»Freiheit ist die Freiheit des Andersdenkenden.« Nun prangt sie wieder, die Rosa Luxemburg-Parole, an Berlins Litfasssäulen, mit Genehmigung der Behörden, wie man annehmen kann, und ein paar Zuschüsse mögen auch geflossen sein. Aber stimmt, was da prangt, als sei es direkt aus dem deutschen Hausschatz der gefühlten Zitate geflossen? Jedenfalls klingt es gut, es klingt tolerant, es klingt sogar, als enthalte es eine Einladung, darüber nachzudenken, wie nahe dem Bankrott eine freie Gesellschaft siedelt, die solche Sätze im öffentlichen Raum präsentiert, als müsse der Bürger von morgens bis abends damit berieselt werden. Warum? Steht er in permanenter Gefahr, den Mitmenschen neben ihm, der eine andere Meinung vertritt, der Freiheit zu berauben, etwa, indem er ihn an der nächsten Polizeidienststelle abliefert? Was würde dort wohl mit ihm geschehen? Kerker? Folter? Schlimmeres?
In einem Polizeistaat, der Gesinnungen bestraft, wäre das Aufbegehren, das die Sentenz enthält, verständlich, allerdings nur für den Fall, dass er sich eine gewisse Empfindlichkeit im Umgang mit dem Wort ›Freiheit‹ bewahrt hätte. Andernfalls… Offener Tyrannei ist das Wort ›Freiheit‹ nicht bequem, es schmeckt nach Aufruhr, es fällt der Verfolgung nicht in den Arm, sondern leitet sie auf der Suche nach Delinquenten an. Erst die versteckte Tyrannei, die den Zwiesprech pflegt, lässt sich auf diese Art reizen. Wo alle ›Freiheit‹ brüllen, um den Selbstdenker zu erschrecken, macht die Provokation etwas her. Aber was? Warum begnügt sie sich nicht damit, die Freiheit des Denkenden einzufordern? Liegt das Denken sicher in den Händen der staatlichen Organe und ihrer Helferinstitutionen, hat der Andersdenkende schlechte Karten. Sein Denken gilt als falsch, schlecht, defekt, es gehört in die Besserungsanstalt oder gleich ausgemerzt. Er ist ein Feind des wahren Denkens. Warum sollte gerade seine Freiheit – Freiheit sein? Ist er nicht ein Verführer? Ist er nicht ein Feind der Freiheit, das Richtige zu tun und zu denken? Besteht die Provokation nicht gerade darin, den Feind der Freiheit im Namen der Freiheit zuzulassen und damit die wahre Freiheit zu verfälschen und zu gefährden?
Die der revolutionären Zwiesprache entronnene Sentenz, soviel ist klar, setzt den Zwiesprech voraus und wendet ihn scheinbar gegen sich selbst. Nicht ich fordere meine Freiheit, zu sagen, was ich denke, nein, ich fordere die Freiheit dessen, der andersdenkt und doch frei sein soll. Warum? Weil ich es will. Warum fordere ich seine Freiheit? Denke ich vielleicht insgeheim … auch anders? Bin ich insgeheim selbst ein Feind der Freiheit? Will ich mir die Freiheit bewahren, über die Grenze zu gehen, wann immer es mir beliebt? Halte ich das für die wahre Freiheit? Oder will ich mir einen Gesprächspartner bewahren, von dem ich zu lernen gedenke? Stelle ich also die wahre Freiheit, innerhalb derer ich mich bewege, indem ich alles sage, was legitimerweise zu sagen ist, in Frage? Mache ich einen Unterschied zwischen legitimer und wahrer Freiheit? Bin ich ein Feind der bestehenden Ordnung? Oder will ich nur, dass der Feind sich frei in ihr bewegt, als gelte sein Wort wie das andere? Warum sollte ich das wollen? Fürchte ich, der Gesinnungspolizei eines Tages selbst in die Hände zu fallen? Meine Familie, meine Freunde, meine Arbeitskollegen? Kann ich für ihre Gesinnung nicht bürgen? Weiß ich nicht, was sie wirklich denken? Will ich es am Ende nicht wissen? Oder will ich es wissen wollen? Fordere ich also Freiheit statt Wahrheit?
