von Ulrich Siebgeber
Compassion – leidenschaftliches Mitgefühl – verlangte einst Willy Brandt von der Politik. Manchmal genügt das einfache Mitgefühl, um ihr den Puls zu fühlen. Eine Schweigeminute im Bundestag, auch wenn sie vom neuen Gottseibeiuns AfD durch einen Akt institutioneller Nötigung herbeigeführt wurde, bleibt eine Schweigeminute – ein ritueller Akt, der unmittelbar das Gedenken an das Opfer, Erinnerung an seine Qualen und Solidarität mit den Hinterbliebenen durch Enthaltung vom Wort evoziert – unmittelbar, nicht nach langem Nachdenken darüber, wer hier im Kampf der taktischen Finessierer die Nase vorn hat oder den Anschluss zu verlieren droht. Wer den Ritus stört, sei es mit Geschäftsordnungsgeklapper, sei es durch allerlei Unmutsbekundungen über den Coup des politischen Gegners, verletzt das Gedenken. Man muss kein Ritualforscher sein, will man die Tiefen- und Langzeitwirkung einer solchen Verletzung erfassen. Wie gesagt, es genügt das einfache Mitgefühl, um abschließend festzustellen: das Parlament der Deutschen erlag in diesen Minuten dem Herztod.
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Es ist oft festgestellt worden: ein Land, das stolz ist auf seine Gedenkkultur, leidet an unausrottbarer Barbarei. Das Wort ›Gedenkkultur‹ ist eine Beschreibungsvokabel, die nicht zur Besitzanzeige taugt, geschweige denn ein Recht auf moralische Ansprüche eröffnet. Gedenken, öffentlich oder privat, ist kein Konto, dessen Stand über die Art der nächsten Urlaubsreise entscheidet. Ein Parlament, das sich einen kleinen Urlaub vom Anstand nimmt, weil es so viel Menschlichkeit angespart hat, besitzt keinen, nicht einmal den, dies einzuräumen, es sei denn, man nimmt mangels anderer Äußerungen das Schambekenntnis des Nachfolgeredners dafür – fälschlicherweise, denn es meldete sich einmal mehr der hohe Anstand, der bekanntermaßen dazu dient, den Gegner niederzuknallen. Eine Politik mit menschlichem Antlitz, wie es die deutsche Flüchtlingspolitik sein will, schließt das Recht und die Pflicht ein, ihre Früchte genau zu studieren – auch und gerade dort, wo sie bitter schmecken. Welche Höhen der ideologische Wahnwitz bereits wieder erklommen hat, lässt sich nirgendwo so drastisch ablesen wie an der unsäglichen Diskussion darüber, ob es Demokratenpflicht sei, über Mord und Totschlag zu schweigen, weil das politische Kalkül es verlange. Hier wurde geschwiegen und wieder war es der Feind, der schwieg.
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Unter die Betroffenheitsathleten muss wohl auch der nordrhein-westfälische Ministerpräsident gezählt werden, dessen Twitter-Account ›Armin Laschet @ArminLaschet‹ aus gegebenem Anlass eine mit triumphierenden Hervorhebungen (»2003: 36 2015: ›Kontrollverlust‹ 2017: 15«) versehene Statistik über die »Anzahl weiblicher Mordopfer unter 18 in Deutschland« weiterreichte. Wer immer den Tweet geschrieben haben mag, dem Landesherrn scheint es der rechte Zeitpunkt gewesen zu sein, kühle Zahlen-Klarheit gegen aufgeputschte Emotionen zu setzen: »Falls in aufgeheizter politischer und medialer Stimmung jemand an statistischen Fakten interessiert sein sollte«. Eigentlich fehlte nur der Parteipropagandist, gewillt, darin das segensreiche Wirken der Berliner Koalition oder diverser Bündnisse im Lande zu preisen. Andere verbreiten, meist mit fuchtelndem Zeigefinger, andere Statistiken, aus denen alles Mögliche hervorgeht. Doch immerhin könnte Laschets Statistik den erfolgreich desensibilisierten Teilen der deutschen Gesellschaft begreiflich machen, dass allein die Seltenheit dieser Taten, auf die Gesamtbevölkerung bezogen, ihnen auch dann die Aufmerksamkeit der Vielen sichern würde, wenn sie nicht ohnedies selbst die hartgesottensten Gemüter angreifen würden. Aus gutem Grund – immerhin lassen sie auch Einfältige ein Stück Verzweiflung darüber spüren, wie eng in der menschlichen Psyche die Kräfte des Behütens, Begehrens und Zerstörens geführt sind, und lassen das Leid der Eltern erahnen, die das schlechthin Entsetzliche in allen seinen Stadien durchleben und immer aufs Neue durchleben müssen. Als hardboiled darf allerdings auch jener Feminismus gelten, dem diese Taten willkommenen Anlass bieten, einmal mehr das Giftwort vom ›Feminizid‹ zu streuen und das alleinseligmachende Dogma der Foucaultisten vom Machtkampf der Geschlechter an allen Fronten ex cathedra zu bekräftigen.
