Wider die verbreitete Einäugigkeit in der Flüchtlings- und Migrationspolitik
Wie kein zweites Thema seit der Wiedervereinigung wühlt die ›Flüchtlingskrise‹ die Bevölkerung und Politik in Deutschland auf und mobilisiert Kräfte und Gegenkräfte. (Von der ›Flüchtlingskrise‹ zu sprechen, scheint in zweierlei Hinsicht sinnvoll: Befinden sich doch die Flüchtlinge in einer oft verzweifelten Krisensituation; und zugleich bewirkt die pure Anzahl der nach Deutschland Flüchtenden hier eine sich zuspitzende krisenhafte, d.h. die gewohnte innenpolitische Stabilität gefährdende, gesellschaftliche und politische Gemengelage.) Dies ist ein Indiz dafür, dass mit ihr Grundfragen der Werteorientierung und der Identität der deutschen Bevölkerung aufgeworfen werden. Die Polarisierung der Positionen zum Umgang mit den Flüchtlingen reicht auf Seiten christlich inspirierter Kreise und der politischen Linken von der Forderung nach uneingeschränkter Gewährleistung des Asyl- und Flüchtlingsrechts (GG Art. 16a, Genfer Flüchtlingskonvention), schneller Integration der sogenannten Neubürger, Ablehnung von Grenzsicherungen an der Außengrenze des Schengenraums sowie an den nationalen Grenzen und legalen, gefahrlosen Zugangswegen für Flüchtlinge nach Europa. (In diese Richtung argumentiert auch Thomas Eberhardt-Köster, Mitglied im Koordinierungskreis von Attac, in seinem Beitrag »Flüchtende aufnehmen – Fluchtursachen beseitigen« (Nov. 2015), in: http://theorieblog.attac.de/fluechtende-aufnehmen-fluchtursachen-beseitigen/. Nach seiner Auffassung ist die Zahl der in 2015 nach Deutschland gekommenen Flüchtlinge »eher als gering anzusehen und rechtfertig[t] keineswegs den Begriff einer ›Flüchtlingsflut‹«.)
Dem stehen angesichts des Quantensprungs an Flüchtlingszahlen auf der Rechten – in verschiedenen Schattierungen – die Rufe nach weitgehender Einschränkung des Asylrechts, Grenzschließungen, Einwanderungsstopp und der Vorwurf des Volksverrats an die Adresse der Bundeskanzlerin entgegen. Es sticht ins Auge, dass die konträren Positionen wenig bis gar keine Bereitschaft zeigen, die berechtigten Anliegen der jeweils anderen Haltung wahrzunehmen und zumindest zu respektieren. Daraus resultiert ein mehr und mehr undifferenziertes und zunehmend hasserfülltes Aufeinandertreffen der Streitpositionen auf der Straße (siehe Pegida-Demonstrationen und Gegendemonstrationen).
Flucht und Migration – eine notwendige Unterscheidung
Zur Aufklärung der Lage scheint es notwendig, zwischen Flucht und Migration/Einwanderung zu unterscheiden. Angesichts der perspektivisch ansteigenden Zahlen der Klimaflüchtlinge, denen aufgrund der imperialen Lebens- und Produktionsweise des reichen ›Nordens‹ ihre Arbeits- und Überlebensbedingungen geraubt werden, sollte das Flüchtlingsvölkerrecht auch um diese Fluchtursache erweitert werden. Das Flüchtlingsrecht und das grundgesetzlich geschützte Asylrecht sollen Schutz vor verschiedenartiger Verfolgung und Lebensgefahren durch (Bürger-)Kriege gewährleisten; sie sind aber nicht gedacht als ein Aufnahmerecht für Armuts- oder Erwerbsmigranten. Das Recht auf Asyl ist kein Recht auf Einwanderung.
Menschenrechte und Gemeinschaftsrechte
a) Recht von Flüchtlingen auf freie Wahl ihres Ziellandes?
Diejenigen, die die Unterscheidung von Flüchtlingen und Migranten/Einwanderern einebnen und offene Grenzen sowie die Aufnahme aller Flüchtlinge einfordern, argumentieren mit den universalen Menschenrechten, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN, der Grundrechtecharta der EU sowie dem Grundgesetz verankert sind: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie ... sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.« (Art. 1 AEMR) Manche schlussfolgern daraus für die Würde eines Flüchtlings, dass er als ›autonomes Subjekt (Immanuel Kant) ... selbst über sein Leben entscheiden kann – er darf nie zu einem Objekt fremder Entscheidungen werden‹ (so Wolf-Dieter Just: Zur Asylpolitik Deutschlands und der EU, Nov. 2015, in: http://theorieblog.attac.de/zur-asylpolitik-deutschlands-und-der-eu/ ); mithin müssten die Flüchtlinge (und Migranten) selbst das »Land ihrer Wahl« bestimmen dürfen. Just verweist hier auf den »Wunsch eines Flüchtlings, in einem bestimmten Land Asyl zu beantragen, weil er dort ein Netzwerk von Freunden und Verwandten hat, weil er die Sprache des Landes spricht, berufliche Chancen für sich sieht etc.« (Just, a.a.O., Anm. 4).
