von Ulrich Schödlbauer
Meinungsführerschaft
Begriffe der Kultur sind am Erleben geformt. Die lange Dauer ist die Zeitform der unmerklichen Prozesse, die sich an signifikanten Lebenspunkten als 'Stich' oder 'Schock' bemerkbar machen. Die Empfindung des Alten, das einen - entgegen dem, was das 'Bewusstsein' sagt - nie verlassen hat, findet darin ebenso Platz wie die Unwiderrufbarkeit des Neuen: So bin ich und so bin ich geworden. Entsprechend lautet die Formel für Kultur: So sind wir und so sind wir geworden. An diesem 'Wir' entzündet sich der Streit - wer sind wir und wer sind die anderen? Das sieht jeder anders. Kultur ist ein Pluriversum. Gruppen oder Cliquen, die einen langen Weg zusammen gegangen sind, bevorzugen daher die Formeln Wir haben das gemacht oder, noch giftiger: Das haben wir gelernt. Kultur ist aber keine Gemeinschaft von Lernern. Sie ist nicht beherrschbar. Daher treten Generationen ab, nicht Lernstände. Der Versuch, durch Rekrutierung Willfähriger 'Meinungsführerschaft' über den eigenen Abgang hinaus zu sichern, ist Barbarei. Dabei ist er immer noch redlicher als das zynisch-kopflose Unterfangen, durch Komplettübergabe einer Sache, die niemandem gehört, an die Haifischwelt die eigenen Pensionen zu sichern.
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