanzen‹ mit ›Religion‹ oder gar ›Religiosität‹ verwechselt, hat sich selbst das Verständnis dafür verbaut, wie Religion funktioniert. Je selbstherrlicher, je aufgeklärter, je blasser, je gesellschaftskonformer die Instanzen, desto zerstreuter der ›Glaube‹, desto geringer das allgemeine Bedürfnis, ›das Haupt zu beugen‹ und dergleichen mehr. Je bedrohter die Instanzen, desto naiver, desto gesammelter, desto empfangsbereiter der Glaube und desto zäher das Festhalten am Herkommen – zwar nicht in allen Bevölkerungsschichten, aber in der schweigend beredten Mehrheit. Bei den – nach Max Webers Wort – ›religiös Musikalischen‹ kehrt das Verhältnis sich um. Sie werden aktiv, wenn die Amtskirche – oder ihr Äquivalent in einer anderen Religionsgemeinschaft – wenig zu bieten hat, und suchen ihren eigenen Weg, wenn Zeitgeist und Priesterschaft kollidieren. Aufklärung ist ein Elitenprojekt, das, um sich jenseits der Guillotine durchzusetzen, der Mitwirkung religiöser Geister bedarf. Oft haftet ihnen der Ruf besonderer Kühnheit an; zu Recht, denn sie rühren an Spannungsleitungen, von deren Vorhandensein Religionsverächter aller Couleur kaum eine Ahnung besitzen. Der Mensch ist das ›Tier, das Gott hat‹.

10.

Innerhalb einer Glaubensrichtung, die Autorität nur in Gestalt ausgezeichneter religiöser Personen kennt, sind Interessenvertreter Organisatoren, sei es von Staats wegen, sei es, vorrangig in der Diaspora, im Gemeindeauftrag. Da sie keine religiöse Autorität besitzen, funktionieren sie in liberalen Gesellschaften, schlicht gesprochen, wie NGOs: Sie beanspruchen Sprecherrollen, die ihnen Gemeinden und Behörden großzügig konzedieren, auf Grund einer Autorität, die sie nicht besitzen, und bewegen sich, bei effektiver Kontrolle, innerhalb der ihnen vom Geld- bzw. Auftraggeber vorgezeichneten Grenzen. Sie nehmen, heißt das, umso effektiver Einfluss, je stärker sie selbst unter Einfluss stehen. Glaubwürdig sind sie nur in einem Punkt: Sie streben nach Macht. Worin diese Macht bestehen kann, bestimmt sich durch das soziale Netz, dem sie verbunden sind und in dem sie sich nolens volens bewegen. Es ist gesellschaftliche Macht, verbunden mit einem gewissen Drohpotential gegenüber der Politik, das schnell ausgereizt sein kann, sollten die Interessen erst einmal kollidieren. Innergesellschaftlich darf diese Macht fast beliebig wachsen, solange sie nicht durch Sektenbildungen und Reformbewegungen begrenzt wird. Die Mehrheitsgesellschaft hat ihr wenig entgegenzusetzen. Sie ist als solche nicht organisiert und vertraut auf die staatlichen Mechanismen. Die Bresche ist in der Regel die Justiz. Gesellschaftliche Prozesse werden, entgegen der Mehrheitsüberzeugung, vor Gericht gewonnen.

11.