Eine derartige Verabsolutierung des Individualrechtes auf Flucht und Schutz hätte für die designierten Aufnahmegesellschaften gravierende Folgen. Man kann davon ausgehen, dass die derzeitige Flüchtlingswelle mit über einer Millionen Flüchtlinge und Migranten nach Deutschland in 2015 der Vorbote einer künftigen Völkerwanderung nach Europa ist, sollte es nicht gelingen, Flucht- und Migrationsbewegungen in Zukunft völkerrechtlich zu regulieren. In Afrika wird von den UN eine Verdopplung der Bevölkerung bis 2050 auf ca. 2,4 Mrd. Menschen prognostiziert. Die International Organization for Migration (IOM) geht bis zum Jahr 2050 von 200 Millionen Klima- und Umweltflüchtlingen aus (Thomas Gebauer: Globalisierung. Migration als Antwort, Sept. 2015, in: https://www.medico.de/migration-als-antwort-16015/ ). Eine unbeschränkte Aufnahme der Flüchtlinge und Migranten, die nach Europa und insbesondere nach Deutschland streben, würde auf längere Frist das ethnische, kulturelle und soziale Gefüge dieser Gesellschaften durcheinander wirbeln und den inneren Frieden nicht nur gefährden, sondern ›zerstören‹. Die individualistische Orientierung allein auf das angebliche Recht auf freie Zielortwahl der Flüchtenden missachtet die Gestaltungsbedürfnisse und -rechte der Aufnahmegesellschaften; sie erweist sich in ihrem überzogenen Liberalismus als ideologisches Erbe der neoliberalen Globalisierung: Der unbegrenzten Liberalisierung des Kapital- und Warenverkehrs entspricht hier die unbegrenzte Liberalisierung der individuellen Mobilität. Globalisierungskritik heißt demgegenüber im einen wie im anderen Falle (Re-)Regulierung grenzüberschreitender Verkehre und Mobilität.
Die Grund- und Menschenrechte sind durch das Grundgesetz (GG) unter einen besonderen Schutz gestellt; sie sind in ihrem Wesensgehalt unantastbar (»ewig«; vgl. Art. 19,2 und Art. 79,3 GG). Dies gilt auch für das Grundrecht auf Asyl: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht« (Art. 16 a,1). Allerdings können Grundrechte durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden (Art. 19,1), wenn sie mit anderen Rechtsgütern in Konflikt treten. Dies ist z.B. der Fall beim Asylrecht und Flüchtlingsschutz (Genfer Flüchtlingskonvention und Europäische Menschenrechtskonvention): Die freie Wahl des Ziellandes durch Asylsuchende und Flüchtlinge ist durch Art. 16 a, 2-5 GG eingeschränkt (Regelung sicherer Drittstaaten und Herkunftsländer). Das Schutzrecht auf Asyl kann also, wenn es – wie derzeit – massenhaft in Anspruch genommen wird, in Konflikt mit Gemeinschaftswerten treten, z.B. dem Recht auf Wahrung der ethnisch-kulturellen Identität einer staatlichen Gemeinschaft. Staatlich verfasste Gemeinschaften haben das souveräne Recht, die Bedingungen ihres Zusammenlebens, die Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten und damit den Anteil von Migranten im Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung zu regulieren. Im Falle eines Zielkonfliktes mit den individuellen Schutzrechten von Flüchtlingen, muss – wie immer bei Wertekonflikten – ein Ausgleich der jeweiligen Werteinteressen gesucht werden, ohne dass jeweils eine Seite des Konfliktes verabsolutiert und das Asyl- und Flüchtlingsrecht in seiner Substanz angetastet werden.
Es wird hier angesichts der multiethnischen und multikulturellen Vielfalt in Deutschland keinesfalls für einen ethnisch und kulturell homogenen Staat plädiert. Es geht nicht um ein exklusives Wir. Entscheidend ist das für die einheimische Gesellschaft zuträgliche Maß an Vielfalt. Widerspruch ist angesagt gegenüber Positionen wie »›Open Border! No Nation! Grenzenlose Freizügigkeit!‹, womit migrantische Bewegungen und linke AktivistInnen das Recht auf globale Bewegungsfreiheit propagieren.« (Claus Schreer: Flucht und Migration – Alternativen zur Flüchtlingsabwehr Deutschlands und der EU, in: isw-report 104: Auf der Flucht. Fluchtursachen – Festung Europa – Alternativen, München Feb. 2016, S. 32) Eine solche Position nimmt in Kauf, dass der Anteil der Einheimischen an der Gesamtbevölkerung dramatisch schrumpft. Naika Foroutan, deutsch-iranische Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik an der Humboldt-Universität zu Berlin, bringt diese Perspektive in ihrer Weise auf den Punkt: »Deutschland ist ein Einwanderungsland. Die deutsche Identität definiert sich in der Einheit der Verschiedenen. Vielfalt ist Normalität und Normalität ist vielfältig. (...) Die Migranten sind da. Sie werden bleiben... Es wird immer mehr Minderheiten geben und die Mehrheitsgesellschaft wird ein immer neuer Beziehungszusammenhang aus multiplen Minderheiten sein.« (Naika Foroutan: Der Markenkern Deutschland wird neu verhandelt, in: Frankfurter Rundschau v. 13./14.12.2014) Es ist illusorisch anzunehmen, dass die Einheimischen, derzeit noch 80 Prozent der Bevölkerung ohne sogenannten Migrationshintergrund, diese Entwicklung mehrheitlich als Bereicherung empfinden. Viel realistischer ist, dass ein Großteil der Einheimischen mit vielerlei Formen der Abstoßung reagieren wird; die jetzigen Gewaltexzesse am rechten Rand unserer Gesellschaft und der zum Teil mehr als klammheimliche Beifall in weiteren Teilen der Bevölkerung sollten als Menetekel wahrgenommen werden.
b) Kosmopolitismus als Gebot der Aufklärung?
