Die Sache mit dem Erstgeburtsrecht bedarf insofern einer Erklärung, als es mittlerweile öfter in Anspruch genommen wird als in all den Jahren, in denen extremistische Brandstiftung, falls sie nicht von linken Chaoten zu Aufklärungszwecken geübt wurde, praktisch automatisch den Kreis der notorisch Verdächtigen ins Zentrum der Ermittlungen rückte: Zukurzgekommene vom rechten Rand, die anstelle der Linsensuppe den Topf in ihre Gewalt bringen wollten. Das hat sich geändert. Heute wird es, gelegentlich durch Gebrüll unterbrochen, in öffentlicher Rede unter Berufung auf jenes fast vergessene Buch und die aus ihm hervorgegangene jüdisch-christliche Tradition reklamiert – was nachdenklich stimmen sollte, da letztere in den Jahren nach der Wiedergewinnung der Einheit als ›unverrückbares Fundament unserer Werteordnung‹ in der Sprüche-Sammlung noch des hintersten Provinzpolitikers einen festen Platz beanspruchen durfte.
Alles vergessen! Wer damals, gewiss etwas vorlaut, meinte, griechische Philosophie und römisches Recht hätten doch auch das ihre dazugetan, dass wir wurden, was wir sind, und sollten nicht einfach unter den Teppich einer neuerdings zur Staatsraison erhobenen Frömmigkeitskultur gekehrt werden, der darf sich ungläubig die Augen reiben und den Schweinsgalopp in der Gegenrichtung begaffen: seit die viel gescholtene Dresdner Montagsbewegung, so oder so, für Bewusstsein sorgt, kann die bloße Erwähnung des Ausdrucks ›jüdisch-christliches Herkommen‹ selbst in privaten Kreisen ein Schweigen auf die anwesenden Häupter herabsenken, gegen das ein Trappistenkloster... Nanana. Ganz recht, im Land, das sich verordnet hat, nie wieder, gleich aus welchem Anlass, zu schweigen, erhebt sich auch an dieser Stelle ein ordentliches öffentliches Geschrei. Anders als die Trompeten von Jericho scheint es dazu bestimmt, imaginäre, aber darum nicht weniger wirksame Mauern aufzurichten, am besten bewehrt mit Stacheldraht und von scharfen Hunden umkreist, die es bekanntlich überall zu kaufen gibt, wo dem Klatsch die Käufer ausgehen. Warum so unfrei? Nehmen wir an, es hat viele Gründe, ehrenwerte und weniger ehrenwerte.
Das Erstgeburtsrecht ist ein altes Recht, das heute archaisch anmutet, auch wenn wir sicher sein können, dass es zu seiner Zeit als chic und modern galt, da es eine alte Clanfrage nachhaltig löste: Wer hat das Sagen? Familien, in denen es Macht (und Reichtum) zu verteilen gibt, sehen schnell alt aus, falls es ihnen nicht gelingt, an irgendeiner Stelle ein Zipfelchen des alten Erstlingsprivilegs zu erhalten. Was nach innen gilt, das wirkt nach außen. Bekanntlich hat, wer nicht irgendwo im Staat mitbestimmt, in seinen Kreisen wenig zu melden, vor allem dann, wenn es sich um vornehme Kreise handelt und nicht um einfaches Lumpenpack, dem die Regeln, nach denen gespielt wird, am A… vorbeigehen.
Das Erstlingsprivileg, generationsübergreifend betrachtet, ist das vornehme Recht, Kinder in die Welt zu setzen und dafür zu sorgen, dass sie in ihr den Platz einnehmen, der ihnen nach Maßgabe meiner Macht gebührt. Die gern beäugten USA, die neben dem massenwirksamen Mythos des amerikanischen Traums über einen subtil gesicherten aristokratischen Zug verfügen, schaufeln den alten Eliten, die der Ausdruck ›WASPs‹ eher mühsam, eher zudeckend umschreibt, von Generation zu Generation, wenngleich mit abnehmendem Erfolg, eine Überzahl der entscheidenden Posten und Positionen zu. Wer die zweifache Bedeutung von Gesellschaft nicht kennt und auf diesem Klavier nicht zu spielen versteht, der hat nicht gelebt. Familien sind der zäheste Stoff der Geschichte. Wer sie auszurotten unternimmt, der rottet die Menschen aus – eine unappetitliche, bislang in Teilen erfolgreiche, aber aufs Ganze gesehen vergebliche Praxis. Das informelle Geflecht wird daher gern bemüht, wenn Politologen und Parteistrategen die Stabilität und Kontinuität von Staaten, also von Großorganisationen erläutern sollen, die – jedenfalls in der Regel – sich ihre Regeln selbst geben und idealiter auch über deren Einhaltung wachen. ›Die alten Eliten‹ – der Ausdruck klingt so beruhigend wie das Lied vom Weihnachtsmann, der alle Jahre wieder die Bilanzen in Ordnung bringt und ein Strahlen auf die Gesichter zaubert. Wer immer, mit welchem Griffel, Geschichte zu schreiben unternimmt, greift gern auf das lange Gedächtnis von Leuten zurück, die ›schon da‹ waren, als das alles begann.
