Ulrich Siebgeber - ©LG
Ulrich Siebgeber
Vergessen hilft. Aber nicht wirklich.
 

 

Siebgebers Kolumne entstand in den späten Jahren der Merkel-Herrschaft, die geprägt wurden durch ein Klima des politischen Konformismus und der Zuspitzung gesellschaftlicher Differenzen nach dem Motto Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich und muss aus der öffentlichen Debatte entfernt, zumindest unsanft an den Rand gedrängt werden. Gleichzeitig wurden politische Entscheidungen getroffen, deren Brisanz für jeden Einsichtigen offenlag und deren verheerende Auswirkungen das Land gegenwärtig nach und nach zu spüren beginnt.
Siebgebers Aufzeichnungen enden am 8. Mai 2020. Zusammengefasst und nach Themen geordnet lassen sie sich nachlesen in dem Buch Macht ohne Souverän. Die Demontage des Bürgers im Gesinnungsstaat, das 2019 erschien und nebenher das Pseudonym, besser, die literarische Maske des Autors aufdeckte. Im Land der Masken wirkt dergleichen Mummenschanz ohnehin wie aus der Zeit gefallen. Was nicht gegen ihn sprechen sollte.
Ulrich Schödlbauer

Die EU stirbt nicht an einem Tag, aber sie stirbt täglich. Unvergessen die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, als die Eurosklerose in aller Munde lag: schon damals gut gebettet auf den üblichen Übertreibungen, auch wenn der Ton inzwischen schärfer geworden ist. Inzwischen? Dazwischen liegen die Jahre der EU-phorie, der Erweiterungs-, Vertiefungs- und Verschuldungsorgien, die in ebenso viele Sackgassen führten. »Vorwärts immer, rückwärts nimmer!« Vibriert da nicht ein Ton aus der Vergangenheit in der Luft?

Medizinisch betrachtet könnte man die EU unter die seltenen Organismen einreihen, bei denen die Sklerose bereits vor der Reife einsetzt. Zum Glück für ihre Bewohner ist sie kein Organismus. Natürlich nicht. Seltsamerweise fehlt diesem Gewirr von Institutionen, Initiativen, Ämtern, Gremien, Treffen, Beschlüssen, Verlautbarungen, ›Töpfen‹, Förderern, Parteigängern, Gegnern, Gewinnern, Verlierern, Heuchlern, Absahnern, Dienstgebäuden, Dienstwagen, Auslandsreisen, Wahlen, Plakatierungen und Internetauftritten nichts, wenn eines seiner ›Organe‹ leidet. Im Gegenteil: andere sehen darin ihre Chance und machen sich breit, ohne das leidende zu ersetzen oder ihm wieder aufzuhelfen. Zwischen Finanzkrise, Währungskrise, Griechenlandkrise, Flüchtlingskrise, Einwanderungskrise, Grenzsicherungskrise, Glaubenskrise, Grexit, Brexit, Auxit, Populismus und autoritärer Versuchung werden weiter Verordnungen erlassen, Parlamentsdiskussionen geführt, Etaterweiterungen geplant, Gehälter kassiert und Sprüche geklopft, ohne dass ein Gebäude einstürzte oder ein Kommissar sich verhöbe. Und wenn schon: Wen würde es scheren?

Was als EU-Krise durch die Medien ›geistert‹ – also doch ›Geist‹! –, atmet denselben Geist wechselseitiger Pressung wie das aktuelle Flüchtlingsrückhalte-, Rückführungs- und Umverteilungsabkommen mit der Türkei. Statt so zu regieren, dass man die solide Mehrheit der eigenen Bevölkerung hinter sich weiß, sprühen Europas wankende Regierungen lieber Bilder vom drohenden Untergang Europas auf allerlei noch mit früheren Szenarien geschmückte Freiflächen, an denen das aufmerksame Auge des Publikums haftet – in trauter Eintracht mit ihren Herausforderern, die Untergang gegen Untergang setzen.

Man kennt das Verfahren aus früheren Krisen – kein Wunder, dass der eine oder andere Empörung atmende Bürger das Wort schon nicht mehr schreiben, geschweige denn buchstabieren kann. Wie denn auch? Ist Europa ein Schiff? Womöglich auf großer Fahrt? Wohin soll’s denn gehen? Ums Eck vermutlich, ans Büdchen, zum Zigarettenholen. Ruhig Blut: hat Europa ein Leck, dann läuft es vielleicht aus, aber auf keinen Fall voll. Und was da herausläuft … wird vielleicht nicht ohne Grund herausgelassen, nicht ohne Grund.

Aber das ist Zukunftsmusik, vorderhand ›kämpfen‹ alle um den Erhalt der Union, als gäbe es dafür eine Extraprämie. Von wem? Vom großen Bruder? Mag sein. Seine Ratschläge allerdings sind teuer, man muss sie sich leisten können. Nach der nächsten Wahl könnten sie noch teurer werden, das lässt manche TTIP-Herzchen heimlich erschauern.