In einem Essay zur Flüchtlingspolitik hält Nikita Dhawan die EU-Migrationspolitik angesichts der Schiffsunglücke im Mittelmeer für einen »Verrat an den Prinzipien der Aufklärung« (Nikita Dhawan, Aufklärung vor Europäern retten, in: taz v. 5.5.2015). Sie stützt sich in ihrem Werturteil auf Kants Schrift Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795). Kant habe hier ein Recht aller »Weltbürger ... auf Bewegungsfreiheit« postuliert, das in der »gemeinsamen Eigentümerschaft an der Erde auf Seiten der ganzen Menschheit verankert« sei. Kant schlage hier »einen ›Kosmopolitismus‹ als Leitprinzip« vor und damit ein »Prinzip universeller Gastfreundschaft«. Dieser Kosmopolitismus weise damit »über ein enges territoriales Verständnis von Identität und Zugehörigkeit hinaus«. Mit Jacques Derrida kritisiert sie allerdings Kants nur »bedingte Gastfreundschaft«, da nach Kant »die Gäste sich benehmen« müssten. Sie scheint Derrida darin zu folgen, dass »eine wahrhaft kosmopolitische Ethik absolute Gastfreundschaft beinhalten [würde], die bedingungslos sein müsse«.
Zunächst einmal ist der Alleinvertretungsanspruch auf die Prinzipien der Aufklärung, den Dhawan implizit vertritt, zurückzuweisen. Schon Kant als ein herausragender Protagonist der Aufklärung in Deutschland schränkt den Kosmopolitismus im Sinne einer unbeschränkten Gastfreundschaft ein. In der zitierten Schrift Zum ewigen Frieden schreibt er: »Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein.« Und er erläutert dies: Das Hospitalitätsrecht »ist kein Gastrecht, worauf dieser [der Fremdling; E.S-M] Anspruch machen kann (wozu ein besonderer wohltätiger Vertrag erfordert werden würde, ihn auf eine gewisse Zeit zum Hausgenossen zu machen), sondern ein Besuchsrecht, welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde«, und ausdrücklich: »Dieser [d.s. ›die alten Einwohner‹] kann ihn abweisen, wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann; solange er aber auf seinem Platz sich friedlich verhält, ihm nicht feindlich begegnen.« (Philosophische Bibliothek Bd. 443, hrsg. v. Heiner F. Klemme, Meiner, S. 69)
Es ist also keineswegs so, dass Kant das von ihm proklamierte Weltbürgerrecht über das von ihm auch konstatierte »Staatsbürgerrecht der Menschen in einem Volke« stellt oder es auch nur mit ihm auf eine gleiche Stufe stellt. (Vgl. dazu Kant, a.a.O., S. 59, Anm.) Dem entspricht, dass der Nationalstaatsgedanke (Staatsvolk als Gemeinschaft der Staatsbürger/Citoyens) im Zuge der Französischen Revolution entstanden und mithin auch ein Kind der Aufklärung ist.
Zentraler Punkt der Auseinandersetzung mit dem ›uneingeschränkten Kosmopolitismus‹ nach Derrida und Dhawan ist die Bestimmung dessen, was der Mensch im Spannungsfeld von globaler Gemeinschaft (Menschheit), territorial begrenzten Gemeinschaften und Individualität/individuell beschränkten Eigeninteressen ist, sein kann und sein soll. Dhawan formuliert unter Bezug auf das Gedankengut liberaler Demokratien: »Basierend auf der normativen Befürwortung eines expansiven globalen Bewusstseins, lehnt ein Kosmopolitismus enge und beschränkte territoriale Loyalitäten ab.« Sie überspringt damit, dass die Herausbildung von Individualität in der Geschichte immer an eine in stetem Wandel begriffene Eingrenzung und Einhegung auch territorial begrenzter Gemeinschaften gebunden ist: Höhlen- bzw. Hausgemeinschaft, Sippe, Stamm, Nation, transnationale Gemeinschaft (z.B. EG-Europäische Gemeinschaft / EU). Je mehr sich kleinräumige Gemeinschaftsbindungen auflösen zugunsten von Großgebilden, nimmt die Verunsicherung der Individuen zu, so dass sie nach kleinräumigen Ersatzgemeinschaften suchen. Ein Indiz dieses Prozesses ist das Erstarken des Regionalismus in der EU im Zuge ihrer räumlichen Ausdehnung, welche verbunden ist mit einer Schwächung der nationalen Souveränitäten zugunsten einer supranationalen Souveränität.
Wer wie Derrida und Dhawan die Metapher der Gastfreundschaft im Zusammenhang mit globaler Migration (unabhängig von ihren vielfältigen Ursachen) bemüht, muss dann auch konsequent im Bilde bleiben. Gastfreundschaft kann solange gepflegt werden und gelingen, solange sich die Gastgeber im eigenen Haus nicht fremd zu fühlen beginnen, sei es kulturell, sei es ethnisch. Auch die Bereitschaft zur Integration des Fremden, wenn die ›Gäste‹ bleiben wollen oder sollen, ist nicht unbegrenzt aufrechtzuerhalten. Wo diese Grenze liegt, ist nicht objektivierend zu ermitteln, sondern immer Gegenstand kultureller und politischer Auseinandersetzungen. Dass es aber solche Grenzen gibt, ist nur um den Preis künftiger kultureller, ethnischer Spannungen und Konflikte zu leugnen. Insofern geht auch angesichts der humanitären Katastrophe auf dem Mittelmeer die Forderung nach gesicherten Fluchtwegen bzw. offenen Grenzen für jedermann/-frau daran vorbei, dass jedwede Migrationspolitik sich in einem Spannungsfeld zwischen humanitärer Flüchtlingshilfe, Bereitschaft zur Integration von ›Fremden« und Bewahrung historisch gewachsener sozialer Identitäten bewegt. Die platte Gegenüberstellung von ›Offenen Grenzen‹ versus ›Festung Europa‹ ist eine Scheinalternative.