Kein Staat ohne Privilegien, ohne Privilegien kein Staat.
Man kann, man darf das vielleicht gut finden, vor allem, sofern man von Haus aus mit einer gewissen konservativen Grundverfassung geschlagen ist oder wenn, bei fortschreitendem Alter, die Sorge um den Fortbestand des Gemeinwesens wächst. Andere, unter- wie überprivilegiert, finden es weniger gut, vielleicht, weil sie das, was sie vorfinden, nicht für so schrecklich eindrucksvoll halten oder weil ihnen der passende Geschichts-Sinn abgeht oder weil die unablässig fordernde Idee der Gerechtigkeit sie ins Lager der Progressiven (und dort in den Selbstwiderspruch) vertreibt. Man sollte ihren Fall nicht mit dem Sonderfall verwechseln, dass die politische Elite eines Landes sich als Gegen-Elite begreift, die zwar, wie jede Elite, auch vom Herkommen lebt, aber ihre Leistung hauptsächlich daran misst, in welchem Ausmaß ihr gelingt, es stetig zu eliminieren. Um diese Einstellung auszubilden, bedarf es keiner ›Visionen‹, schon gar keiner linken, es bedarf auch nicht des auf praktische Veränderungen drängenden gesunden Menschenverstandes, es bedarf überhaupt keiner positiven Überzeugung, für die zu kämpfen sich lohnte, es bedarf nur einer unter dem Einfluss mächtiger Interessengruppen beliebig fortzuschreibenden Reform-Agenda, gleich welchen Inhalts, vorausgesetzt, man hat sich nun einmal auf diese Art von Politik als einzig denkbare festgelegt und führt sie durch, komme, was da komme, so oder so.
Früher oder später allerdings kommt der Zeitpunkt, zu dem, wer so tickt, sich von den Interessen der Bevölkerung emanzipiert und die Entscheidungsfreiheit der vom Volk gewählten Instanzen, ohne die keine Politik bestehen kann, in eine Dauerbevormundung der Repräsentierten umschlägt. Es ist die Geburtsstunde des unseligen ›Populismus‹-Vorwurfs an die Adresse aller Abtrünnigen, die daran zu erinnern wagen, welche ›Projekte‹ gegen den expliziten oder im demoskopischen Niemandsland verkümmerten Mehrheitswillen des populus beschlossen und durchgezogen werden, koste es, was es wolle – nicht zuletzt die, deren Widerworte dabei keinen Pfifferling wert zu sein pflegen. Kein Zweifel, der billige Populismus der demagogischen Zurichtung, der Schwarzweißmalerei, der falschen und schiefen Alternativen zählt zu den traditionellen Mitteln des Stimmenfangs und der Herrschaftssicherung: am Pranger steht dabei immer der politische Gegner. Kein Zweifel aber auch, dass der erwachsene Populismus, der sich nicht scheut, ›Volkes Stimme‹ dort zu Gehör zu bringen, wo dessen Repräsentanten dazu übergegangen sind, sich, nach dem Brecht-Wort, ein anderes Volk zu wählen, einem genuinen Recht der Regierten Nachdruck verleiht – dem Recht auf politischen Ausdruck dessen, wovon es bewegt wird und was es für sich erwartet. Das hitzige Argument, dergleichen nähmen ohnehin nur Aussätzige politischer oder halb krimineller Couleur für sich und ihre Anhängerschaft in Anspruch, lässt tiefer blicken als manche auf Dienstreise geleerte Champagnerflasche. In seinem Licht erscheint die eine oder andere etablierte Kraft als Gefangene einer Hybris, die von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes weder vorgedacht noch im voraus gebilligt wurde. Wie jede Hybris klebt auch sie nicht am aktuellen Argument und am gegebenen Fall. Er macht sie nur evident. Abhilfe? Ein wenig rechtschaffener ›Populismus‹ hier und da, eine kleine, dem Zuhören geschuldete Kurskorrektur ... sie sind in die Dauer verliebt, die werten Eliten.