von Ulrich Siebgeber
Es lag mir fern, der Sensibilität meiner Mitmenschen in Sachen Klimawandel zu nahe zu treten, so wie es mir ganz allgemein schwerfällt, Menschen nahezutreten, vor allem zu nahe zu treten, zum Beispiel um ihren Mundgeruch nicht zu verpassen. Dem Klimawandel kann man nicht nahetreten, darin liegt bereits das Problem. Wie das Klima sich wandelt, so wandeln sich auch die Theorien. Klimatheorie – falls der Singular hier gestattet ist – bildet da keine Ausnahme. Dabei bildet sie ungemein, sofern man sich als Klima-Laie nicht scheut, in Abgründe zu blicken.
Sie bildet ungemein, sage ich, da man dabei zwei Tendenzen am Werk sieht, die einander in der Regel strikt widersprechen. Genau das tun sie auch hier: Während die Forschung weitergeht, das heißt, neue und genauere Messdaten an allen möglichen Fronten einfährt und entsprechende Mikrokorrekturen am Theoriebestand vornimmt, die hin und wieder auch den Prognose-, genauer: Projektionsbereich tangieren, steht hoch und hehr und fest als neue Wacht am Rhein das CO2-Dogma, die Lehre von der menschengemachten Erderwärmung, als kontrolliere hier eigenhändig der Erzengel mit dem Schwert die Ausgänge, jeden mit Argusaugen empfangend, der sich ihm in unsauberer Absicht nähert oder zu nähern scheint, denn der Schein gilt in diesen Gefilden viel. Schon vor Jahren steckte einer der Halbgötter des IPCC nicht mir, aber einer Mitstreiterin im Vertrauen, man müsse den CO2-Komplex mehr als pars pro toto verstehen, also stellvertretend für alle Prozesse, in denen der Mensch irgendwie die Hand im Spiel haben könne. ›Pars pro toto‹ (›Teil fürs Ganze‹) klingt gut, doch Rhetoriker wissen, dass damit als Figur sowohl die Synekdoche als auch die Metonymie gemeint sein kann, je nachdem, ob man mehr Wert auf die stattgefundene Namensauswechslung oder auf die Bedeutungsverschiebung legt, die hintergründig im Gange ist.
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»Der physikalische Mechanismus ist geklärt«: Gemeint ist damit exakt jener atmosphärische CO2-Effekt, den man der Menschheit als ›Treibhauseffekt‹ verkauft. Wie das mit dem Pars-pro-toto-Gedanken zusammengeht, gehört, sagen wir, nicht zum allgemeinen Verkaufsprogramm, aber das war vielleicht auch niemals beabsichtigt. Es soll schließlich Physiker geben, darunter Nobelpreisträger, die von einem atmosphärischen Treibhauseffekt partout nichts wissen wollen. Aber das sind natürlich Laienspieler in einem Stück, in dem gestandene Spezialisten wie du und ich, die wir im Spiegel zu Hause sind und gelegentlich auf Facebook surfen, uns zu den Hauptakteuren zählen dürfen, weil man unbedingt auf unseren Applaus zählt.
Nibelungentreue ist angesagt. Das geht in Ordnung, insofern auch der Mythos, und speziell dieser, voller Ambivalenzen steckt: Etwa wenn Wotan, Hüter des Rechts, sich nicht scheut, dasselbe zu beugen, bis es am Boden schleift, sobald es sich darum handelt, das zu Anti Aging-Zwecken dringend benötigte Asenweib aus der Hand der Riesen zu ›befreien‹, die doch auf nichts weiter bestehen als auf dem Recht, dem heiligen Recht, dem verbrieften Recht, in dem alle ihre Ansprüche geregelt sind. (Es scheint fast, als treibe nicht zuletzt dieser Aspekt einen Teil unserer Politprominenz immer aufs Neue auf den Grünen Hügel, aber das berührt sich nur peripher mit dem Thema Erderwärmung und kann daher hier unerörtert bleiben.)
Dem Mathematiker- und Juristenvolk, das über seinen Examina sitzt und büffelt, bis ihm die Formeln und Paragraphen zu den Ohren herauskommen, bleibt dieses Eiland des exakten Denkens naturgemäß eher verschlossen, speziell die Juristen müssten sich fragen, warum in den Gefängnissen keine Gegengerichte installiert sind, welche die Verurteilten postwendend zur Freiheit verurteilen, da es keinen zureichenden Grund geben kann, die Dinge nicht auch andersherum zu betrachten, pars pro toto eben oder, mit einem meiner Lieblingsautoren:
Es geht auch anders,
doch so geht es auch.