Der Islam, heißt es gelegentlich, sei keine Religion, sondern eine Lebensform. Wer so redet, setzt einen Religionsbegriff voraus, in dem die christlichen Kirchen sich eingerichtet haben, weil er ihnen Schutz vor politisch-religiöser Verfolgung bietet: Religion ist Privatsache. In Gesellschaften, die keinen öffentlichen Raum kennen, stößt dieser Religionsbegriff auf taube Ohren. Der staatliche Henker, der sein Werk vor ausgewähltem Publikum verrichtet und dabei gefilmt wird, führt eine religiöse Operation durch: eine rituelle Opferhandlung, ausgeführt im Bewusstsein, damit einen Akt der Reinigung zu vollbringen. Wie wenig die christlichen Kirchen tatsächlich gewillt sind, es bei der Privatsache bewenden zu lassen, demonstriert ihr Verhältnis zum öffentlichen Raum. Sie sind so sehr daran gewöhnt, ›Zeichen zu setzen‹, ›Gesicht zu zeigen‹, ›Räume zu besetzen‹, dass ihre Aktivitäten als Teil der öffentlichen Folklore oder des kulturellen Herkommens durchgehen – ein Missverständnis, wenngleich verbreitet. Wie wenig es dem Selbstverständnis der Kirchen entspricht, zeigt sich umgehend, sobald isolierte Bürgergruppen sich die Rettung des Abendlandes auf ihre Fahnen schreiben und für die Rettung des Christstollens oder des Nikolaus demonstrieren. Nichts empört Kirchenobere mehr als eine kirchenferne, aber kulturfromme Öffentlichkeit, die den versteckten politischen Anspruch der Religion ins Licht der Medien zerrt.

12.

Der ›moderne‹ westliche, ursprünglich europäische Staat ist aus Religionswirren hervorgegangen. Man könnte also meinen, er sei das geeignete Instrument, den religiösen Totalitarismus aufzufangen und zu bändigen. Doch letzterer ist eine Reaktion auf den modernen Staat und führt, wie der faschistische, den Kampf um Anerkennung mit allen darin verfügbaren Mitteln. Währenddessen treibt er den Kampf um Aberkennung (der Menschen- und Bürgerrechte für Ungläubige und ihre Helfer) in den Köpfen seiner Anhänger voran. Dieses Zwiegespinst aus An- und Aberkennung verwirrt die nervös gewordenen Verteidiger des säkularen Staates. Sie halten für Spiegelfechterei und Betrug, was doch nur der Logik der Verkennung entspricht. Fundamentalistische Frömmigkeit will verkennen, dass der säkulare Staat geschaffen wurde, um Konflikten zu steuern, die unausweichlich mit der Pluralität der Konfessionen (und Religionen) verbunden sind und früher oder später in staatlichem Kontrollverlust, in Ethnisierung und Tribalisierung des Gemeinwesens entlang (auch imaginierter) religiöser Grenzen enden, – so wie die Parteigänger des säkularen Staates verkennen wollen, dass Religion – groß geschrieben – und Staat kein entspanntes Nebeneinander kennen, in dem nicht ein Funken jenes alten religiösen Eifers fortexistierte, der alle menschlichen Dinge von einem Ursprung her zu ordnen wünschte, zu dem er allein Zugang zu haben glaubt.

13.

Damit verfängt sich der moderne Staat in dem gleichen Dilemma wie eine Wissenschaft, deren Ergebnisse von einer wachsenden Zahl von Zeitgenossen nicht länger geglaubt werden. Das Credo, mit dem alle Wissenschaft antritt: Wissen ist nicht Glauben, empfängt einen empfindlichen Dämpfer, sobald endgültig feststeht, dass Wissen für die Mehrheitsgesellschaft nur als Glauben konsumierbar ist, und dass dieser Mehrheitsglaube neben dem sozialen Ansehen der Wissenschaft, das heißt ihrer Vertreter, auch die ›Glaubwürdigkeit‹ ihrer Produkte in toto und in concreto umfasst. Der jedem Wissenschaftler vertraute Prozess, in dessen Verlauf gängige Hypothesen zu Fall gebracht und durch neue ersetzt werden, lässt sich dem großen Publikum nur auf eine Weise vermitteln: als Prozess kollektiven Vergessens, in dem das Neue sich zuverlässig an die Stelle des Veralteten setzt. Wenn selbst gestandene Wissenschaftler es vorziehen, an Hypothesen zu glauben und ohne sachliche Not in Politiker-Manier Zweifel an der Glaubwürdigkeit nicht geteilter ›Positionen‹ zu säen, statt sie dem Gang der Forschung zu überlassen, gleichgültig, welche Wege er nimmt, dann begeben sie sich, zusammen mit ihrem ›Gewerbe‹, in eine Erosionsschleife, die für die Zukunft ein böses Erwachen (oder einen langen Schlaf der Vernunft) verheißt.

14.