EU-Europa, die kleineuropäische Lösung, ist in der Wirklichkeit angekommen. Was auf ewiges Wachstum angelegt war, auf Öffnung, Liberalisierung, Befreiung, Befriedung, Beglückung und Bewirtschaftung naher und ferner Regionen, stößt, wohin es auch blickt, an seine Grenzen. Und das ist wenig gesagt: Europa wäre nicht Europa, wenn es ›die Grenze‹ bei dieser Gelegenheit nicht neu erfände. Insbesondere die Tatsache, dass jede Grenze zwei Seiten hat, stürzt seine Regierungen in tiefes Nachdenken und manche von ihnen tiefer herab, als jedes Nachdenken es vermöchte.

Die einen ziehen Zäune, die anderen ihre Grenzkräfte ab: ein Erfahrungsrausch, in dem Räume neu erkundet, Besitzstände, innere und äußere, neu vermessen, ganz neue Bemessungsgrundlagen erarbeitet und Bewertungskriterien neu geschaffen werden, dass den Bevölkerungen Hören und Sehen vergeht, wenigstens diese beiden, denn das Denken wurde schon früher unter Mundschutz gestellt. Der deutsche Standpunkt, so ehrenwert wie ehrenhalber, sieht Grenzen nur außerhalb des eigenen Staatsgebiets vor: Andere mögen Grenzen haben, wir helfen ihnen, sie ein bisschen zu schützen (sofern sie uns helfen, sie vergessen zu machen). Schon das trifft auf herbe Kritik seitens unterbezahlter und von Entlassung bedrohter Weltbürger, die sich ihren Frust von der Seele schreiben, weil sie sie anders nicht zu Gesicht bekommen. Das kleine Österreich, als europäische Durchreiche in der Pflicht, verwechselt seit längerem ›Zaun‹ und ›Zorn‹ – wäre sein Englisch besser, könnte das nicht passieren.

Das bessere Englisch: Wer neidete es denen nicht, die es, inner- wie außerhalb der EU, im Munde führen? An ihm verlaufen sich die weltweiten Migrationsströme, als ballten sie sich andernorts nicht zu gebieterischer Höhe. Bei den Geldströmen kehrt sich das um. Es hat keinen Zweck, die zu kritisieren, die die Sprache aller gepachtet haben, gleichgültig, ob natural oder digital. Europa besitzt keine gemeinsame Sprache, es besitzt keine gemeinsame Denkweise, es besitzt keine Definitionsmacht, nach innen so wenig wie nach außen. Es kennt nur Mächte, Mythen – und Werte, soll heißen, es muss sich fallweise einigen, während andere längst handeln.

Das ist kein Defizit, das sich beheben ließ, sondern die conditio sine qua non eines jeden Gemeineuropa, das seinen Namen verdient – alles andere wäre ›Imperium‹. Europa ist, was es ist. Jene phantasmagorische Politik, die auf die große Erzählung vom finalen europäischen Zusammenschluss setzt – mehr, weiter, einiger, reicher, mächtiger, souveräner – frisst ihre Bürger, immerhin die einzige nachwachsende Ressource, die ihr zur Verfügung steht, wenn man vom Geld der EZB einmal absieht. Der entscheidende Fehler: Sie muss geglaubt werden. Es glaubt aber niemand mehr an sie, am wenigsten ihre Protagonisten. Europas ›Populisten‹ mögen sein, was sie wollen – und sie sind mancherlei –, vor allem sind sie enttäuschte Gläubige. Die Enttäuschung reicht tief, der alte Negativismus Europas, das dialektische Erbe, das Europa groß gemacht hat, rumort in ihr und verleiht ihr jene Legitimität, die man ihr dort gern abspricht, wo man das Hochwasser bevorzugt mit Rührbesen schlägt.

Die große Erzählung… Wäre sie noch so groß, hätte man sie im Westen nicht nach 1991 noch einmal notdürftig aufgefrischt, um die ›Osterweiterung‹ moralisch und machtpolitisch zu legitimieren, während die Beitrittsländer mit halbem Ohr dem Weihnachtsmann lauschten und dabei an all die glänzenden Spielsachen dachten, die sie, nicht ganz zu Unrecht, in seinem Sack vermuteten? An Ungarns Gulaschkommunismus jedenfalls, um dieses Beispiel herauszugreifen, wurde bereits das Sowjetsystem der Breschnew-Ära zuschanden. Und Polen… Nein, nicht Polen. Heute rührt Polen an den Nerv dessen, was EU-Europa, bei aller maskenhaften Heuchelei, stets sein wollte. Polen ist tiefstes Europa – was immer das für die Zukunft noch heißen mag. Das flachste Europa hingegen – wo soll man es suchen? Wer weit geht, geht meist in die Irre.