Ulrich Siebgeber - ©LG
Ulrich Siebgeber
Vergessen hilft. Aber nicht wirklich.
 

 

Siebgebers Kolumne entstand in den späten Jahren der Merkel-Herrschaft, die geprägt wurden durch ein Klima des politischen Konformismus und der Zuspitzung gesellschaftlicher Differenzen nach dem Motto Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich und muss aus der öffentlichen Debatte entfernt, zumindest unsanft an den Rand gedrängt werden. Gleichzeitig wurden politische Entscheidungen getroffen, deren Brisanz für jeden Einsichtigen offenlag und deren verheerende Auswirkungen das Land gegenwärtig nach und nach zu spüren beginnt.
Siebgebers Aufzeichnungen enden am 8. Mai 2020. Zusammengefasst und nach Themen geordnet lassen sie sich nachlesen in dem Buch Macht ohne Souverän. Die Demontage des Bürgers im Gesinnungsstaat, das 2019 erschien und nebenher das Pseudonym, besser, die literarische Maske des Autors aufdeckte. Im Land der Masken wirkt dergleichen Mummenschanz ohnehin wie aus der Zeit gefallen. Was nicht gegen ihn sprechen sollte.
Ulrich Schödlbauer

In »LTI – Notizbuch eines Philologen« erwähnt der Dresdner Romanist Victor Klemperer, der 1945 nur knapp der Deportation ins Todeslager entrann, eine Bemerkung des Germanisten Wilhelm Scherer (1841-1886), die ihn während der Nazijahre »frappierte und in gewissem Sinn erlöste«. Klemperer zitiert: »Maßlosigkeit scheint der Fluch unserer geistigen Entwicklung. Wir fliegen hoch und sinken um so tiefer. Wir gleichen jenem Germanen, der im Würfelspiel all sein Besitztum verloren hat und auf den letzten Wurf seine eigene Freiheit setzt und auch die verliert und sich willig als Sklave verkaufen lässt. So groß – fügt Tacitus, der es erzählt, hinzu, ist selbst in schlechter Sache die germanische Hartnäckigkeit; sie selbst nennen es Treue.«

Wer immer in diesen Tagen und Wochen die Hartnäckigkeit beobachtet, mit der deutsche Politiker und Journalisten an den Narrativen des Clinton-Wahlkampfes festhalten, während der Wind sich längst zu drehen begonnen hat und die atlantische Brise ihnen ins Gesicht weht, könnte sich in unangenehmer Weise an diese Stelle erinnert fühlen – weniger an Scherer und Tacitus als an jenes seltsame Frappiert- und Erlöstsein, von dem Klemperer berichtet, so als sei die Lösung eines moralischen Rätsels selbst inmitten des Grauens ein Stück weit Erlösung.

Es ließe sich einwenden, dass die Tacitus-Stelle das Rätsel nicht löst, sondern nur in jene ethnische Frühzeit zurückverlegt, der sich die heutigen Deutschen ohnehin nicht mehr verbunden verbunden fühlen, während der Bildungsbürger und Philologe Klemperer damit offensichtlich kein Problem hatte. Dabei ginge es ums ›nur‹, das Ethnologen lebhaft bestreiten würden, weil es ihre Forschungsmotivation an zentraler Stelle in Zweifel zöge. Was Tacitus beobachtete, ist ja kein biologisch determiniertes Verhalten, das genetisch weitergereicht würde, sondern ein Ethos, an dem die Treue ähnlich signifikant hervorsticht wie die männliche Ehre und ähnlich kapriziöse Errungenschaften von Migrantenkulturen, mit denen die heutigen Europäer – mehr schlecht als recht – auf ihrem historisch angestammten Terrain zurechtkommen müssen. Was daran fremd, was daran vertraut anmutet, bemisst sich noch immer am eigenen Herkommen, und sei es auch nur noch über Kinderbücher und Universitäts-Studiengänge vermittelt. Woran denn sonst?

