Ulrich Siebgeber - ©LG
Ulrich Siebgeber
Vergessen hilft. Aber nicht wirklich.
 

 

Siebgebers Kolumne entstand in den späten Jahren der Merkel-Herrschaft, die geprägt wurden durch ein Klima des politischen Konformismus und der Zuspitzung gesellschaftlicher Differenzen nach dem Motto Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich und muss aus der öffentlichen Debatte entfernt, zumindest unsanft an den Rand gedrängt werden. Gleichzeitig wurden politische Entscheidungen getroffen, deren Brisanz für jeden Einsichtigen offenlag und deren verheerende Auswirkungen das Land gegenwärtig nach und nach zu spüren beginnt.
Siebgebers Aufzeichnungen enden am 8. Mai 2020. Zusammengefasst und nach Themen geordnet lassen sie sich nachlesen in dem Buch Macht ohne Souverän. Die Demontage des Bürgers im Gesinnungsstaat, das 2019 erschien und nebenher das Pseudonym, besser, die literarische Maske des Autors aufdeckte. Im Land der Masken wirkt dergleichen Mummenschanz ohnehin wie aus der Zeit gefallen. Was nicht gegen ihn sprechen sollte.
Ulrich Schödlbauer

von Ulrich Siebgeber

Die affektierten Nutznießer des Nationalstaats erkennt man daran, dass sie ihn ›irgendwie‹ hinter sich haben – nicht etwa, weil sie sich zu eingefleischten Individualisten erzogen hätten, die zu allem ›Gemeinen‹ ein ironisches Verhältnis pflegen, sondern aus – man darf es so sagen – purem Gemeinsinn: sie sind eingefleischte Europäer. Genau gesagt, handelt es sich um Neu-Europäer, die jenen Europäern, die als Schweden, Griechen, Spanier, Kroaten, Polen, Ungarn, Franzosen oder Engländer diesen Kontinent geformt haben, mit ausgesprochener Geringschätzung begegnen, so als besäßen sie etwas Besseres, etwas, von dem alle anderen keine Ahnung hätten, weil … nun, weil sie etwas zurückgeblieben sind. Die Neu-Europäer glauben an die Europäische Union wie der Gerichtsvollzieher ans Schuldeneintreiben. Nach der EU, das wissen sie, ist vor der EU, auf jede Verordnung folgt mit mathematischer Präzision die nächste, auf jeden Gipfel ein weiterer, auf jeden Juncker ein – halt! Hier wird es heikel.

Man könnte argumentieren, die EU sei Realität und es stehe einem jeden frei, an Realitäten zu glauben. Zwingend geboten ist das nicht, da sie sich auch ohne diese Zutat Respekt zu verschaffen wissen. Einem Neu-Europäer würde man damit auch nicht gerecht. Im Grunde seines Herzens weiß er: die Schulden, die er unnachsichtig eintreibt, sind unbezahlbar selbst für den Fall, dass er zu unorthodoxen Mitteln greift. Weil er das weiß – und sein Opfer, das ihn mit ängstlichen Augen erwartet, sogar im voraus ein wenig bedauert –, hat er sich auf die jedem Folterknecht geläufige Sekundärlust verlegt, die das Zufügen von Schmerzen bereitet: Moral, Werte, Logik, Grammatik, Augenschein, Plausibilität, common sense, selbst die überbeanspruchte Vernunft, – das alles sind Organe, deren Verletzung zu seinem festen Pensum gehört, sobald er sich einmal im Dienst befindet.

Die EU ist nicht die EU, jedenfalls nicht die, die er meint, schon gar nicht die der EU-Kritiker, die er kritisiert, weil er weiß, dass Kritik destruktiv ist und im Grunde verboten gehört. Sein Europa ist das Werk, das zu tun uns bleibt. Daher ist sein natürlicher Feind der Nationalstaat, aus dessen Ressourcen er seine Mittel … zöge, wäre er wirklich in dieses Werk involviert. Was nicht der Fall ist. Als Politiker ist der Neu-Europäer Abnicker: Was immer die unergründlichen Behörden im fernen Brüssel beschließen, es findet seine Billigung, sobald es ihm zur Abstimmung vorgelegt wird. Denn es geht um die ›Idee Europa‹ und da darf man nicht pingelig sein. Oder doch? Fällt einer der Partner, zum Beispiel das Vereinigte Königreich, vom Glauben ab, dann ist äußerste Akkuratheit angesagt: die Liste der Vorteile, derer es dabei verlustig geht, ist lang und wird penibel fortgeführt, vermutlich bis zum Jüngsten Tag, an dem Europa endgültig unausweichlich wird. Die Fehler der Union hingegen, mögen sie Target2 oder Dublin XXL oder So machen’s alle heißen … war da was? Das müsste er wissen.

