von Lutz Götze

Große Koalitionen sind nicht dazu da, um endlich die großen Probleme zu lösen, sondern vier Jahre um sie herumzukommen. (Dieter Hildebrandt)

Es zeichnet sich ab, dass erneut eine Große Koalition von Christdemokraten/Christsozialen und Sozialdemokraten gebildet wird. Es wäre die zweite Koalition dieser Art in Folge und die vierte in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland überhaupt. Was von solchen Bündnissen zu halten ist, hat der große Kabarettist Dieter Hildebrandt deutlich gesagt. Bertolt Brecht hat dafür 1951 die Geschichte zu Rate gezogen: »Das große Carthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.«

Nun soll ein weiterer Anlauf genommen werden. Er wird, wie seine beiden Vorgänger, scheitern. Genauer: Auch diese Große Koalition wird die anstehenden Aufgaben nicht lösen, sondern allenfalls Minimallösungen oder Formelkompromisse zuwege bringen. Was in den letzten acht Jahren nicht gelungen ist, obwohl die Bedingungen mehr als günstig waren – volle Staatskassen, geringe oder keine Neuverschuldung des Bundes, eine überwältigende Mehrheit im Parlament, vergleichsweise Ruhe in der Außenpolitik –, wird auch diesmal nicht erfolgreich sein. All jene Klagen, die jetzt von den einstigen Koalitionären geführt werden – Innenpolitik: Steuerreform, Abschaffung des Solidaritätszuschlages, erhebliche Ausweitung des vernachlässigten sozialen Wohnungsbaus, Gleichstellung von Mann und Frau beim Lohn, freier Wechsel von Teilzeit in Vollzeittätigkeit; Außenpolitik: Verbot oder zumindest entschiedene Einschränkung der Waffenexporte, eindeutiges Bekenntnis zur europäischen Einigung, Aufnahme von Flüchtlingen, Verkürzung der Asylverfahren und Nachholberechtigung für Familienangehörige bei Asylgewährung, Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern – all diese Probleme hätten in den zurückliegenden Jahren gelöst werden können, wenn die Bereitschaft der Koalitionäre dazu vorhanden gewesen wäre. Sie war es nicht, und daher muss die Frage erlaubt sein, warum sie es jetzt und fortan sein sollte. Nichts spricht dafür, es sei denn, man definierte das Erreichen des kleinsten gemeinsamen Nenners als Erfolg. Das aber ist nicht ausreichend bei der Bewältigung der vor Deutschland und der Welt stehenden gewaltigen Aufgaben.

Deshalb sind Neuwahlen der einzige richtige Ausweg aus der gegebenen Situation, allenfalls eine von der Sozialdemokratie geduldete Minderheitsregierung der Christdemokraten und Christsozialen. Dies würde für eine Neubelebung der Demokratie sorgen, daneben für kreatives Nachdenken über Lösungen angesichts sich ständig wandelnder Herausforderungen Platz schaffen und schließlich mehr Menschen motivieren, sich politisch zu engagieren. Sieben Gründe sind es vor allem, die entschieden gegen eine Fortsetzung der Großen Koalition und damit für ein ›Weiter so!‹ sprechen:

1. Große Koalitionen sind, so sahen es zu Recht die Väter und Mütter des Grundgesetzes, für Notsituationen geschaffen, also Kriege, Katastrophen und globale Konflikte. Unser Land hat, glücklicherweise, nichts davon. Als Dauerzustand sind Große Koalitionen zutiefst kontraproduktiv: Sie lähmen das politische Engagement zumal der jungen Generation, weil diese erfährt, die ›da oben machen ohnehin, was sie wollen‹ – egal, wie gewählt wird. Koalitionen dieser Art bereiten im Übrigen den Boden für das Erstarken des rechten Randes der Gesellschaft: Mit ihren Verschwörungstheorien gewinnen die faschistoiden Populisten Zulauf.
Die Demokratie hingegen lebt und wird gestärkt durch die politische Auseinandersetzung zwischen einer starken Regierung und einer starken Opposition, mithin durch das Suchen nach besseren Alternativen vermittels des Disputs und des forensischen Streites um gute Argumente.

2. Natürlich stimmt der etatistische und letztlich auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel zurückgehende Topos, dass der Staat über den Parteien stehe, staatliches Interesse also das Interesse der Parteien dominiere. Doch wer definiert, was staatliches Wohl und Wehe ist? Letztlich die vom Volke gewählten Parteien, denen das Grundgesetz eine außerordentliche Bedeutung beigemessen hat, wenn es in Artikel 21 GG heißt, dass die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirkten. Also haben die politischen Parteien in Deutschland nicht nur ein Recht darauf, durch Programme und Zielsetzungen das Wohl der res publica zu befördern, sondern sie sind geradezu dazu aufgefordert. In einer Großen Koalition aber geschieht das mitnichten. Es gibt kaum etwas, das den Namen Programmatik verdient, vielmehr geht es einzig um Machterhalt, nicht um das Ringen mit einer starken Opposition um die besseren Argumente.