Tacitus, den Nicht-Germanen, scheint diese Form der Treue nicht restlos überzeugt zu haben. Als moderner Historiker würde er wahrscheinlich ›Missbrauch‹ oder ›Perversion‹ der wahren Treue diagnostizieren und sich Gedanken darüber machen, ob nicht die römische Zivilisation diese prächtigen Naturburschen in signifikanter Weise benachteiligt und aus der edlen Tugend der Treue ein Instrument der Selbstentwürdigung habe entstehen lassen. Doch vielleicht sollte der moderne Leser ihm dankbar dafür sein, dass er der Versuchung zur Interpretation widerstand und sich auf die nüchterne Beschreibung des Phänomens beschränkte.

Was Klemperer frappiert, frappiert den heutigen Zeitungsleser Tag für Tag aufs Neue – weniger, weil das zügellos wirkende deutsche Verhalten der Regierung Trump gegenüber die Frage nach kommenden transatlantischen Zwängen aufwirft, weit mehr, weil es ein Handlungs- und Weltdeutungsmuster erkennen lässt, das weit über den konkreten Anlass hinaus Wirkung entfaltet. Hartnäckigkeit im Verbreiten dubioser Parolen ist das, was die Leitmedien ihren informationshungrigen Lesern zu bieten haben, und Hartnäckigkeit bis zur Selbstpreisgabe scheint die Methode zu sein, mit der die Politik in Europa das Problem der Nachhaltigkeit ihrer Beschlüsse anzugehen gewillt scheint. Ein (fast) erlösendes Beispiel dieser Geisteshaltung ist das von La Stampa mitgeteilte Papier der europäischen Parlamentspräsidenten, in dessen gedrechselten Sentenzen sich die gespannte Erwartung eines Kontinents, wie es mit der Europäischen Union weitergehen könne, in nichts auflöst – nebenbei bemerkt, eine der vielen umlaufenden Witz-Definitionen und sicher nicht die schlechteste.

Klemperer, vielleicht auch schon Scherer, scheint den Witz der Tacitus-Episode verstanden zu haben: Ein simples Exempel der Spielsucht, jedem Dostojewski-Leser aufs Beste vertraut, bezeichnet das ›Fatum‹, das voraussehbare Schicksal einer Population, die durch die Berührung mit den Suchtmitteln der fremden Zivilisation in einen kulturellen Taumel versetzt wird, aus dem sie sich nicht mehr zu befreien vermag. Zweifellos gehört die Politik der Alternativlosigkeit, auf welchem Gebiet auch immer, zu den starken Suchtmitteln, unter deren Einfluss irgendwann die einfachsten Regeln des staatlichen und gesellschaftlichen Miteinander verblassen, während die Einsätze steigen, bis schließlich die Zukunft selbst für etwas verhökert wird, was man ›Treue zu den eigenen Grundsätzen‹ nennen mag, sobald man erst einmal vergessen hat, was Grundsätze sind und wozu man sie benötigt.

Zwischen Witz und Schicksal besteht ein enger Zusammenhang, der sich aufklärt, wenn man versteht, dass beide auf dasselbe hinauswollen: auf die Auflösung einer Situation, in der die Spannung zwischen den Akteuren mit Händen zu greifen ist, während sie unaufhaltsam zu steigen scheint. Dem rationalen Akteur sind beide zuwider, um nicht zu sagen verdächtig, er kann mit ihnen nichts anfangen und hält sie für feindselige Erfindungen. Das allein sollte als Beleg dafür reichen, dass es mit seiner Rationalität nicht weit her ist. Im Zweifelsfall handelt es sich um eine Rationalität-als-ob, um ein ungegründetes Vertrauen auf eine einmal erworbene und mechanisch fortgeschriebene Denkweise, deren Unantastbarkeit von Tag zu Tag zunimmt, während draußen das Böse lauert und den Rachen aufsperrt, teils, weil es gähnen muss, teils, weil es vergessen hat, wen es verschlingen wollte, und deshalb auf die nächstbeste Gelegenheit lauert.