Ulrich Siebgeber - ©LG
Ulrich Siebgeber
Vergessen hilft. Aber nicht wirklich.
 

 

Siebgebers Kolumne entstand in den späten Jahren der Merkel-Herrschaft, die geprägt wurden durch ein Klima des politischen Konformismus und der Zuspitzung gesellschaftlicher Differenzen nach dem Motto Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich und muss aus der öffentlichen Debatte entfernt, zumindest unsanft an den Rand gedrängt werden. Gleichzeitig wurden politische Entscheidungen getroffen, deren Brisanz für jeden Einsichtigen offenlag und deren verheerende Auswirkungen das Land gegenwärtig nach und nach zu spüren beginnt.
Siebgebers Aufzeichnungen enden am 8. Mai 2020. Zusammengefasst und nach Themen geordnet lassen sie sich nachlesen in dem Buch Macht ohne Souverän. Die Demontage des Bürgers im Gesinnungsstaat, das 2019 erschien und nebenher das Pseudonym, besser, die literarische Maske des Autors aufdeckte. Im Land der Masken wirkt dergleichen Mummenschanz ohnehin wie aus der Zeit gefallen. Was nicht gegen ihn sprechen sollte.
Ulrich Schödlbauer

Ich werfe der zwischen 1950 und 1960 geborenen (westdeutschen) Generation vor, dass sie die deutsche Stimme in der Welt rigoros abgeschaltet hat. In diese Stille hinein ertönen seit Jahren die Worte der Kanzlerin und die zynischen Kommentare ihres gerade entlassenen ›Kassenwarts‹ – mit den bekannten Folgen. Wie das?

Schriftsteller? Unerheblich. Philosophen? Fehlanzeige. Wissenschaftler? Beschränkt aufs Fachpublikum, mit gelegentlichen Ausreißern in die Medien: anämisch. Politische Köpfe? Statur sieht anders aus.

Wie schaltet man eine Stimme ab, die bis dahin so vernehmlich sich zu Wort zu melden wusste, dass sie auch in der Emigration und, in Teilen, bis in die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein eine Kraft entfaltete, die den Folgsamen, dieser Spezies vom Lande, die in diesem Lande seit altersher das Sagen hat, immer abgehen wird? Wer das wüsste, er wäre zu Recht ein Star, selbst wenn ihm nur die akribische Nachzeichnung des Kleinklein-Alltags gelungen wäre, in dem zwanghaft verschwindet, wer etwas zu sagen hätte (und die Potenz, es dann auch zu sagen).

An dieser Stelle wird der eine oder andere einwenden, dass jemand, der wirklich etwas zu sagen hat – und die Fähigkeiten dazu besitzt –, sich durch noch so widrige Zeitumstände nicht abhalten lässt, es auch wirklich zu sagen. Überdies: waren – und sind – die Zeitumstände so widrig? Ist die Öffentlichkeit, ist diese Gesellschaft nicht auf ununterbrochener Talentsuche?

Das ist richtig und bereits Teil des Problems. Intellektuelle Schwergewichte sind keine ›Talente‹, sie vertragen nur minimale Portionen an Talentförderung, eher verschwinden sie von den Schirmen der Förderer, als dass sie sich – wie heißt das Wort? – auf so durchsichtige Weise vereinnahmen lassen. Wer glaubt, unter 80 Millionen die ›vorhandenen‹ Köpfe zu kennen oder ›erfassen‹ zu können, der leidet unter einer schwer zu korrigierenden Wirklichkeitsverzerrung. Um im Medienbetrieb an die Oberfläche zu kommen, um sichtbar zu werden, bedarf es gewisser sozialer Fertigkeiten und Strategien, die in der Regel die Kräfte dessen, der sich auf diesen Weg begibt, aufbrauchen. Es sind, vorsichtig ausgedrückt, nicht unbedingt dieselben, die man mit geistigen Leistungen verbindet. Gesellschaft bedeutet – unter anderem – rigorose Auslese.

Selbst für die derart Ausgelesenen öffnet sich kein begehbarer Weg, sondern – bestenfalls – eine Achterbahn, die zwar hektische ›Erfolgserlebnisse‹ vermittelt, aber ihre Passagiere mit einer gewissen Sicherheit dort wieder abliefert, wo sie aufgelesen wurden. Wer nicht aufgelesen wird, sprich: durch Zufall oder die üblichen Umstände, in die Zone gerät, in der Aufstieg ›machbar‹ ist, kann sich lange abstrampeln und geht, wie seine Schicksalsgenossen, an der Gesellschaft zugrunde, die ihrer nicht bedarf. Er gehört zu den allzu vielen, denen die Welt die kalte Schulter zeigt, und er kann von sich sagen, er habe zuviel gesehen, um ruhig vor sich hinzuleben und sich damit zufriedenzugeben, einer von denen zu sein, denen die Welt nicht gehört und die damit gut zurechtkommen, es sei denn, ein Unfall oder ein kleiner Bankrott fegt sie in die Ecke, wo schon die Kehrichtschaufel wartet.