Die Betonung territorial begrenzter Gemeinschaften – einschließlich des nach wie vor bedeutsamen Nationalstaates – widerspricht nicht einem Kosmopolitismus oder Universalismus, wie er in der Nachhaltigkeitsdebatte seit langem gefordert wird, im Gegenteil, beide Prinzipien müssen sich gegenseitig ergänzen: Jeder Mensch auf dem Globus, auch die künftig lebenden Menschen, hat einen gleichen Anspruch auf menschenwürdige Lebensbedingungen, wie ihn die heute lebenden Menschen des reichen ›Nordens‹ wie selbstverständlich in Anspruch nehmen. Dieser Grundsatz, quasi das Grundrecht auf ein nachhaltiges Leben, steht in krassem Widerspruch zur imperialen Lebensweise des reichen ›Nordens‹ oder – klarer ausgedrückt – der post- oder besser neo-kolonialen Gesellschaften. Der Land- und Ressourcenraub in vielfältigen Formen in den Ländern des ›Südens‹ zur Aufrechterhaltung oder sogar Steigerung eines materiellen Lebensstils und von Unternehmensgewinnen im ›Norden‹, eng verbunden mit der ökonomischen Globalisierung, ist eine krasse Verletzung des oben angesprochenen Territorialprinzips; der globalisierte ›ökologische Fußabdruck‹ der Menschen im reichen ›Norden‹ beansprucht im wörtlichen Sinne Territorium (Ressourcen und ökologische Senken) fremder Staaten und Völker und ist damit eine Art Neokolonialismus. Jenseits des Territorialprinzips gilt es aber auch, Menschheitseigentum (commons) an intakten Meeren, stabilem Klima, der Arktis und Antarktis u.a. vor dem Zugriff partikularer, staatlicher und wirtschaftlicher, Interessen zu schützen. (Der Anthropozentrismus in dieser Formulierung gegenüber den Rechten von Tieren – und vielleicht auch Pflanzen – wird gesehen, kann aber hier nicht thematisiert werden.)
In der öffentlichen Debatte um Zuwanderungs- und Flüchtlingspolitik steht die Parole ›Deutschland ist ein Einwanderungsland‹ weniger für ein unbestreitbares empirisches Faktum als für eine politische Doktrin für mehr Zuwanderung bzw. zeitlich unbegrenzter Aufnahme von Flüchtlingen. Von Seiten der Unternehmerverbände und fast aller politischen Parteien wird dies u.a. mit dem Bedarf an jungen und jüngeren Arbeitskräften angesichts des demografischen Wandels und eines behaupteten absehbaren Fachkräftemangels begründet. Offen wird ausgesprochen, dass ein mehr an Zuwanderung notwendig sei zur Wahrung unseres Wohlstandes und der sozialen Sicherungssysteme. Dahinter verbirgt sich einerseits das Bestreben nach Aufrechterhaltung unserer imperialen Lebensweise, nun mit Hilfe fremder und zu integrierender Arbeitskräfte. Nach diesem Muster wird seit über 50 Jahren dem Tanz um das goldene Kalb ›Wohlstand‹ Schritt für Schritt die über Jahrhunderte gewachsene – und natürlich immer in Veränderung begriffene – ethnische Zusammensetzung der Gesellschaft/des Volkes zugunsten immer höherer Migrantenanteile untergeordnet.
Fluchtursachen bekämpfen – Globalisierung regulieren – Deglobalisierung
Thomas Gebauer trifft den Nagel auf den Kopf: »Flüchtlinge sind Betroffene einer destruktiven ›Globalisierung von oben‹. Für deren Konsequenzen trägt nicht zuletzt Europa Verantwortung. Migration ist ›Globalisierung von unten‹« (Gebauer, a.a.O., Untertitel des Beitrags). Bevor über eine Regulierung der Flüchtlingsaufnahme gesprochen werden kann, muss über die Verantwortung des reichen Nordens, Deutschlands zumal, verhandelt werden. Die seit dem Fall des Eisernen Vorhangs enthemmte Globalisierung trägt in vielerlei Gestalt zu den globalen Fluchtursachen bei: Die Doktrin des Freihandels, ihrerseits ein Element der Wachstumsdoktrin, trägt mittels entsprechender Abkommen mit afrikanischen Staaten dort zu einer Zerstörung kleinbäuerlicher Selbstversorgungsstrukturen bei. In gleicher Richtung wirken Fischereiabkommen und das Landgrabbing von Großkonzernen. Der Klimawandel, für den zu größten Teil bisher die reichen Industriestaaten des Nordens verantwortlich sind, trifft vor allem die Ärmsten des Globus und zwingt Millionen von ihnen zur Flucht. Seit der Jahrtausendwende soll sich laut der International Organization of Migration die Zahl der Klima- und Umweltflüchtlinge von 25 auf 50 Millionen verdoppelt haben. (Vgl. Gebauer, a.a.O.) Es ist ein Hohn, dass sich ein Land wie Deutschland als ein Vorreiter des Klimaschutzes geriert, obwohl es mit einem durchschnittlichen CO2-Ausstoß von 9-10 Tonnen pro Kopf nach wie vor zur Spitzengruppe der Klimakiller gehört.
Neben den ökonomischen Folgen der Globalisierung wirken Militärinterventionen des Westens wie in Afghanistan und Irak nicht problemlösend (angeblich ›Kampf dem Terror‹), sondern problemverschärfend. Auch Waffenlieferungen an Bürgerkriegsparteien mögen kurzfristig erfolgreich erscheinen (wie an die Peschmerga im Nordirak), wirken aber langfristig – wie die Erfahrung lehrt – häufig als Faktor neuer bewaffneter Konflikte und tragen zu den Fluchtursachen bei. Die zunehmende Teilnahme deutschen Militärs an Kriegseinsätzen weltweit dient im Schatten der vordergründigen Propaganda ›Verantwortung übernehmen‹, Terror eindämmen, den Großmachtgelüsten der führenden deutschen Politikerkaste, Ziel: ein dauerhafter Sitz im UN-Sicherheitsrat.