3. Von der Politik(er)verdrossenheit unter der Bevölkerung war bereits die Rede. Sie hat in den Jahren der Kanzlerschaft Angela Merkels bedrohliche Ausmaße angenommen. Wie weiland zu Zeiten Helmut Kohls hat sich Mehltau über das Land gelegt, der das politische Engagement erstickt. Österreich ist ein erschreckendes Beispiel dessen.
Wie in der Alpenrepublik greifen aber auch hierzulande Nationalismus, Egoismus, oberflächliche Vergnügungen und Medienkonsum um sich. Noch einmal der Satiriker Dieter Hildebrandt: »Die Lösung: Karlsruhe. Wir brauchen gar kein Parlament mehr. Die Parteien arbeiten nur noch aus, zu welcher Entscheidung sie sich nicht in der Lage fühlen, und die Bundesrichter entscheiden, was die Regierung machen muss. Dann müssen die Parteien eigentlich nur noch sehen, dass sie die Mehrheit in Karlsruhe haben, und sich dann auflösen. Später wählt das Volk nur noch die Richter. Und wenn die dann entscheiden, dass deutsche Wehrpflichtige dabei sein müssen, wenn´s irgendwo kracht, ist niemand daran schuld gewesen.«
Völlig abwegig? Keineswegs!

4. Die Parteien der Großen Koalition der letzten Jahre sind geistig verbraucht. Entscheidend Neues und Wegweisendes, etwa eine entschiedene Europa-Initiative nach dem Vorbild Emmanuel Macrons, ist von ihnen nicht zu erwarten. Sie brauchen allesamt einen Prozess der gedanklichen Erneuerung, zumal die deutsche Sozialdemokratie, der selbst von ihren Gegnern immer noch eher als den Konservativen zugetraut wird, neue Ideen und Konzepte zu entwickeln. Dazu kommt sie beim dauerhaften Regieren nicht, ist möglicherweise mit dem vorhandenen Personal dazu auch intellektuell überhaupt nicht mehr in der Lage: Vergleicht man die politischen Debatten in der SPD um die Wiederbewaffnung in den 50er Jahren und die Auseinandersetzungen um die sogenannte ›Nachrüstung‹ 1978/79 mit den Äußerungen heutiger führender Sozialdemokraten – etwa Sigmar Gabriel mit seinem ›Gedanken‹, den Brexit Großbritanniens als Modell auch auf Terrorreiche wie Türkei oder Ukraine zu übertragen –, wird der geistige Niedergang der deutschen Sozialdemokratie unmittelbar evident.

5. In einer Großen Koalition verliert stets der Juniorpartner – egal, wer von den Koalitionären die bessere Politik verwirklicht hat. So würde es den Sozialdemokraten bei einer dritten Auflage erneut ergehen: Die Partei würde, falls die Koalition die gesamte Legislaturperiode überstehen sollte, in die Bedeutungslosigkeit absinken – weit entfernt von einer Volkspartei!

6. Es ist ein Unding, sich auch nur vorzustellen, eine Koalition könnte die gesamte Breite der Gesellschaft in sich vereinigen oder auch nur repräsentieren. Die Vorstellungen am rechten Rand, wo die CSU ihre früheren Wähler vermutet und jetzt zurückgewinnen will, und in der linken Mitte der Gesellschaft, wo die SPD ihre Wählerschaft sieht, sind in nahezu allen Fragen vollkommen unvereinbar: Sicherheitspolitik, Flüchtlingsfrage, Bildungspolitik, Bund-Länder-Kompetenzen, Europapolitik und manches mehr. Machbar wären also nur Formelkompromisse auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner; die Sozialdemokratische Partei wäre am Ende der Legislaturperiode nicht mehr erkennbar. Möglicherweise übrigens auch die Konservativen, aber dort fiele es nicht auf angesichts ihrer Dauerregelung: ›Das Programm ist die Kanzlerin!‹

7. Das einzig Gute an der seinerzeitigen Großen Koalition unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger und Vizekanzler Willy Brandt (1966-1969) war die Gründung und das Erstarken der Außerparlamentarischen Opposition (APO), die auf der Straße demokratische Reformen einklagte und letztlich zur Sozial-Liberalen Koalition mit der grandiosen Forderung Brandts führte : »Wir wollen mehr Demokratie wagen!«.

Heute ist das nicht zu erwarten: Die junge Generation gefällt sich mehrheitlich in eitlen Posen, ist zu einem energischen Protest gegen die regierenden Parteien weder bereit noch in der Lage und erschöpft sich in Quisquilien. Eine ›Spaßgesellschaft‹ ist ihr eigentliches Ziel. Von den Nachkommen ist mithin auf absehbare Zeit nicht viel zu erwarten. Brechts Spruch gilt: »Wir wissen, dass wir nur Vorläufige sind./ Und nach uns wird kommen nichts Nennenswertes.«

Ein Neubeginn der deutschen Sozialdemokratie in der Opposition ist deshalb vonnöten: Es geht um Profilierung, Vertrauensgewinn und politische Erziehung. Die Chance muss genutzt werden!

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