Naomi Kleins Schock-Strategie

Klein, Schockstrategie Naomi Klein: Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus, Frankfurt/Main (Fischer) 2007, 763 S.

Betont Walpen in der herrschenden Dialektik von Konsens und Zwang die Seite der Ideologie und des Konsenses, verdeutlicht die neueste Veröffentlichung der kanadischen Autorin und politischen Journalistin Naomi Klein den anderen Pol, die Seite des Zwangs bei der Durchsetzung des vorherrschenden Neoliberalismus. Nicht zu Unrecht, möchte man sagen, denn Lenins Worte, dass der Kapitalismus seinen Gegnern und Opfern auch noch den Strick verkauft, an dem er sie aufhängt, sind zwar auch ein Jahrhundert später noch immer eindrucksvoll. Nichtsdestotrotz ist die geschichtliche Entwicklung bereits einen gehörigen Schritt weiter gegangen.

Als beispielsweise der Wirbelsturm Katrina die US-Stadt New Orleans zerstört und fast zweitausend Tote zurückgelassen hatte, beauftragte die US-Regierung (die durch ihre aggressive Aushöhlung der sozialstaatlichen Staatsapparate und Finanzbudgets wesentlich beigetragen hatte zu den katastrophalen Folgen dieser von Menschen gemachten Naturkatastrophe) die Tochter eines privatwirtschaftlichen Bestattungskonzerns, der wiederum einer der großen Geldgeber des Bush-Wahlkampfes war, mit der Einsammlung der Toten. 12 500 Dollar pro aufgesammelten Toten stellte die Firma der Regierung, sprich: dem Steuerzahler, sprich: der Gesellschaft, in Rechnung. Offensichtlich zu wenig Profit, denn die Klagen über nicht oder falsch registrierte Leichen häuften sich ebenso wie die über die langsame Abwicklung als solche: Noch nach einem Jahr (!) wurden verweste Leichen auf Dachböden gefunden.

Dies ist nur eine einzelne kleine Geschichte aus einem dicken Buch voller schockierender kleiner und großer Geschichten. Doch nicht darauf spielt der Titel des zu Recht sofort zum Bestseller mutierten Buches an. ›Schockstrategie‹ meint bei Klein, dass und wie die Herrschenden gelernt haben, gesellschaftliche und Umwelt-Katastrophen für ihre eigenen strategischen Zwecke auszunutzen. Das Desaster als entzückende Chance, mittels ökonomischer Deregulierung und Privatisierung ehemals staatlich-gesellschaftlicher Aufgaben ökonomische Gewinne zu privatisieren und ökonomische wie gesellschaftliche Verluste zu sozialisieren – das ist die Schockstrategie, deren Verlaufsformen Klein in der Geschichte des letzten halben Jahrhunderts nachvollzieht. Und anders als es die herrschende Journaille gerne kolportiert, bemüht sie sich darum, die kleinen und großen Geschichten ihres Buches gerade nicht reißerisch, nicht reizüberflutend und entsprechend die Köpfe ermattend aufzubereiten. Bei ihr bewirken diese Geschichten zumeist eine Art des befreienden Schocks, der die Leserin und den Leser im besten alten Sinne aufklärt über das Ausmaß der Barbarisierung unserer Zeit und über die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge, die diese Barbarei gebiert.

Naomi Kleins Buch, man muss dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund der deutschen Medienkampagne gegen sie in aller Deutlichkeit sagen, ist ein herausragendes Werk, eines jener seltenen Bücher, die man uneingeschränkt jedem empfehlen kann und muss, der den Kopf nicht verlieren will in einer Zeit, die gerade hierzu einlädt. Sie schreibt die Geschichte des neoliberalen Kapitalismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit journalistischer Verve und mit detektivischem Sinn. Und sie stiftet Zusammenhänge, wo andere nur oberflächliche Ähnlichkeiten zu sehen vermögen. Schnell wird deutlich, was der Wirbelsturm Katrina mit dem Irakkrieg zu tun hat, und was der Finanzcrash in Asien Ende der 1990er Jahre mit der Aufstandsbekämpfung gegen die lateinamerikanische Guerilla der 1960er Jahre. Deutlich wird nicht nur, in welchem Zusammenhang die lateinamerikanische Schuldenkrise zur ökonomischen Schockstrategie steht, die nach 1991/92 in Osteuropa angewendet wurde, sondern auch, was die Folter-Bilder von Abu Ghuraib mit den von der CIA finanzierten universitären Forschungen eines kanadischen Psychiaters in den 1950er Jahren zu tun haben.