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Nein – der Satz, dieses Mädchen könnte noch leben, hätten nicht andere, politisch gewollte und noch immer zäh verteidigte Entscheidungen diese Täter-Opfer Konstellation herbeigeführt, behauptet seine Gültigkeit, gleichgültig, was die Statistiken aussagen oder nicht oder was im Kalkül der Parteien als erwähnens- oder verschweigenswert gilt. Sie werden es nicht mehr los, sie mögen sich winden, wie sie wollen. Wenige Autostunden entfernt vom Ort der geschäftsführenden Unfähigkeit zu schweigen kämpft die Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz einen einsamen Kampf, in dem die längst in den Abgründen der Zeitgeschichte verschwunden geglaubte Filbinger-Affäre aus dem Jahr 1978 ein weiteres Mal umgeht: Fünf in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs gegen eine Helgoländer Widerstandsgruppe ergangene Todesurteile, vom späteren Flottenchef der Bundesmarine und Träger des Großen Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, Rolf Johannesson, als ›Gerichtsherr‹ bestätigt, bringen die Traditionspflege der Bundeswehr einmal mehr in Bedrängnis. Statistiken über den Stand des allgemeinen Mordens helfen in so einem Fall wenig, es sei denn, die Erbitterung anzuheizen. Was zählt, ist der Fall. Das sollten vor allem Juristen wissen, darunter auch der eine oder andere, der sich als Kolumnist belehrend ins Zeitgeschehen mischt.
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Unausrottbar ist, neben der Barbarei, auch die Kultur, ihr ewiger Zwilling: der rationale Diskurs ist ihr ebenso zu Willen wie der irrationale. Das macht sie nicht gleich, aber es sollte den Hochmut dämpfen, der auf die eigene Kultur ebenso verächtlich herabblickt wie auf die der anderen, als sei sie in einem höheren Wirkungsraum bereits vergangen und es genüge, ein wenig pädagogische Aufklärungsarbeit zu leisten, um die psychischen Reste aus den Köpfen zu verbannen. Nicht die Kultur lässt Menschen zu Mördern werden, sondern der barbarische Kurzschluss. Das gilt, wie für alle Kultur, auch für die Religion, die sich aus jedem Exzess zu lösen vermag, als hätte er niemals stattgefunden oder als sei das stattgehabte Gemetzel nur ein Missverständnis gewesen und ihr wahrer Tauben-Charakter enthülle sich gerade jetzt, zu dieser Stunde, in dieser Rede. Wer sich anheischig macht, Religion zu bekämpfen, zählt bereits zu den Verlierern der Geschichte. Dennoch bekämpfen Religionen einander mit allen Mitteln, die, neben ihrem traditionellen Ideenbesteck, das Zeitalter ihnen an die Hand gibt. Wer in der Dauerpflicht steht, in sich das Böse zu bekämpfen, der läuft Gefahr, sich gelegentlich dadurch Erleichterung zu verschaffen, dass er auf seine Mitmenschen losgeht, sobald erst die Zielmarkierung erfolgt ist und der Widersacher außer Zweifel steht. Darin liegt der Kurzschluss aller kollektivistischen Ethik, die ohne das Böse im anderen nicht auskommt und den Einzelnen zur Handpuppe degradiert.