Faktisch präsentiert sich heutige Wissenschaft, jedenfalls in bestimmten Fachrichtungen, als kaleidoskopisches Gemälde, komponiert aus vorwissenschaftlich Gewusstem, methodisch akkurat gewonnenen Hypothesen und privat gewachsenen oder tertiär angeeigneten Überzeugungen, deren Kraft aus halb verborgenen gesellschaftlichen und politischen Weichenstellungen erwächst, soweit sie ihre Anregungen nicht unmittelbar aus den Bereichen der Mode und der fachfremden ›Anreize‹ empfangen. Zu einem vergleichbaren Flickenteppich mutiert auch der liberale Staat, dessen Säkularität von Seiten der neuen Gläubigkeit unter Druck gerät. Wird seine Zukunft erst einmal zwischen den verschiedenen Fundamentalismen verhandelt – die nur auf Zeit zu verhandeln, auf längere Sicht in eigener Sache zu siegen wünschen –, dann sind seine gesetzlich geregelten Prozeduren nur mehr intermediär wirksam: Sie entziehen just dem verfassungsorientierten Typus des ›Bürgers‹ den Humus, der ›im öffentlichen Sinn‹, das heißt, zum Zweck des Gemeinwohls denkt und handelt. In den fundamentalistischen Visionen verschmilzt das ›gemeine Wohl‹ mit dem Sieg der eigenen Seite und dem finalen Weltzustand, der aus ihm entspringen soll. Das macht die öffentliche Auseinandersetzung so unerträglich. Wer alles schon weiß und vom Wissen nur das eine, dass man es durchsetzen muss, hier in dieser Talkshow und draußen auf mittlere Sicht, der weiß mit Sicherheit nicht, was ihn und seinesgleichen am Ende der selbstverordneten Durststrecke erwartet.

15.

In der Vergangenheit haben Meere und Kontinente in Verbindung mit unterschiedlichen Klimaten die Einheitskultur – und, in sie eingebettet, die Einheitsreligion – der Menschheit effektiver verhindert als jede kriegerische Tat. Seit davon nicht mehr die Rede sein kann, ist ein anderer Mechanismus ins elitäre Bewusstsein eingerückt, der zuverlässig die von vielen ersehnte Geokultur mit allen gemeinsamen Werten und jokes in den Bereich der utopischen Fabeln verweist. Seit weltweit das Wissen als Produktionsfaktor Nummer Eins gilt, gehört es zu den ›essentials‹ der Planer und Strategen, vorrangig die Herstellung von Differenz zu befördern: wissenschaftlich, technisch, kulturell, selbst sprachlich, sofern sich Branchen finden lassen, die daraus Standortvorteile für sich ableiten. Allein die sprachliche Vielfalt auf dem Planeten ist eine unerschöpfliche Quelle produktiven Denkens. Notwendigkeiten des Übersetzens schärfen und variieren den primären Gedanken und führen ihm bislang unerprobte Kontexte zu, in denen er selbst zum Auslöser neuer Assoziationsketten und Gedankenspiele wird. Wer glaubt, sich an den ökonomischen Früchten bedienen und ansonsten den Geist der Differenz in der Flasche halten zu können, denkt entweder naiv oder er ist bereit, Terror und Einschüchterung, Standortnachteile erster Ordnung, als Basis der kommenden Weltgemeinde in seine Planungen einzusetzen. Attraktivitätsrennen gewinnt man so nicht. Wohl aber eine fanatisierte Anhängerschaft, im Zweifel groß genug, um dafür zu sorgen, dass auf dem Planeten auch weiterhin Angst, Schrecken und Erniedrigung walten, also gerade die Zustände, die den Strategen des Terrors immer neue Kundschaft zutreiben.

16.