So wie das Buch keine Originalität für sich reklamiert – es stützt sich unter anderem auf die Arbeiten einiger der besten linken Wissenschaftler und Publizisten unserer Zeit – und doch zutiefst originell ist, so kann man von der politischen Journalistin auch keine politisch-theoretischen Höhenflüge verlangen und wird doch mit gewichtigen Beiträgen zu einer solchen politischen Theoriearbeit belohnt. Vor allem zu nennen ist hier das reichhaltige Material, das sie über die neue Qualität der Entstaatlichung ausbreitet. Ihre Darstellung, wie die US-Regierung infolge des Schocks des 11. September 2001 den eigenen Staat aushöhlt, wie sie unter dem Banner des »Kampfes gegen den Terror« einen ökonomischen Katastrophen-Kapitalismus-Komplex als neue Leitindustrie durchsetzt, der auf der umfassenden Privatisierung des Krieges und des weltweiten Katastrophenschutzes aufbaut und einen neuen Sicherheitsstaat gebiert, der der neoliberalen Vision eines gleichsam hohlen Staates (und einer von jeder Kollektivität gereinigten Gesellschaft von vereinzelten Einzelnen) entspricht, ist eine Herausforderung für jede Diskussion um das Wesen und die Zukunft zeitgenössischer Demokratien.

So wie David Harvey und andere zeigt auch Klein auf, dass die von ihr untersuchte ökonomische Theorie und Praxis, dass die ökonomisch durchschlagende Politik der Deregulierung und Privatisierung keine Leidenschaft esoterischer Köpfe, sondern der Kopf einer Leidenschaft bestimmter Gesellschaftskreise ist. Die mittels Schockstrategie durchgesetzte Deregulierung und Privatisierung gesellschaftlichen Reichtums ist das Mittel eines Herrschaftsprojektes, eines Klassenkampfes von oben, der präventiv oder antwortend auf die radikaldemokratischen Bedürfnisse und Bewegungen der von bürgerlich-kapitalistischer Herrschaft betroffenen Menschen reagiert, indem er ihnen nicht nur die institutionellen Grundlagen ihrer »Gegenmacht« entzieht, sondern, mehr noch, indem er ihnen gleichsam das Bewusstsein ihrer (wie auch immer kollektiv verankerten) individuellen Identität nimmt. Es ist diese Zerstörung einer individuellen wie sozialen Psychologie, ein Nihilismus mit System, die sich im von Klein ausführlich entfalteten Thema der neueren Foltermethoden auf erschreckende Weise niederschlägt. Und auch hier kann von einem falschen Moralismus bei Klein keine Rede sein, denn trotz der berechtigten moralischen Anklage dieser Gräuel betont sie gerade, dass es entscheidend darauf ankomme, zu fragen, wem und welchen Zielen diese Foltermethoden nützen.

Zu den dümmsten Vorwürfen gegen dieses Buch, die man im deutschen Fernsehen und Feuilleton hören und lesen musste, gehört die Behauptung, Klein vertrete eine Verschwörungstheorie. Nicht nur, dass sie sich von einer solchen explizit distanziert. Mehr noch zeigt sie auf, dass und wie das bewusste und mal verschworen-geheime und mal ganz offen angekündigte Handeln bestimmter Individuen und Pressure-Groups zusammenspielt mit der Logik eines gesellschaftspolitischen Denkens und Handelns, das seine eigene Rationalität besitzt. All das herrschende Böse (ja, man muss es so nennen), das Klein in ihrem Buch so eindrucksvoll schildert, folgt aus dem Denken und Handeln, das seinen historischen Ort in der so genannten Chicagoer Schule des Neoliberalismus, seinen logischen Ort jedoch in der Funktionsweise eines entfesselten Kapitalismus findet, der offen auf individuelles Gewinnstreben und ungezügelte Bereicherungsgier setzt, um die vermeintlichen Kräfte der Marktwirtschaft zu beleben – als ob diese nicht schon viel zu lebendig seien.

Mit dem zunehmenden Übergriff neoliberaler Hegemonie und Logik von der ökonomischen Produktionsweise auf die Gesellschaftsformen als Ganze, hat sich nicht nur die gesellschaftliche und politische Gegenwehr zu formieren begonnen. Auch die wissenschaftliche Publizistik ist wieder in Bewegung geraten und trägt zunehmend mehr zur Orientierung dieser Gegenwehr bei. Ob es dabei reichen wird, die ökonomische Logik des Neoliberalismus nur neu zu regulieren, neu ›einzubetten‹, ist dabei politisch wie wissenschaftlich umstritten – die hier vorgestellten Bücher legen eher ein ›Nein‹ nahe.

 

Verlagsinformationen:

David Harvey: Kleine Geschichte des Neoliberalismus.

Naomi Klein: Schock-Strategie.

Bernhard Walpen: Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft.

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