Einfach mal die Fresse halten. Man liest die Aufforderung verschiedentlich in den sozialen Netzen, es mag sein, dass immer derselbe Kopf – oder dieselbe ungehaltene Fresse – dahintersteckt, auszuschließen ist das nicht, genauso wenig, dass viele, durch Anonymität geschützt, wie sie meinen, sich des Ausdrucks als Redefigur bedienen, um ihrer Weltsicht eine Gasse zu bahnen: wichtig wäre weder das eine noch das andere, denn es zählt der Effekt. Und im Effekt – auch wenn das Getuschel in den hinteren Reihen kein Ende nimmt und manches Drohwort aus der Deckung fliegt –, im Effekt wirkt die Aufforderung, gleichgültig, ob gezischt, gezischelt oder hinausposaunt, je nachdem, ob sich ihr Urheber im Konzertsaal, in der Küche oder im Kindergarten wähnt, obwohl er doch in der schriftkulturellen Öffentlichkeit und damit im Archiv agiert, das uns alle überdauert, es sei denn, die atomare Hölle oder ein Asteroid … etc. Sie wirkt – doch damit ist nicht gesagt, wie sie wirkt, schon gar nicht, dass die Wirkung einheitlich und ›stringent‹, also ›schlüssig‹ ausfallen muss. Wie bei jeder Art von sozialer Wirkung kann sie unterschiedliche Formen annehmen, auch aus- oder abfällige, keine Frage, aber der lähmende Biss der Schlange hinterlässt überall seine Signatur.
Der Biss der Schlange … das Bild liegt als Schatten über der organisierten Willkommenskultur mit ihren Not- und Selbsthelfern, ihren wahren und falschen Patrioten, ihren freundlichen und aggressiven Parolen, dem Enthusiasmus der Vielen, dem Hass der Wenigen und der unorganisierten Ängstlichkeit der Meisten, denen verschwommen ›bewusst ist‹, dass sie aus dieser Sache nicht heil herauskommen werden. »Das Einwanderungsland heißt euch willkommen« – so müsste die Formel lauten, wäre sie lauter gedacht, und so kann sie nicht heißen, denn alles daran klänge falsch. Das ›Einwanderungsland‹ selbst, falls es denn so existiert, es ist nicht ›willkommen‹, jedenfalls nicht im Lande, wie sich, nicht zum ersten Mal, bei dieser Gelegenheit erweist, es bleibt die Elitenfiktion, der die Gutmütigen in gebührendem Abstand folgen, solange sie niemand erschreckt. Ihr antwortet die Gegenfiktion des kulturell homogenen Gemeinwesens, das gegenüber den ›Fremden‹ eine Option frei hat, selbst wenn sie in dritter Generation das Land bevölkern. Das ist hierzulande nicht anders als in den Staaten Europas, die nicht ohne Stolz und zu Recht ihre antifaschistische Vergangenheit unterstreichen, sobald deutsche Belehrungssucht sie wieder einmal heimsucht. Es muss also bedacht werden, gleichgültig, für welche Ziele gerade gekämpft wird. Diese Aufgabe nimmt nicht ab, sie nimmt zu, es wäre sicher gut, sich ihrer anzunehmen, bevor der ›Kampf‹ jeden anderen Gedanken verschlingt.
Einfach mal die Fresse halten. So klingt sie, die Gemeinschaft, hintenherum, während sie vorne strahlt und Blümchen schwenkt, solange die Welt zuschaut und die Kameras klicken. Gemeinschaft strengt an, daher nimmt es nicht wunder, dass die Kräfte des Guten im Laufe der Zeit erlahmen und hässlichen Stimmen Raum geben, die niederzuzischen ebenso kraftraubend werden kann wie das Lächeln im Dienst an denen, die, da sie nun einmal den Weg zu uns gefunden haben und weiter finden werden, aufgenommen und ›versorgt‹ werden müssen. In den Medien bespöttelt und mit grimmigen Sorgenfalten bedacht, nachdem sie erst ungläubig zur Kenntnis genommen und anschließend frenetisch gefeiert wurde, durchläuft die ›Willkommenskultur‹ den üblichen Kampagnen-Zyklus, dazu bestimmt, die Korken bei all jenen knallen zu lassen, die gerade, medienpolitisch gesehen, am Drücker sind. Frenetisch? Nun ja, jede Sprachregelung erzeugt ein frenetisches Verhältnis zur Sache, darin besteht schließlich das von geprüften Mitbürgern als Unwesen empfundene Wesen von Gemeinschaft, jedenfalls dort, wo sie der Gesellschaft, die nolens volens jeden, gleich welcher Herkunft und Überzeugung, umfasst, aufs Auge gedrückt oder ›substituiert‹ wird. In den Zentren der Moderne ist Gemeinschaft ein Konstrukt, das bei vielen Leuten Empfindungen auslöst, sich mithin auf dem Wege der Rezeption selbst vervollständigt: ›positiv‹ und warmen Herzens getragen von den einen, ›negativ‹ und ablehnend konnotiert von den anderen, die sich rasch in einer Art Zwangsverhaftung wiederfinden, aus der auszubrechen als gefährlich empfunden wird. Und für den einen oder anderen, dessen berufliche Reputation an diesen Dingen hängt, kann es auch wirklich gefährlich werden: heute, zu dieser Zeit, danach mag er wieder denken und sagen, was er für richtig hält.