von Helmut Roewer
Wenn zwei das gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe.
In diesem Beitrag bespreche ich die beiden jüngsten Bücher von Antje Hermenau Das große Egal und von Thilo Sarrazin Wunschdenken. Ich werde der Frage nachgehen, was der Inhalt beider Bücher ist, was die Autoren zum Schreiben getrieben hat, welche Methoden sie verwenden, um ihre Botschaften zu transportieren, auch ein wenig, wer sie eigentlich sind, um schließlich die Frage zu klären, welches der beiden Bücher ich zur Lektüre empfehle. Um mit Letzterem zu beginnen: Beide – es kommt ganz auf den Leser an.
Beide Bücher sind schonungslose Beschreibungen unseres Staates und seiner politischen Klasse sowie von deren grotesken Fehlentscheidungen. Und schon kommt der erste Unterschied: Das wesentlich weniger umfangreiche Buch von Hermenau geht tiefer, nämlich über den Staat und dessen Politiker hinaus. Die Autorin spürt dem im Titel des Buches zum Ausdruck gebrachten Übelstand unserer Gesellschaft nach: Das große Egal – im Sinne der allgemein um sich greifenden Gleichgültigkeit gegenüber allem und jedem. Ich hatte zunächst, als ich den Titel zum ersten Mal zur Kenntnis nahm, den ganz und gar unrichtigen Eindruck, ihr, der Autorin sei alles egal, doch das Gegenteil ist richtig. Sie beschäftigt sich damit, das Grundübel, eben das große Egal, beim Namen zu nennen und darüber nachzusinnen, wie es zu überwinden sei.
Das Wunschdenken von Sarrazin enthält ebenso ein Missverständnis im Titel verborgen, denn der Autor beschreibt nicht aus seiner Sicht ein Wünsch-dir-was, sondern belegt anhand einer Unzahl von Beispielen, dass wir uns ein Narrenhaus voller politischer Entscheidungsträger leisten, die in ihren Köpfen ideologische Wünschel-Ruten installiert haben. Sarrazins Welt sieht bekanntlich anders aus. Es ist die Welt der kalten Vernunft und der Statistiken. Wenn man A zulässt, wird B passieren. Das wird ausführlich präsentiert, einschließlich der philosophischen Grundpositionen und der volkswirtschaftlichen Grundlagen.
Beide Autoren greifen zur Illustration ihrer Texte in die Welt des Selbsterlebten zurück. Das ist zu begrüßen, denn es erleichtert das Verständnis ihrer Aussagen ungemein und zeigt, dass wir es nicht Vollblut-Theoretikern oder mit weltfremden Spinnern zu tun haben. Das ist zunächst einmal beruhigend. Dennoch sind beide sehr unterschiedlich: Hermenau argumentiert aus der Sicht einer sachverständigen Politikerin, die Jahr und Tag bei den Grünen Spitzenpositionen auf Bundes- und sächsischer Landesebene innehatte, bevor sie in den Zehnerjahren den ganzen Bettel hinwarf. Bei Sarrazin hingegen handelt es sich um den klassischen parteipolitisch hochgeschossenen politischen Beamten, auf Bundes- und auf Länderebene, bevor er 2010 aufgrund seiner Einwanderungskritik um Amt und Reputation gebracht wurde. Sarrazin weiß stets, wie man es hätte machen müssen, Hermenau fragt hingegen nach, wie man klar erkannte Fehler, wie die kuriose Energiepolitik, wieder quitt kriegen könnte. Das ist ein gravierender Unterschied. Sarrazins Bemerkungen haben stets den Zeigefinger des besser Informierten zur Hand, Hermenau operiert eher auf der Basis des gesunden Menschenverstandes, den sie benutzt, um eine leicht verständliche Botschaft zu formulieren. Damit ist eine wichtige Bemerkung zu den unterschiedlichen Zielgruppen der Bücher gefallen: Hermenau appelliert ans Volk, Sarrazin wendet sich an den Entscheider und an denjenigen, der komplexe Entscheidungen verstehen möchte.
Beide Autoren sind sich indessen einig, dass Deutschland sich in einer weitgehend selbstverschuldeten, bedrohlichen Schieflage befindet. Wenn man so argumentiert, darf der Leser fragen: Und wie nun weiter? Da erlebt man dann Überraschungen. Sarrazin Rezept: Mit einer Prise Sarrazin müsste es in einer funktionierenden Demokratie gehen. Hermenau argumentiert zweisträngig: (1) Der Einzelne muss zur Besinnung kommen und sich wieder selber kümmern, und (2) die politischen Parteien müssen sich der Realität anpassen.
Tja. Beide Autoren sind sich, so wie ich sie verstehe, auch darin einig, dass es ohne eine funktionierende Demokratie in Deutschland nicht mehr gehe. Das ist insofern nicht ohne Reiz, als die Details, die sie vortragen, durchaus den Verdacht erwecken, dass eine solche Demokratie in unserm Land einer Herrschaftsform gewichen ist, die man gemeinhin als Oligarchie bezeichnet – also einer Herrschaft durch eine Gruppe von Männern und Frauen, die sich von der Bindung an das Volk längst verabschiedet haben. In den Worten von Hermenau: das Volk ist ihnen egal. Man mag nun darüber nachsinnen, wie es praktisch möglich sein soll, mit Mitteln der Demokratie diese Oligarchie zu beseitigen, jene Melange aus Parteifunktionären, Publizisten und Geldleuten. Mein Verdacht: freiwillig einlenken werden diese nicht.
Bei beiden Autoren fällt auch hier ein Unterschied ins Auge: Hermenau nennt die Politikfelder beim Namen, die mit dem Volkswillen nicht mehr einen Hauch gemeinsam haben, bei Sarrazin fallen hingegen kaum zu begreifende Fehlurteile ins Auge, so bei der Klimalüge, die er im Grundsatz für bare Münze nimmt, wenn er auch berechnet hat, dass Deutschland zu den sog. Klimazielen bereits aus Volumengründen nichts beisteuern kann. Aber das ist nichts als eine Ablenkung vom eigentlichen Thema. Gleiches gilt für seine Einschätzung der Trump-Jahre, von denen er ernsthaft annimmt, dass die USA dank Trumps Abwahl, die er nicht diskutiert, an einer Diktatur vorbeigeschrammt seien. Das sind schwer zu begreifende Sentenzen, die das ganze Sarrazin’sche Argumentationsgerüst heftig wackeln lassen.
So kann ich mir folgende Schlussbemerkung kaum verkneifen: Wenn mich vor dem Lesen der hier besprochenen Bücher einer aus Spaß gefragt hätte, wem ich mehr Fehlurteil zugetraut hätte, wäre ich dank meines soliden Vorurteils, das ich gegenüber Politikern unseres Landes hege, bereit gewesen, auf Hermenau zu tippen. Nach der Lektüre beider Bücher weiß ich, es ist umgekehrt, denn ihre Schilderung ist knapp, klar und zutreffend. Ich füge hinzu: dies ist meine persönliche Ansicht. Sie hat sich nach gründlicher Lektüre gebildet, von der ich sehr profitiert habe – bei beiden Büchern, die ich deshalb empfehlen kann.