Und als Kritiker? Als Kritiker ist seine Einstellung zu Europa paradox. Sie ist einerseits unbedingt, andererseits von der scharfen Erkenntnis geprägt, dass dieses Europa nicht seinen Vorstellungen entspricht. Sein Postnationalismus hat sich von der Vorstellung einer künftigen Nation Europa, die ihre Interessen wahrzunehmen verstünde und als eine der großen Mächte Weltpolitik betriebe, ebenso gelöst wie von der Vorstellung, in irgendeiner der existierenden Nationen Europas ein Auskommen zu finden. Ginge es allein darum, es wäre sein Europa nicht mehr und er müsste auswandern ins Land seiner Träume. Sein Europa, sein erträumtes Europa, um dessen willen er seine Opfer kneift, prügelt, verunglimpft, denunziert, hat abgelegt wie das Schiff mit den acht Segeln und den fünfzig Kanonen, von dem einst Seeräuber-Jenny schwärmte, und geht im Mare Nostrum der Mafioten auf Menschenfang. Wer immer es das Europa der Schleuser zu nennen wagt, bekommt eine Breitseite.

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Die Realität Europas ist der Nationalstaat. Er garantiert das Überleben, die Sicherheit, das Auskommen, den unterschiedlichen Wohlstand von 741,4 Millionen Menschen, von denen die Mehrzahl, 511,8 Millionen, innerhalb der EU-Grenzen lebt. Gleichgültig, ob man diese EU als Zusammenschluss souveräner Staaten (inklusive Souveränitätsabgabe auf definierten Feldern), als Staatenbund mit bundesstaatlichen Zügen oder als Staat im Werden betrachtet: unbestreitbar bleibt bei alledem, dass Europa, und zwar das ganze, nach wie vor aus Nationen besteht. Es ist, wenn man so will, das unstrittigste Faktum von allen. Wer in Europa Politik machen wollte und dies nicht wüsste, weil er in Geschichte nicht aufgepasst hat, könnte sich ebenso gut zu Fuß auf den Weg zum Mond machen. Irgendwo kommt jeder Irrläufer an, egal unter welchen Prämissen.

Die postnationalen Kritiker ficht das nicht an. In ihrem Universum existieren keine Nationen. Ein kühler Betrachter könnte spotten, bereits das Wort ›Existenz‹ sei ihnen suspekt. Doch damit hätte er erst einen Zipfel einer Weltsicht berührt, in der bloß Projekte und Programme zählen, vor allem, wenn sie aus dem Ruder zu laufen beginnen. Alles andere kommt ihnen verdächtig vor. Wo aber Verdacht ist, wächst das Rettende auch: die Schuld. Unbescholtene Mitmenschen, die an die Existenz des Nationalstaats erinnern und an die Prämissen, unter denen er existiert, mutieren im Handumdrehen zu Nationalisten, Schönrednern einer verbrecherischen Vergangenheit und kaltherzigen Feinden der Humanität. Im milderen Fall gelten sie als geistig zurückgebliebene Überlebende des östlichen Systems, dessen postnationale Prämissen zum Unaussprechlichen der Gegenwart zählen.

Ist, wer die realen Prämissen des existierenden Nationalstaats ins Spiel bringt, der, siehe oben, allein in Europa mehr als einer halben Milliarde Menschen Überleben und Auskommen sichert, der, wie ein Blick in die Statuten lehrt, die Grundlage von EU und UNO bildet, ein Menschenfeind? Genau! ruft der postnationale Kritiker. Er ruft es nicht wirklich, sondern vertraut es Facebook an, wo er sich unter seinesgleichen gut aufgehoben weiß, weil jeder Pöbler der anderen Seite ihm automatisch Recht gibt. Wer den Nationalstaat verteidigt, der will ethnische Homogenität. Das ist es, was er aus der Geschichte gelernt hat: Der Nationalstaat tendiert zum Ausschluss des Fremden. Er besitzt einen eliminatorischen Zug. Da jeder jederzeit Fremder sein kann, gilt: Der homogene Nationalstaat ist eine verbrecherische Fiktion.