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Apropos: Literaturwissenschaftler arbeiten so, sie wissen um die Polyvalenz der Prozesse und wenn einer das Wort ›Natur‹ ausspricht, spitzen sie die Ohren, denn natürlich ist sie die natura naturans und natura naturata, die Mutter aller Geheimnisse, der offenbaren und der nicht offenbaren, und das schiere Gegenteil auch. Zum Glück besitzen Literaturwissenschaftler eine angeborene Scheu vor mathematischen Formeln und halten Computer für Konverter, die lauter Nullen und Einser in etwas verwandeln, was sowohl von Nullen als auch von Einserkandidaten gelesen werden kann, selbst wenn der Sinn vorerst dunkel bleibt. Nicht auszudenken, was passierte, würde der Olymp der Klimatheorie von flüchtenden Germanisten, Anglisten, Romanisten, Slawist*innen (!), Arabistinnen, Sinologinnen und vergleichbarem Volk gestürmt, denen es auf dem Boden ihrer angestammten Fächer langsam zu heiß würde. Nichts vermutlich, außer dass der eine oder andere Stuhl zu Bruch ginge, denn Verteilungskämpfe pflegen auch in die Wissenschaft einen Hauch von Realatmosphäre zu zaubern.
Es gab eine Zeit (die nun vergangen ist), da interessierte mich dieses Bordell vornehmlich der Freier wegen, die leer ausgegangen waren und auf dem Nachhauseweg in begreiflichem Zorn das eine oder andere Telefonhäuschen demolierten. Wie habe ich zum Beispiel gelacht, als man mir die Geschichte des Doktoranden X erzählte, der bei der Auswertung der Computerverfahren, mit deren Hilfe von Jahr zu Jahr der Stand der globalen Erwärmung berechnet und in das Klima-Standardmodell eingefügt wird, herausfand, dass die statistische Unbestimmtheit der ermittelten Werte durchgehend höher zu veranschlagen war als der jahraus jahrein in die Welt posaunte Anstieg der Welt-Durchschnittstemperatur, eines so extrem künstlichen Wertes, dass nicht wenige Forscher seine Tauglichkeit zu irgendeinem vernünftigen Zweck bezweifeln. Dabei war die Geschichte im Grunde traurig, denn sie entließ aus sich eine andere, in welcher der eben noch hoffnungsvolle Kandidat von Fakultät zu Fakultät wanderte, um ›irgendwie‹ doch noch seinen Abschluss zu erhalten. Den Vogel anlässlich dieses Valse triste scheint ein Gutachter abgeschossen zu haben, der (sinngemäß) schrieb, bei ihm gäbe es nur Forschungsergebnisse, die sich im Rahmen der offiziellen Politik der Bundesregierung hielten.
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Das ist Chuzpe. Leider wird viel zu wenig davon in der Öffentlichkeit bekannt. Als die ersten Stimmen laut wurden, die darauf hinwiesen, dass Langzeitstatistiken den Verdacht nahelegen, eher folge der CO2-Anstieg im Großen und Ganzen dem globalen Temperaturanstieg, als dass er ihm, wie von der Theorie verlangt, vorangehe, dass daher die gesamte Kausalität noch einmal überdacht und womöglich vom Kopf auf die Füße, das heißt von einem statistisch gewonnenen Modell auf reale Ursachenforschung gestellt werden müsse, war viel von wissenschaftlicher Ignoranz und finsteren Machenschaften der Ölindustrie die Rede, denn Windmühlenflügel leben bekanntlich von Luft. Immer wenn sich herausstellt, dass irgendwo Rohdaten nachgebessert, Messpunkte manipuliert, Trenddifferenzen zwischen verschiedenen Messmethoden verschwiegen oder auf Nachfrage geleugnet wurden, um den Kollegen von der politischen Auswertungsfront die Arbeit zu erleichtern, heißt es alsbald, die Manipulationen seien nur marginal und tangierten die Botschaft nicht. Lehrer, die Unterrichtsstoff für die Klasse aufbereiten, von dem sie wissen, er ist zu diffizil, um damit brauchbare Ergebnisse im Unterricht zu erzielen, kennen das Problem. Als ein Schwarm gestohlener Emails dem staunenden Publikum textnah vor Augen führte, mit welchen Mitteln Meinungsführerschaft in der Veröffentlichungspraxis exakter Wissenschaft ›erstritten‹ wird, setzte sich nach kurzem Schockzustand die Lesart durch, das sei eben Wissenschaftlerjargon und habe, abgesehen davon, dass ihn sowieso kein Außenstehender verstünde, nichts zu bedeuten.
Letzteres möchte gerne glauben, wer in dem Wissenschaftsglauben großgezogen wurde, der einen Noam Chomsky, Großvater aller amerikanischen Staats-Verschwörungstheorien, die emsigen 9/11-Zweifler, die immer noch nach den wahren Urhebern des Zwillingsdesasters fahnden, mit dem überraschend idealistischen Argument abblitzen ließ, richtige Wissenschaftler hätten doch längst publiziert, was damals wirklich passierte: Wenn da etwas ist, das gefunden werden kann, dann wird einer es finden und an die große Glocke hängen: so funktioniert die Scientific Community. Das wirft die Frage auf, wie viele Wissenschaftler an Forschungseinrichtungen ihrem Beruf nachgehen und wie viele ihm (sagen wir: in gemessenem Abstand) hinterherzuckeln.