Die Verantwortung des reichen Nordens für die Fluchtursachen erkennen, heißt auf eine grundlegende Politikwende einer Reregulierung der Globalisierung hinzuwirken, ihre Eindämmung und eine Deglobalisierung der weltweiten Arbeitsteilung. Eine solche Politikwende wird ohne einen begleitenden Kulturwandel, der sich von der imperialen Lebensweise im reichen Norden samt dem ihm zugrunde liegenden Wachstumsparadigma verabschiedet, nicht möglich sein. Es wäre aber ein Kurzschluss, aus der Kritik an der ›Globalisierung von oben‹ zu folgern, dass die Flüchtlinge und Migranten, gleichsam die ›Globalisierung von unten‹, ohne Grenzen von den Ländern des reichen Nordens aufgenommen werden sollten. Ein solches Denken folgt seinerseits, wie oben schon betont, der neoliberalen Logik des weltweiten grenzenlosen Verkehrs von Waren, Investitionen und Menschen.
Gesellschaftspolitische Grenzen der Aufnahmefähigkeit für Flüchtlinge
Im politischen Mainstream wird derzeit die Aufnahme von Flüchtlingen gleichgesetzt mit der Aufgabe ihrer – möglichst schnellen – Integration in die heimische Gesellschaft, d.h. Bildung und Ausbildung, Versorgung mit menschenwürdigem Wohnraum und Integration in den Arbeitsmarkt. (Ein Kursschwenk der Bundesregierung unter dem Eindruck des massiven Stimmungswandels in der Bevölkerung ›seit Köln‹ zeichnet sich durch das Diktum von Angela Merkel auf dem Landesparteitag der CDU Mecklenburg-Vorpommern am 30.1.2016 ab: Dort äußerte sie die Erwartung an die Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak, dass sie zum größten Teil nach dem Ende der Kriegshandlungen in ihre Heimatländer zurückkehren.)
Die Lobbyvertreter der Wirtschaft werden nicht müde, den Vorteil der vorwiegend jungen Flüchtlinge für die heimische Wirtschaft zu betonen, auch als Gegengewicht gegen die Überalterung und Schrumpfung der heimischen Bevölkerung. Zunehmend werden wissenschaftliche Untersuchungen (Szenarienrechnungen) vorgelegt, die den langfristigen volkswirtschaftlichen Gewinn (für Wachstum und Wohlstand) belegen sollen. (Siehe u.a.: Fratzscher, Marcel/Junker, Simon: Integration von Flüchtlingen – eine langfristig lohnende Investition, in: DIW Wochenbericht Nr. 45/2015, S. 1083-1088; Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR): Jahresgutachten 2015/16, Nov. 2015, Kap. III Bewältigung der Flüchtlingsmigration, S. 12-19)
Aber auch am anderen Ende des politischen Spektrums, der politischen Linken, wird – wenn auch mit anderen Motiven, nämlich der internationalen Solidarität mit den Flüchtlingen – die Integration von Flüchtlingen = Migranten gefordert. Exemplarisch dazu Albrecht von Lucke: »Die Ereignisse von Köln haben auch gezeigt, dass gelingende Integration wesentlich mehr verlangt. Nur die Versorgung mit Wohnraum, Ausbildung und Arbeit wird der zunehmenden Hoffnungslosigkeit unter Flüchtlingen und Illegalen wirksam Abhilfe schaffen... Nur wenn die bei uns lebenden – und bei uns bleibenden – Migranten eine echte Perspektive erhalten, nur dann werden Ereignisse wie jene der Silvesternacht in Zukunft mit Sicherheit der Vergangenheit angehören.« (Staat ohne Macht, Integration ohne Chance, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2,16, S. 8) Ausgeblendet werden in diesen Studien und Statements die Folgen absehbarer Desintegration eines Großteils der Flüchtlinge/Migranten, wenn sie dauerhaft in Deutschland bleiben sollten. Und nach der Flüchtlingsstudie 2014 des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge wollen ca. 80 Prozent der Asylberechtigten und anerkannten Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan dauerhaft in Deutschland bleiben (Afghanistan: 89,2 Prozent, Irak 88,4 Prozent, Syrien 76,4 Prozent). Man kann davon ausgehen, dass die über eine Millionen Flüchtlinge/Migranten im Jahre 2015 eine ähnlich hohe dauerhafte Bleibeabsicht in Deutschland haben. (Siehe: Worbs, Susanne/Bund, Eva: Asylberechtigte und anerkannte Flüchtlinge in Deutschland. Qualifikationsstruktur, Arbeitsmarktbeteiligung und Zukunftsorientierungen. Ausgabe 1/2016 der Kurzanalysen des Forschungszentrums Migration, Integration und Asyl des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg, Abb. 5, S.8. – Die Analyse beruht auf der schriftlichen Befragung von Flüchtlingen, die ihren ersten Asylantrag zwischen 2007 und 2012 gestellt haben.)