Und in der Tat: Vertreibungen und Massaker säumen den Weg, auf dem Europas Nationalstaaten entstanden und untereinander ihre Konflikte austrugen. (Ob die eliminatorische Gewalt des Nationalsozialismus in die gleiche Kategorie fällt, darf bezweifelt werden: der Rassestaat sollte als Staat ›neuen Typus‹ das Ende des alten Europa besiegeln.) Dass, wer Frieden will, ›Europa‹ wollen muss, also jenes Geflecht aus Regularien, das jede kriegerische Konfliktlösung ausschließt, bedeutet keineswegs, dass er diese EU wollen muss (oder eine andere), wohl aber etwas in ihrer Art – gegründet auf die Institution des Rechts, dessen gewaltsame Ursprünge die Dekonstruktionisten aller Länder zu unterstreichen nicht müde werden. Was bedeuten diese Regularien? Sie sollen, jeder weiß es, die Verhältnisse in Europa ›harmonisieren‹: ein hübsches Wort für ›gleichförmig gestalten‹, also homogenisieren. Auch Diversität, wo immer sie existiert, will organisiert sein.

Nicht ›Diversität‹, wie gern behauptet, sondern ›Disruptivität‹ ist der polare Gegenbegriff zu ›Homogenität‹. Ob sich sämtliche Diversitäten in einem Universum unterbringen lassen oder ein (!) Pluriversum diverse Universen beherbergt, ist eine philosophische, allenfalls physikalische Frage, die sich sehr entfernt mit der nach der Praktikabilität eines Weltstaates berührt. Man könnte schon morgen einer Miss Universum die Welt-Präsidentschaftsurkunde in die Hand drücken und gelassen zusehen, was juristische Forschung dazu in einem Jahrzehnt zuwege bringt. Homogenität, heißt das, ist unausweichlich, sobald irgendeine Art von Ordnung ins Spiel kommt. Was nicht bedeutet, dass jede Form der Homogenität zweckmäßig oder willkommen ist. Zwischen dem ›homogenen Nationalstaat‹ und dem ›ethnisch homogenen Nationalstaat‹ klafft ein gewaltiger Riss – dem Begriff nach, aber eben auch in der Sache.

Die postnationalen Kritiker wissen es nicht, obwohl sie es wissen könnten. Sie wissen es nicht, obwohl sie es wissen müssten, da sie täglich von dieser Differenz profitieren – als Bürger Europas, als Bürger dieses oder eines anderen Landes, nicht zuletzt als Weltbürger, die von der Fragilität staatlicher Konstrukte zu berichten wissen, in denen die Nation, falls sie in Anspruch genommen wird, nur ein Deckmantel für Korruption und Gewalt der Herrschenden ist. Sie müssten es wissen, weil vielen von denen, die da fliehen, sei es vor dem Krieg, sei es vor den Verhältnissen, das Elend der bloßen Ethnizität auf die Haut geschrieben steht. Was wären denn Recht und Gesetz anderes als Gleichrichter, also, um es hässlich zu sagen, Homogenisierungsmaschinen? Was die Institutionen eines Landes? Jede für sich und alle zusammen drücken diese einen gemeinsamen Tatbestand aus: So machen wir’s. Was ist mit der offiziellen Landessprache? Sie homogenisiert. Und nicht zu knapp. Was mit den Medien? Sie homogenisieren. Sie stellen den gemeinsamen Besitz an Daten, Bildern, Emotionen, Sprech- und Denkmustern zur Verfügung, mittels derer sich so trefflich streiten, hetzen, verleumden und verständigen lässt. Gerade so stellen sie die Nation her – auch dort, wo sie sie bekämpfen.

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Was hat es auf sich mit der Nation?

1. Die ethnische Komponente: Was in einem Land lebt, eine Sprache spricht, mehr oder minder die gleichen Wertvorstellungen teilt, den gleichen Vorstellungen von Schönheit, Bildung, Lebensführung folgt, das geht auch miteinander ins Bett und zeugt Nachwuchs: das Heiraten ist der mächtigste Homogenisierungsfaktor überhaupt. Das ist so banal wie unvermeidlich. Errichtet eine Gruppe Heiratsschranken, dann zerfällt die ethnische Einheit. Womit sich leben lässt, es sei denn, es steckt eine Abschottungsstrategie dahinter, die den Rechtsstaat aushebelt und die politische Einheit bedroht. Hingegen fällt ethnische Homogenisierung von Staats wegen, die Auslöschung, Vertreibung und Drangsalierung von ethnischen Minderheiten (Völkern, Volksgruppen, Clans) unter die Staatsverbrechen. Wer dafür wirbt, macht sich, wenigstens in den rechtlich fortgeschrittensten Ländern des Planeten, strafbar. Die faktische, gewünschte, geplante Minderstellung ethnischer Minderheiten nennt man gemeinhin Ethnozentrismus: er ist ein Ärgernis und viele Mutige und weniger Mutige gehen gegen ihn an.