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Es ist heiß heute, gewiss, da lässt man heiße Eisen gern ruhen. Ein solches heißes Eisen scheint auch die Sonne zu sein, genauer das, was Astrophysiker als ›Sonnenaktivität‹ bezeichnen. »Die Sonnenaktivität ist verantwortlich für Ereignisse des Weltraumwetters und wirkt sich direkt auf Satelliten, aber auch auf technische Einrichtungen auf der Erde aus. Sie beeinflusst darüber hinaus das interplanetare Magnetfeld, das Erdmagnetfeld, die Ionosphäre und damit die Ausbreitung der Radiowellen und die Polarlichter«, heißt es im Handbuch der Ignoranten, der Wikipedia für alle. Seit eine Schule darauf dringt, den zyklischen Anteil der Sonne am Erdklima gegenüber dem CO2-Modell deutlicher zu gewichten, bekommen die Haudegen der institutionennahen Berichterstattung wieder stärker zu tun. Schließlich geht es nicht allein um die Rettung des Weltklimas, die berühmten zwei Grad, die Deutschland mit der Abschaltung seiner Atom- und Kohlekraftwerke, manche sagen, seiner sicheren Energieversorgung, anpeilt, sondern um die Rettung des furchteinflößenden Pfeils, dem sich irgendwann doch noch der bereits totgesagte Hockeyschläger entringt, mit dessen Hilfe der besorgte Al Gore sich damals einen Nobelpreis er- … wedelte und dessen Annahme von seinen Verehrern, wenn das Wetter es gerade nicht hergibt, wütend in Abrede gestellt wird. Denn machen wir uns nichts vor: Letztendlich bietet allein der Hockeyschläger die Gewähr dafür, dass das menschengemachte Elend der Welt eines Tages alle Skalen durchschlägt und eintritt, wofür die Filmbranche streitet, seit Francis Ford Coppola einst, wenngleich auf anderer Fährte unterwegs, die Sache auf den Begriff brachte: Apocalypse Now.
Was zum Beispiel nützt eine brandneue Theorie, wenn sie darauf hinausläuft, dass die Bandbreite der erwartbaren planetarischen Klimaschwankungen sich Pi mal Daumen innerhalb der ›angestrebten‹ Zwei-Grad-Marge halten dürfte, und dies allein aus physikalischen (für Politikerohren: innerphysikalischen) Gründen? Nicht viel, falls das Füllhorn aus Steuergeldern, gefüllt in der Absicht, das Gewicht ganzer Volkswirtschaften in die Waagschale zu werfen, um das Äußerste zu verhindern, sich bereits so tief neigt, dass kein Halten mehr ist, weil allzu zu viele Hände sich danach strecken, ihren legitimen Anteil am großen Reibach in Empfang zu nehmen.
Also: Weg mit ihr. Besser: Halten wir die Maske vor, bis sie vom Tisch ist.
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Das Obszöne: Wer immer sich heute, soll heißen: seit Jahr und Tag, öffentlich nach dem Stand der innerwissenschaftlichen Diskussionen erkundigt, wer verlangt, dass Modelle und Gegenmodelle von ernsthaften Leuten gegeneinander abgewogen und mit all ihren Implikationen coram publico erläutert werden, wer wissen will, wie die ausgegebenen Forschungsmittel sich auf die verschiedenen ›Schulen‹ verteilen, wer das Wort ›Fairness‹ hinschreibt, weil er einmal gelernt hat, welch’ feine Sache das sein kann, auch wenn man gerade nicht Fußballweltmeister geworden ist und kein Rassismus-Problem mit sich herumträgt, kurz, wer in diesem Spiel, von dem er zugegebenermaßen außer ein paar Logikregeln und allgemeiner Menschen- und Institutionenkenntnis nicht viel versteht, kein Glaubensbekenntnis abzulegen bereit ist, der bekommt, um es leger auszudrücken, eins auf die Mütze und gilt als Apostat oder Anachoret oder beides. Darüber hinaus bekommt er Leseverbot für bestimmte Seiten im Netz nach dem Motto: Schämst du dich noch nicht?
Spiel nicht mit den Schmuddelkindern
sing’ nicht ihre Lieder.
Geh doch in die Oberstadt,
mach’s wie deine Brüder
Bleibt die Frage: Gehen Theorien weg?
Wohin gehen Theorien, die keiner mag?
Sommerstroh, gedroschen, geschüttelt und – leicht – gerührt
Zitate: Bert Brecht, Franz Josef Degenhardt