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Wenn Religionsvertreter einander umarmen und vom interreligiösen Frieden schwärmen, während eine Seite vorsichtshalber ihr Identitätszeichen ablegt, um beim neuen Partner kein Ärgernis zu erregen, kann man sicher sein, dass ihr Zusammengehen taktischer Natur und der gemeinsame Feind nicht weit ist. Lange Zeit war dieser Feind im Westen die permissive Gesellschaft, die Gesellschaft, in der ›Sünde‹ nur als patriarchalisches Kunstwort überdauerte und die Kirchen sich kontinuierlich leerten, im Nahen Osten und den einschlägigen Ländern im nördlichen Afrika hingegen jene ›progressiven‹ Regime, die ein gewisses Maß an Säkularität in der Gesellschaft erzwangen und darüber zu folternden Ungeheuern mutierten – soweit es der Mutation erst bedurfte. Heute gibt die formal noch immer laizistische Türkei im Wettlauf nach dem islamischen Staat das Tempo vor. In Westeuropa ist der von ihr tatkräftig organisierte Islam in erbitterte Anerkennungskämpfe eingetreten, in denen ihm jeder Verbündete recht sein muss, selbst wenn er nach Weihrauch riecht oder vor dem Reichstag die Regenbogenfahne schwenkt. Weniger offensichtlich in diesem Pas de deux sind die Motive der christlichen Kirchenvertreter, vor allem, da sie doch Europas berechtigten Wunsch nach innerem Frieden auf ihrer Seite haben. Die christlichen Kirchen durften erfahren, was es bedeutet, Religionsfreiheit in Ländern zu genießen, in denen die Erbsünde fatalerweise keinen Pfifferling gilt – kein Wunder, dass eine Religion ihre Aufmerksamkeit erregt, deren öffentliche Anwälte den Diskursregeln des Verfassungsstaats à la Habermas einen zweiten Boden einzuziehen verstehen und sich damit die Gefolgschaft von Gläubigen sichern, die zu verstehen glauben.
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Wenn die sich selbst überlassene Gesellschaft das moderne Böse ist, dann wächst die Möglichkeit des Zusammengehens an dieser Front, vorausgesetzt, es finden sich gesellschaftliche Kräfte, die stark genug sind, die Revitalisierung des guten alten christlichen Sündenbewusstseins mit zeitgemäßem Stoff zu versorgen. Klima, Grenzwerte, Abfall, Arbeitslosigkeit, Drogen, Menschenhandel, Einsamkeit, Hartz IV, der ökosoziale Katechismus – es fällt nicht besonders schwer, dem strategischen Blick zu folgen, der von jenem speziellen Standpunkt auf die hier versammelten, spirituell lange Zeit brachliegenden mentalen Ressourcen fällt. Wenn die ›aufgeklärte Gesellschaft‹ den ›unaufgeklärten Islam‹ als Bedrohung wahrnimmt, dann wird es Zeit, dass die Vertreter der ›aufgeklärten Religion‹ die Schafsvernunft mit einem Fürchte dich nicht bei der Hand nehmen, um ihr den friedlichen Konsens der Weltreligionen in den allgemeinen Weltfragen zu erläutern. Ein Schelm, wen dabei die Furcht überkommt, in diesem Spiel etwas zu übersehen. Immerhin ist das kirchliche Lenkungspotential in der säkularen Gesellschaft groß genug, um die regierenden und regierungsnahen Parteien von den Vorzügen einer leichten Aufwertung dieser Komponente im politischen Kräftespiel zu überzeugen. Kirche heute segnet keine Kanonen – es sei denn solche, mit denen man auf Spatzen schießt, aus geheuchelter Furcht, sie könnten sich dereinst zu Geiern auswachsen.
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Die semantische Differenzierung von Vogel- und Fliegenschiss, wie sie der AfD-Sprecher Gauland alternativ zum restlichen Deutschland im Frühsommer 2018 vorgenommen hat, bedarf der Nachbehandlung. Da die Leitmedien sich vor allem an der Kleinheit der Objekte stießen – der GröFaZ: sooo klein? –, sei an dieser Stelle auf die sträflich vernachlässigte Dimensionsdifferenz hingewiesen, die den einen Objekttypus vom anderen trennt. Während der Vogelklacks, gezielt auf dem Haupt eines Politikers oder der Dienstgarderobe seines Chauffeurs platziert, durchaus geeignet ist, die Kacke, wie der Volksmund so sagt, zum Dampfen zu bringen, zeigt der Fliegenschiss, wenngleich erst in gehöriger Anzahl, dem Kundigen an, dass es wieder einmal an der Zeit wäre, die Fenster zu putzen, um den Durchblick auf den Stand des technisch Möglichen anzuheben. Wer daraus folgern möchte, was zu folgern er nicht umhin kommt, möge dies immerhin tun – aber: auf eigene Faust. Herr Gauland jedenfalls, als Nachbearbeiter seiner öffentlichen Bekundungen ein linguistisches Schwergewicht, bedachte sein ›Sprachbild‹ im Nachgang mit folgenden Worten: »Ich habe den Nationalsozialismus als Fliegenschiss bezeichnet. Das ist eine der verachtungsvollsten Charakterisierungen, die die deutsche Sprache kennt. Das kann niemals eine Verhöhnung der Opfer dieses verbrecherischen Systems sein.« Auf den Seiten der AfD legte er nach: »›Vogelschiss‹ ist und bleibt für mich der letzte Dreck, ein animalischer Auswurf mit dem ich den Nationalsozialismus verglichen habe.« Das erinnert an den Welle-Teilchen-Dualismus der Quantenphysik: Man wird den Scheiß, den Politiker gelegentlich absondern, künftig als Vogel- und Fliegenschiss thematisieren müssen. Daran dürfte der Philosoph Gadamer, der mit der Aussage In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens womöglich die gedankliche Vorlage für Gaulands Redepassage lieferte, noch nicht gedacht haben.