Woher weiß ich, dass der Andere so denkt, wie er zu denken vorgibt? Kann ich in ihn hineinsehen? Will ich in ihn hineinsehen? Und wenn er so denkt, wie er spricht, und ich nichts anderes von ihm denke: Warum begnüge ich mich nicht damit, Redefreiheit für ihn zu fordern? Warum steht sie für ihn in Frage? Steht sie für ihn in Frage? Oder soll er sie gierig ausschöpfen, um als Andersdenkender kenntlich zu werden? Was ist das – ein Andersdenkender? Denkt, wer denkt, nicht immer bereits anders? Nur unter Rechtdenkenden denkt, wer denkt, anders – unter denen, die sich im Recht dünken, als enthalte ihr Denken einen Rechtsanspruch, der sich in jeder Filiale einlösen lässt. Wie immer man es dreht, der Andersdenkende ist eine totalitäre Denkfigur, die stets nur die Frage zulässt: »Was sollen wir mit ihm machen?« Was denn wohl? Ihn einsperren? Wofür? Was, wenn er am Ende doch Recht hätte? Wäre das ein Grund, ihm zuzuhören? Oder nicht eher ein Grund, ihm nicht zuzuhören? Der Andersdenkende erinnert den Rechtdenkenden daran, dass er seiner – tief innen, gut vergraben – nicht sicher ist, dass in ihm selbst ein Abtrünniger auf Abruf lauert. Der Andersdenkende ist der Rechtdenkende, gedacht als Abspaltung seiner selbst: »Ich habe diesen Gedanken selber gehabt, aber ich habe ihn verworfen.« Warum? Weil er zu den Verworfenen gehörte? Weil ich mich anders entschieden habe? Also habe ich ihn gedacht. Also bin ich der Andersdenkende: Ich habe seinen Gedanken gedacht und denke jetzt anders – vielleicht aus Gründen, vielleicht grundlos, vielleicht aus Opportunität, vielleicht aus Vergesslichkeit … wie konnte ich ihn vergessen? Und wenn ich ihn schon vergessen konnte – woher weiß ich, wie der Andersdenkende denkt?
Jemand kann, als geschworener Feind der Freiheit – oder als ihr Verächter –, den Satz auch anders interpretieren: als Aufforderung, den falschen Spielen der Freiheit ein Ende zu setzen und ein für allemal der Wahrheit zum Recht zu verhelfen. Niemand sage, er sei nicht so gemeint. Besitzt ein Gedanke neben der Eigenschaft, Gedanke zu sein, noch eine ›Meinung‹? Wie kann ich wissen, was Leute meinen, die einen Satz auf eine Litfasssäule kleben, an der ich täglich vorbeikomme? Was ich sehe, ist, dass sie die Freiheit des Andersdenkenden für sich in Anspruch nehmen. Dieser Satz, der mich anplärrt, denunziert mich, der ich ihn lese, als Rechtdenkenden, dem die Freiheit des Andersdenkenden teuer sein sollte. Was wäre, wenn ich die Freiheit des Andersdenkenden für mich in Anspruch nähme? Wäre ich dann auch Andersdenkender? Sollte ich davor Angst haben? Sollte ich Angst haben, entdeckt zu werden? Will man mir Mut zusprechen? Mut wozu? Will man mir dazu gratulieren, dass ich mich in Freiheit befinde? Wie lange noch? Bin ich das: der Feind der Freiheit? Muss ich Freiheit geben, bevor man sie mir nimmt? Oder muss ich lernen, auf meine Freiheit zu verzichten, um der Freiheit anderer willen? Ist das die Botschaft? Muss ich schweigen, weil jene denken? Soll ich denken, sie denken anders, weil Denken anders geht? Wo, in diesem Universum der Parolen, finde ich meinen Andersdenkenden, dessen Denken mich frei macht? Oder soll ich meine Freiheit dahingeben, um seine zu ermöglichen? Die Freiheit des Andersdenkenden, der nicht im Traum daran denkt, meine Freiheit zu respektieren, kann mich nicht bestimmen, seine Freiheit als meine zu akzeptieren. Die Freiheit des Andersdenkenden ist entweder meine Freiheit, frei zu denken, oder die Freiheit eines Menschen, der frei ist, gleichgültig, was er denkt, wie er denkt, warum er denkt und ob er überhaupt denkt.