Absehbare Grenzen der Integrationsfähigkeit
a) Bildung/Ausbildung:
Einigermaßen zuverlässige Daten über den Bildungs- und Ausbildungsstand der Flüchtlinge/Migranten, die in 2015 nach Deutschland kamen, gibt es nicht. Weithin werden aber illusionäre Erwartungen in ihren Bildungs- und Ausbildungsstand, insbesondere syrischer Flüchtlinge, und damit in ihre Vermittelbarkeit in Arbeit geweckt. Eine statistisch gesicherte Annäherung an die Realität gibt die Flüchtlingsstudie 2014 des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF). In ihr wurden im Jahr 2014 Asylberechtigte und anerkannte Flüchtlinge aus Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran, Sri Lanka und Syrien nach ihrer Qualifikationsstruktur, Arbeitsmarktbeteiligung und ihren Zukunftsorientierungen befragt. Zum Zeitpunkt der Befragung lag die Aufenthaltsdauer dieser Personengruppen im Durchschnitt bei 5,4 Jahren, Syrien 4,2 Jahre (a.a.O., S. 3). Hinsichtlich der schulischen und beruflichen Qualifikation werden knapp ein Viertel (23,3 Prozent; Syrien 22,7 Prozent) als ›niedrigqualifiziert‹ eingestuft (keine Schule besucht, – noch – keine Ausbildung oder kein Studium absolviert; die Befragten aus Afghanistan, dem Irak und Syrien haben mehrheitlich –noch – keine Berufsausbildung oder ein Studium absolviert (a.a.O., S. 4, bes. Tab. 2).
Dieser Befund erklärt die mangelhafte Integrationsfähigkeit eines Großteils dieser Flüchtlingsgruppen auf dem Arbeitsmarkt (siehe unten), selbst bei nachholender (Aus-)Bildung hier. Er wird noch verschärft durch die Recherchen des Bildungsökonomen Ludger Wößmann, Leiter des Zentrums für Bildungsökonomik in München. (Interview mit der ZEIT: »Zwei Drittel können kaum lesen und schreiben«, in: Die Zeit vom 19.11.2015, S. 81) Aufgrund verschiedener Quellen könne man davon ausgehen, dass rund zehn Prozent der Flüchtlinge/Migranten über 25 Jahre alt und Akademiker sind und zwei Drittel keinen berufsqualifizierenden Abschluss haben. Aktuelle OECD-Vergleichsstudien zeigten, »dass zwei Drittel der Schüler in Syrien nur sehr eingeschränkt lesen und schreiben können, dass sie nur einfachste Rechenaufgaben lösen können. Und das bedeutet, dass diese Schüler in Deutschland, selbst wenn sie Deutsch gelernt haben, kaum dem Unterrichtsgeschehen folgen können. /.../ Die Ergebnisse sind eindeutig: Vom Lernstoff her hinken syrische Achtklässler im Mittel fünf Schuljahre hinter etwa gleichaltrigen deutschen Schülern hinterher.« Nach älteren Zahlen der Bundesagentur für Arbeit »zeigt sich, dass rund zwei Drittel der Asylbewerber aus Kriegsländern keine berufsqualifizierende Ausbildung haben. /.../ Laut Handelskammer München und Oberbayern haben 70 Prozent der Azubis aus Syrien, Afghanistan und dem Irak, die vor zwei Jahren eine Lehre begonnen haben, diese bereits wieder abgebrochen.«
b) Arbeitsmarkt:
Zu diesem traurigen Befund passen folgende Erwartungen und Daten: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) geht in einer aktuellen Szenarienberechnung zur Integration der Flüchtlinge davon aus, dass nach 6-10 Jahren noch 45 Prozent der Asylberechtigten (bei einer Schutzquote von 45 Prozent anerkannter Asylanträge) aufgrund ihrer geringen Qualifikation und Sprachkenntnisse arbeitslos sein werden, nach 11 Jahren immer noch 30 Prozent (Fratzscher, Marcel/Junker, Simon: aaO.: Tabelle: Annahmen (in Prozent), Basisszenario, S. 1084). Diese Annahme wird dadurch fundiert, dass Mitte 2014 49 Prozent der in Deutschland lebenden Syrer arbeitslos waren, 31 Prozent der Afghanen und 39 Prozent der Iraker. (Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR): a.a.O.: Tabelle 24, S. 247; Prozentangaben bezogen auf die Erwerbsbeteiligung. vom SVR in vier Szenarien bis 2020 angenommenen Erwerbslosenquoten der Flüchtlinge liegen deutlich unterhalb derjenigen vom DIW – Spanne von 30 bis 5 Prozent; Tab. 2, S. 43 –, sind aber aufgrund durchweg unrealistischer Szenarienannahmen wenig zukunftsnah.)
Die schon zitierte Flüchtlingsstudie 2014 des BAMF resümiert ihre Ergebnisse bezüglich der Beteiligung der Befragten am Arbeitsmarkt: Trotz einer günstigen Altersstruktur und uneingeschränkten Arbeitsmarktzugangs sind nur gut ein Drittel (36,5 Prozent) aller in der Studie befragten Personen erwerbstätig (Vollzeit, Teilzeit, geringfügige Beschäftigung); die ausgeübten Tätigkeiten sind auf einige Branchen und Berufe konzentriert (Gastronomie; Verpackung, Logistik, Transport; Reinigung; Herstellung und Verkauf von Lebensmitteln) und überwiegend als gering bis mittel qualifiziert einzustufen (Worbs, Susanne/Bund, Eva, a.a.O., S. 7). Für ein zukünftige Integrationsperspektive von Kindern kommt erschwerend hinzu, dass Frauen zu fast zwei Dritteln nicht auf dem Arbeitsmarkt aktiv sind und auch keine Erwerbsarbeit oder eine Ausbildungsstelle suchen; sei es, dass sie durch Kinderbetreuung gebunden sind, ihre Bildungsqualifikationen im Durchschnitt deutlich schlechter sind als die der Männer und sie durch kulturspezifische Muster der Arbeitsteilung in den Familien weiter von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen sind (a.a.O., S. 6).