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Apropos Faust: Was dem gleichnamigen DDR-Dissidenten und Stasi-Häftling entfuhr, bewegt sich zwar nicht auf der Höhe Gaulandscher Fauxpas’, aber im gleichen Fahrwasser. Siegmar Faust, dem offenbar untersagt wurde, auch künftig auf dem Areal der Gedenkstätte Hohenschönhausen als Führer aufzutreten, vulgo Führungen durchzuführen, weil er, wie das Haus in einer Pressemitteilung kundtat, »in einem Artikel der Berliner Zeitung vom 30. Mai 2018 … mit verschiedenen Äußerungen zitiert wurde, die er im Anschluss an eine Führung durch die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen gegenüber dem Journalisten Markus Decker getätigt hätte«, tätigte aus Anlass dieses Vorgangs, vielleicht auch nur um ihn zu überspielen, weitere Äußerungen, unter anderem folgende: »Ich weise durchaus darauf hin, und das zumeist in der Polemik zu den Grünen, Roten oder den vermummten Antifa-Faschisten, die Deutschland abschaffen möchten und hinter Schildern herlaufen wie ›Nie wieder Deutschland‹ und noch schlimmeren Parolen, dass die deutsche Geschichte nicht nur aus den 12 schlimmen Jahren der Nazi-Diktatur und ebenso wenig nur aus den 45 Jahren SBZ/DDR besteht, sondern darüber hinaus noch Humaneres, Aufgeklärteres und Kulturvolleres zu bieten hat. Aber dass ich deswegen irgend einen Schlussstrich ziehen möchte, ist ein bissel mehr als nur eine harmlose Unterstellung – man könnte es auch Frechheit nennen.«
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In der Tat: Weder Gauland noch Faust haben einen Schlussstrich gefordert. Man kann darüber spekulieren, warum sie es nicht taten – und ob sie nicht meinten, was sie nicht sagten. Dennoch haben viele den Schlussstrich herausgehört. Dieser Schlussstrich, der seit Jahrzehnten durch die Medien und gewisse Politikerreden geistert und sich bei Gelegenheit bereits in eine Paulskirchen-Rede verirrte, ist zum Merkzeichen der deutschen Gedenkkultur geworden, zu ihrem eigentlichen Nie wieder – als ob, wenn gezogen würde, was nie zu ziehen ist, da es dem Wesen historischen Gedenkens, mehr noch der Bedeutung der Historie für die Gegenwart widerspricht, die verruchte Tat selbst damit wieder auferstünde und die Höllenfeuer der Vernichtungslager aufs Neue zu lodern begännen. Über die psychologische Bedeutung des Schlussstrichs darf gerätselt werden. Mag sein, er steht für das Wechselspiel aus Fremd- und Selbstbezichtigung in den Köpfen, das seit Nietzsche das Reden über ›die Deutschen‹ beherrscht, soweit Deutsche selbst es in Gang halten. Was Nietzsche die fatale Naivität der zeitgenössischen Deutschen ›in psychologicis‹ war, das wandelte sich, umgelegt auf die desaströse Geschichte der Nachfolge-Generationen, zum kollektiven Schuld-Sein der Erben, vereint mit der tief empfundenen Unfähigkeit, ›adäquat‹ damit umzugehen, die unvermittelt in die Versicherung des Gegenteils umschlagen kann. Die Gaulands und Fausts dieser Republik wären – in diesem Zusammenhang – keiner Erwähnung wert, würden sie nicht durch ihre Äußerungen die Schuld am Schuldigsein magnetisch auf sich ziehen und damit intermittierend für Entlastung sorgen.
Abb.: Hochspannungsleitungen, von Simon Koopmann [CC BY-SA 3.0 de (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)], von Wikimedia Commons