2. Die deklamatorische Komponente: Liebling aller Selbstherrscher. Die Nation mag es, wenn man sie adressiert. Das gilt nicht nur in Notzeiten. Es gilt auch unter demokratischer Herrschaft. Wer wir sind, was wir sind, was wir wollen, was wir können, was wir leisten, was wir fürchten und vermeiden wollen: Gegenstände aller öffentlichen Rede. Wer sollte dieses ›Wir‹ wohl sein, wenn nicht die Nation? Und was wäre Verständigung anderes als Abgleich dessen, was sonst haltlos auseinanderfiele? Die Idee, alle müssten einer Meinung sein, um ein Wir zu bilden, ist absurd. Homogen bedeutet nicht gleich, sondern: aus einer Wurzel. Die Wurzel von Öffentlichkeit ist, jedenfalls unter Sprachfähigen, die gemeinsame Weise, sich auseinanderzusetzen: Streitkultur.

3. Die republikanische Komponente: Wo der Staat die res publica ist, die öffentliche Sache, für die der Einzelne jederzeit zu streiten aufgefordert ist, da existiert die politische Nation. Deutschland ist eine Republik. Keineswegs nebenbei: An wessen Willensbildung sollten die politischen Parteien wohl mitwirken, wenn nicht an der der Nation? Die politische Nation kennt keine ethnische Zugehörigkeit, ihr darf, kann, muss die Staatsbürgerschaft genügen. Ein Einzelner kann ohne weiteres Staatsbürger sein, ohne politisch aktiv zu werden – und sei es nur durch Teilnahme an Wahlen –, dann ist er Passbürger, nichts weiter. Er kann, als Staatsbürger, dem Gemeinwesen, dem er angehört, ablehnend oder feindselig gegenüber stehen. Dann ist er, vorsichtig gesprochen, ein unvollständiger Bürger oder Angehöriger einer Minderheit, die einen anderen Staat will. Man kann auch gegen die Nation polemisieren, dann ist man ein Demagoge oder ein Journalist.

4. Die kulturelle Komponente: Wo kein Staat existiert, obwohl der Wille zum gemeinsamen Staat virulent ist, da springt die Kultur ein und schafft den gemeinsamen Verständigungsraum der Nation. Der Kulturnation, heißt das, fehlt etwas, und das ist eben der gemeinsame Staat. Grotesk daneben wäre es allerdings, sie deshalb als Surrogat zu betrachten. Sind die Kurden eine Nation? Diese Frage wird politisch entschieden, von Fall zu Fall, sie ist ein Unruhefaktor im Staatensystem. Postnational wirken sie jedenfalls nicht. Ist EU-Europa eine Nation? Natürlich nicht, aber eine im Werden (vielleicht). Muss Europa eine Nation werden? Natürlich nicht. Die europäischen Nationen sind real und sie verfügen über ein langes Gedächtnis. Die EU ist eine Weise, miteinander übereinzukommen: also eine Homogenisierungsmaschine – jedenfalls dort, wo sie antritt. Ein ökonomisch-politisches Projekt, vereinbart von Nationalstaaten, mit denen sie, als Produkt, zwangsläufig konkurriert. Diese Konkurrenz spaltet die europäischen Bürgerschaften. Den einen oder anderen mag das stören. Aber der Antagonismus ist real: durch Deklamationen und Auszischen lässt er sich nicht aus der Welt schaffen. Vermutlich liefert gerade er das Treibrad, das die Einigung jenseits der Deklamationen voranbringt: lebendige europäische Kultur.
Was sonst?

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Der heutige Nationalstaat ist gegen die bloße Ethnizität gewonnen worden. Das gilt für Europa, das gilt erst recht für die aus imperialen Ordnungen oder durch Einwanderung aus aller Herren Länder entstandenen Großstaaten, die gegenwärtig das globale Spiel dominieren. In jenen Ländern, die gern – und rasch – failed states genannt werden, scheint häufig der Kampf gegen das Denken in aggressiven ethnischen Kategorien noch nicht gewonnen oder bereits wieder verloren zu sein. Unter dem Gesichtspunkt der Selbstbestimmung der Völker und der Einzelnen als Bürger ihres Staates ist der Nationalstaat nichts anderes als der gelungene Staat. Es ist wahr: Selbstbestimmung ist nicht alles und supranationale Zusammenschlüsse à la EU oder UNO sind nicht mehr und nicht weniger als aktuelle Problemlösungen für Ungleichgewichte im planetarischen Ringen der Mächte und Rechte. Sie sind die Lösung und das Problem. Was aus ihnen wird, steht gleichermaßen im Streit wie in den Sternen. In dieser Weltlage sind die postnationalen Eiferer Briefträger des Unfriedens: Boten teils und teils Gezeichnete.