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) kommt in seinem aktuellen Jahresgutachten 2015/16 aufgrund des durchschnittlichen Qualifikationsniveaus der Flüchtlinge zu dem Schluss: »Die Integration der anerkannten Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt wird zu einer Zunahme atypischer Beschäftigungs-verhältnisse, unter anderem der geringfügigen Beschäftigung und der Zeitarbeit, sowie zu mehr Praktika führen. Diese Beschäftigungsformen bieten den Arbeitgebern in Anbetracht der großen Unsicherheit über die Produktivität der Arbeitsuchenden größere Flexibilität.« (SVR: a.a.O., S. 249) Diese Erwartung des Sachverständigenrats wird gestützt durch eine aktuelle Unternehmensbefragung des ifo Instituts, München, bei über 3.000 Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes, des Baugewerbes und des Handels (ohne sonstigen Dienstleistungsbereich): »41 Prozent der Firmen sehen ein großes Potenzial für Flüchtlinge, in ihrer eigenen Branche als Hilfsarbeiter eingestellt zu werden. 59 Prozent allerdings sehen auch dafür nur geringe Chancen... 37 Prozent glauben an ein Potenzial, sie in ihre Branche als Auszubildende einzustellen, 63 Prozent jedoch nicht.« ( Pressemitteilung des ifo Instituts vom 26.11.2015: Deutsche Firmen sehen Flüchtlinge vor allem als Hilfsarbeiter) Angesichts dieser insgesamt düsteren Arbeitsmarktaussichten der Flüchtlinge/Migranten gewinnt die Warnung von Karl Brenke, Arbeitsmarktexperte des DIW, an Gewicht: »Bei anhaltender Nicht-Beschäftigung besteht die Gefahr, dass die Betroffenen die Fähigkeit verlieren, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren.« (SZ v. 16.10.2015)
Aus all diesen Befunden ist mehrerlei zu folgern:
- Es ist mittel- und langfristig mit einer deutlich überdurchschnittlich hohen Langzeitarbeitslosigkeit unter den Flüchtlingen, die in Deutschland bleiben, zu rechnen.
- Es besteht die große Gefahr und auch Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Arbeitslosigkeit je länger, desto mehr verfestigt und damit zu einem ethnisch-sozialen Konfliktpotential wird.
- Es wird absehbar zu einem Verdrängungswettbewerb zwischen einem Großteil der wenig qualifizierten Flüchtlinge und dem heimischen Prekariat führen, ein Wettbewerb, der nach aller Erfahrung zu einem Rechtsruck des Prekariats führen wird.
- Ökonomischer Gewinner dieser Konkurrenz werden die Unternehmer sein: je zahlreicher die ›industrielle oder Dienstleistungsreservearmee‹, umso stärker ihre Position in den Tarifauseinandersetzungen.
c) Wohnsituation und Parallelgesellschaften:
Geht man von dem Erfahrungswert aus, dass sich die dauerhaft in Deutschland lebenden asylberechtigten Flüchtlinge, vor allem junge Männer, in bestimmten Wohnvierteln ihrer Ethnie konzentrieren, werden die Probleme der (relativen) Armut, der Enttäuschung und Perspektivlosigkeit dort Konflikte hervorrufen bzw. bestehende Konflikte in diesen Vierteln verschärfen. Darüber hinaus wird es absehbar in diesen Vierteln mit den einheimischen Langzeitarbeitslosen oder prekär Beschäftigten einen Konkurrenzkampf um preiswerten Wohnraum und um knappe Minijobs geben. Es ist daher realistisch, dass die angenommenen Wohlstandsgewinne durch die Flüchtlingsintegration eine Kehrseite haben, nämlich die schleichende Akkumulation von sozialem, ethnisch-religiösen und politischen Sprengstoff.
Die Ereignisse in der Kölner Silvesternacht und seitdem geben einen Vorgeschmack auf künftige Auseinandersetzungen. Die gewalttätigen Übergriffe auf Frauen, verbunden mit Diebstahl- und Raubdelikten führten allen vor Augen, dass die Integration spezifischer Einwanderer- und Flüchtlingsgruppen in erheblichem Umfang nicht gelungen ist bzw. vor kaum lösbare Aufgaben stellt. Als Gegenreaktion radikalisiert sich das Pegida-Milieu weiter (siehe Rechtsradikale Bürgerwehren) – von den zunehmenden Anschlägen auf Flüchtlingsheime ganz abgesehen – und Teile der Bevölkerung sehen sich genötigt, sich waffentechnisch auszurüsten. Aber nicht nur der politisch rechte Rand der Bevölkerung radikalisiert sich: Zunehmend brechen in der Mitte der Gesellschaft der Unmut, ja die Wut über die von den Medien und der herrschenden Politik propagierte Willkommenskultur auf. Es ist ein Fanal, dass im Ruhrgebiet, im Essener Norden mit einem Migrantenanteil von 40 Prozent, drei SPD-Ortsvereine Ende Januar 2016 eine Demonstration gegen die herrschende Flüchtlingspolitik von Bundes- und Landesregierung NRW und gegen sich ausbreitende Parallelgesellschaften von Migranten/Flüchtlingen angemeldet haben unter dem Motto ›Genug ist genug. Integration hat Grenzen, der Norden ist voll‹. (Gemeint ist der Norden von Essen. Die geplante Demonstration wurde auf Druck der SPD-Parteispitze NRW abgesagt. – Vgl. dazu das Interview des Essener Ratsherrn (SPD) Guido Reil: Integration arabischer Flüchtlinge scheitert; WAZ Essen vom 8.1.2016 – http://www.derwesten.de/staedte/essen/der-essener-norden-schafft-das-nicht-id11442282.html)
Es ist absehbar, dass solche Unmutsäußerungen von den herrschenden Parteiapparaten auf Dauer nicht mehr unter der Decke gehalten werden können.