Das fundamentalistische Versprechen ist angesichts der Eigentümlichkeiten des menschlichen Denkens nicht haltbar. Die Regeln einer vernetzten Ökonomie und Staatlichkeit tragen diese Einsicht bis in den letzten Winkel des Globus. Auch die sogenannten ›islamischen Staaten‹ sind grundsätzlich säkulare, im Zweifel illiberale Staaten mit einer religiösen Maske vor dem Gesicht. Dass auch den Lenkern des fundamentalistischen Saudi-Staates säkulare Gedanken im Ernstfall nicht fremd sind, wurde oft genug unter Beweis gestellt. Bei allem autoritären Gehabe handelt es sich um schwache Staaten mit schwachen Zivilgesellschaften, in Schach gehalten mit Hilfe einer Vielzahl von Loyalitätsbünden, die vor allem dank wechselseitiger Einschüchterung überleben. Ist so ein Staatsmodell übertragbar? Die Frage hat an Schärfe gewonnen, seit sich in der ›modernen‹, laizistisch geprägten Türkei ein repressives Präsidialsystem mit religionspatriotischen Zügen etabliert hat. Was als Staat nicht attraktiv erscheint, weil ihm entscheidende Effizienzaspekte fehlen (Gewaltmonopol, Rechtssicherheit, Freiheit des Einzelnen bei klar definiertem Gemeinwohl, gleichberechtigte Mitwirkung aller gesellschaftlichen Milieus, das kriminelle abgerechnet, an der politischen Willensbildung), kann als notwendiges Übel auf dem Weg zu einer umfassenden Welt-Neuordnung bestimmten, entweder schlecht integrierten oder überprivilegierten und gerade deshalb zum Putsch entschlossenen Gruppen innerhalb der Gesellschaft attraktiv erscheinen. Auszuschließen ist so etwas nie.

17.

Zu erörtern wäre die Frage, ob das stets nur vage angedeutete, im Brüsseler Alltag fließend gegenwärtige ›Projekt Europa‹ nicht Züge eines schleichenden fundamentalistischen Putsches gegen die verfassungsmäßigen Ordnungen der EU-Mitgliedsstaaten trägt. Aufgeworfen wurde sie nicht erst durch die britischen Brexit-Befürworter sowie durch die hierzulande gern mit öffentlichen Schmähungen überzogenen Wortführer der Visegrád-Staaten. Wirklich lässt sich schwer in Abrede stellen, dass durch die allgegenwärtige Unterscheidung des für unantastbar erklärten ›Projekts‹ und des allseits reformbedürftig genannten Brüsseler Alltags die religiöse Grunddifferenz des Heiligen und des Profanen hindurchschimmert. Das sakrosankte Projekt dominiert die Brüsseler Alltagskultur und immunisiert sie gegen die Zumutungen der differenten Lebenswelten jener mehr als 500 Millionen Menschen, die zu kolonisieren sie gleichermaßen beansprucht wie bestreitet. Alle Kultur ist different oder, nach dem Modewort, divers. Das gilt für die fortgeschrittene Moderne genauso wie für die Anfänge dessen, was als Kultur einen gewissen Überlieferungsstatus beansprucht. Überlieferung selbst, mit ihren inhärenten Verschiebungen, Brüchen und Neuanknüpfungen, oft an bis dato unbekannte oder als fremd gemiedene Inhalte, ist in all ihren Strängen uneinholbar divers. Die Lebenswelten der Menschen sind durchwirkt mit Überlieferungen, die ihnen Eigenstabilität und Eigensinn – diesseits der platten Frage nach ›Identität‹ – verleihen. Schon zu glauben, ›die Ökonomien‹ blieben davon verschont und ließen sich nach Belieben homogenisieren, ist weltfremd. Man darf die Eigenstabilität religiöser Ideen nicht unter-, aber auch nicht überschätzen. Das gilt für das europäische Projekt ebenso wie für die Revolutionsphantasmen vergangener Dekaden. Keine Religion existiert ohne Kultur, keine Kultur ohne eine oder einen passenden Satz von Religionen. Religionen, die sich traditionell über mehrere Kulturbereiche erstrecken, zersplittern in eine Vielzahl regionaler religiöser Dialekte. Wenn erst die gemeinsame Sprache verlorengeht, nützen die verbleibenden Formelkompromisse wenig und es beginnen die Exzesse der Indifferenz, für die der oft beschworene Turmbau zu Babel noch immer das passende Bild liefert. Auch ›Europa‹ verdient es, vom Kopf auf die Füße gestellt zu werden. Bloß kopflos sollte es darüber nicht werden.

 

 

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