Erschreckend ist, was erst jetzt im Zuge der Aufklärung der Silvesterereignisse in Köln ans Licht der breiten Öffentlichkeit geraten ist: Dass in Köln seit Jahren schon organisierte Tätergruppen aus Nordafrika mit hohem Gewaltpotential jeden Tag und jede Nacht die Stadt heimsuchen mit Taschen- und Ladendiebstählen, Autoaufbrüchen, Raubüberfällen und Wohnungseinbrüchen. (So Rüdiger Thust, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter Köln, in: ARD-tagesthemen v. 6.1.2016). Und dass sich die Polizei über mangelhafte Unterstützung durch die Justiz beklagt. Laut Bericht des Polizeipräsidiums Köln (v. 8.1.2016) verschärfen sich seit 2011 die Taschendiebstähle von Tätern mit hoher Gewaltbereitschaft aus Nordwestafrika zunehmend; im Jahr 2015 wurden fast 2000 nordafrikanische Tatverdächtige ermittelt. In Düsseldorf hat sich im Stadtteil Oberbilk mit ›Klein-Marokko‹ eine kriminelle Szene etabliert, die mit rund 2200 jungen Männern, meist in Marokko geboren, durch Straßenkriminalität in der Altstadt Passanten und Besucher verunsichert. Und nach Angaben der Polizei sind die Drahtzieher der Gruppe in Düsseldorfer Flüchtlingsheimen gemeldet. (Rheinische Post v. 7.1.2016)
In Köln zeigte sich höchst konzentriert die Spitze eines alltäglichen Eisbergs an Kriminalität und agressiv-frauenfeindlicher Einstellungen eines nicht unbeträchtlichen Teils der Migranten und Flüchtlinge; dabei muss vor jedem Pauschalverdacht gegen Flüchtlinge allgemein und gegen besondere Flüchtlingsgruppen gewarnt werden. Auf diesen Eisberg weisen auch die zahlreichen Hilfe- und Warnrufe der Polizeigewerkschaften hin angesichts gewaltbereiter Familienclans aus dem Libanon, Polen, Serbien, Rumänien u.a. in den ›Problemvierteln‹ vieler Groß- und Mittelstädte von NRW, vor allem im Ruhrgebiet und in der Rheinschiene.
Einen besonders folgenschweren Fall von Parallelgesellschaften stellt der Stadtteil Dinslaken-Lohberg im Nordwesten des Ruhrgebiets dar. Das Quartier Lohberg ist eine städtebaulich höchst attraktive Gartenbausiedlung von Anfang des 20. Jahrhunderts in unmittelbarer Nähe der Zeche Lohberg, die Ende 2005 geschlossen wurde mit der Folge hoher Arbeitslosigkeit in der Siedlung. Infolge der Gastarbeiteranwerbung in den 1960er Jahren ist die Siedlung mittlerweile fest in türkischstämmiger Hand. Mittwochs, am Markttag, ist der Markt türkisch dominiert. Die Tatsache, dass von den türkischstämmigen Frauen die weitaus meisten, auch die jungen Frauen, Kopftuch tragen, ist ein untrügliches Zeichen einer Parallelgesellschaft. Im Dunstkreis zweier rivalisierender Moscheegemeinden entwickelte sich vor etwa zehn Jahren eine salafistisch-dschihadistische Szene, aus der circa 20 junge Männer, die sogenannte Lohberger Brigade, nach Syrien in den Dschihad zogen; einige von ihnen sind bald desillusioniert wieder nach Deutschland zurückgekehrt, wenige sollen im Dienste des sogenannten Islamischen Staates zu Tode gekommen sein. Lamya Kaddor, liberal-islamische Religionspädagogin und ehemalige Lehrerin von fünf Mitgliedern dieser Gruppe, die sich dem Dschihad verschrieben hat, stellt in ihrem Buch zu diesem Lohberg-Phänomen fest: »Dass ausgerechnet Dinslaken-Lohberg zu einer international bekannten ›Hochburg‹ des gewaltbereiten Salafismus in Deutschland wurde, ist also letztlich zu einem großen Teil dem Zufall geschuldet. Der Boden für eine solche Entwicklung wäre auch in anderen Städten und Stadtteilen bereitet. Dinslaken-Lohberg steht für all die anderen Kommunen oder Städte, die mit ähnlichen sozioökonomischen Herausforderungen zu kämpfen haben.« (Lamya Kaddor: Zum Töten bereit. Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen, München/Berlin 2015, S. 38f.)
Die relativ ausführlichen Hinweise auf den Zusammenhang von Parallelgesellschaften und Kriminalität sollen keinesfalls den Eindruck erwecken, als gäbe es nicht weithin eine ausgesprochen erfolgreiche Integration von Migranten und Flüchtlingen. Es gibt sie und sie stellt zum Teil eine Bereicherung der einheimischen Gesellschaft dar. Aber die seit dem Spätsommer 2015 den öffentlichen Diskurs weithin bestimmende Willkommenskultur kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die propagierte Integration der Flüchtlinge und ihre Behandlung als Einwanderer zu einem großen Teil absehbar misslingen wird und damit die schon längst bestehenden Probleme nicht gelungener, ja zum Teil auch gar nicht gewünschter Integration erheblich verschärft werden.
Weitere Beiträge des Autors zur Flüchtlingsproblematik:
- Flüchtlingsdebatte: Das Unbehagen wächst, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 11/2015, S. 25-29
- In welchem Land wollen wir eigentlich leben? (Eine Kritik des Publik-Forum-Dossiers »Das neue Deutschland« vom 23.10.2015), in: Publik Forum Nr. 24 vom 18.12.2015, S. 20f.