So sehen die allgemeinen Bedingungen aus, die für jeden gelten, den ein gewisser Sinn für das Allgemeine produktiv werden lässt. Sie lassen sich nicht in den geographischen und geistigen Umriss dieses Landes zwängen und sind also auch nicht – oder nur begrenzt – für seine geistige Leere verantwortlich zu machen, in der die Sekundärtugenden des gelenkten Ideenimports und der Dauerumwälzung vergangener Wissens- und Weltkonzepte eine Art Stillstand im Werden bewirken, also die Umkehrung dessen, was Walter Benjamin einst als Dialektik unter widrigen Zeitverhältnissen empfahl. Diese Leere, wie immer man sie betrachtet, ist relativ, sie ist eine oberflächliche Leere, eine leere Oberfläche, unter der es … vielleicht nicht brodelt, aber zuckt und blinkt: die Intelligenz der Menschen lässt sich nicht so leicht durch die Verhältnisse abschalten, allenfalls – in einem allerdings beträchtlichen Umfang – umlenken auf Gebiete, auf denen sie, politisch gesehen, keinen Schaden anrichten kann, es sei denn, sie gerät außer Rand und Band. So kommt es, dass die Urteile von – in der Regel auf eigenem Gebiet hochspezialisierten – Laien das Gehampel und Gekasper der erlesenen Vordenker einer sakrosankten, von sich selbst bis an die Grenzen der Blindheit eingenommenen Öffentlichkeit allzu oft an den Rand der Wahrnehmung verweisen: Wer gibt sich denn mit so etwas ab? Eine berechtigte Frage, die allerdings, vielleicht nicht von ungefähr, an Hölderlins Klage erinnert: »Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstükkelt untereinander liegen, indessen das vergossne Lebensblut im Sande zerrinnt?«

Hölderlin – respektive seine Romanfigur Hyperion – schrieb unter den Bedingungen einer zwischen Arbeit und Politik gespaltenen Nation, also am Gegenpol einer hochgradig politisierten Gesellschaft wie der heutigen. Daher erhebt sich die Frage – ein wunderbarer Ausdruck: sie erhebt sich aus dem Staub der Geschichten und verlangt Auskunft –, was denn die eine Gesellschaft mit der anderen, der eine Zustand der Nation mit dem anderen (vorausgesetzt, es handelt sich nach wie vor um dieselbe) gemein hat, gemein haben könnte, denn faktische Gewissheit ist hier kaum zu erreichen – offenbar irgendeine Blockade, die verhindert, dass Menschen sich zeigen und sichtbar werden, ohne dass dieser ›Job‹ gerade das an ihnen aufzehrte, was ihre Sichtbarkeit rechtfertigten könnte: jenes geradlinige den-Sachen-zugewandt-Sein, aus dem ein Ansehen resultiert, das geeignet ist, die Grenzen der üblichen Vermarktung zu überspringen.

Hyperions Antwort war einfach: es ist das über die Republik der Freien verhängte Tabu, die politisch erzwungene Leugnung des wahren Natur des Menschen auf allen Ebenen gesellschaftlicher Tätigkeit, die jene Zerstückelung bewirkt und dem Menschen just das vorenthält, worin er sich finden könnte: den Anblick ›wirklicher‹ Menschen – wie immer man deren Wirklichsein und Wirksamkeit deuten möchte. Die Antwort 2017 fällt demgegenüber verwickelter und spröder aus. Seltsamerweise scheint das Politisierungsdiktat, unter dem die ostdeutsche Öffentlichkeit seit Anbeginn aus Gründen der Staatsdoktrin, die westdeutsche seit ’68 aus ideologischen Anpassungsgründen an den einst studentischen Zeit- und Weltgeist, anders als von Hölderlin erhofft, das Seine zur Verflachung und Zerstückelung öffentlicher Profile beigetragen zu haben. Selbst der Untergang der DDR hat jene Charaktere nicht hervortreten lassen, in deren Wirken ein Land nicht bloß sich selbst erkennt – dazu bedarf es nicht viel –, sondern vor der Weltöffentlichkeit kulturelles Kapital sammelt oder wie die brauchbaren Ausdrücke lauten mögen.

Es mag sein, dass die Bundesrepublik des Jahres 2017 in höherem Grade Bürgerrepublik ist als die des Jahres 1967. Es mag sein … der Hochmut der damals jungen, heute jenseits der Pensionsgrenze operierenden Akteure verklärt zur Gewissheit, was von Historikern energischer als bisher ›hinterfragt‹ werden sollte. Sicher ist, dass die auf die sogenannten Achtundsechziger folgenden Jahrgänge praktisch profillos aufs Altenteil gelangten und gelangen, getragen von dem unerklärlichen Wunsch, den wie die Senatoren des alten Rom vor ihnen einherwandelnden Matadoren der Welterklärung gefügig zu sein und kein Krümelchen der Vorurteile verlorengehen zu lassen, die damals leidenschaftlich bis achtlos über die Bühne verstreut wurden, um daraus – was wohl? – soziales Kapital zu schlagen. Denn was immer an (sich selbst als gut deklarierender) Gesinnung gegenwärtig in Redaktionsstuben verheizt, auf Parteitagen monomanisch beklatscht und als stereotypes Gerede an Stammtischen und in politiknahen Forschungsprojekten abgesondert und absorbiert wird – Emanzipation (wovon?), Europa (mit welchem Ziel?), Eine-Welt-Politik (Dekolonisation, auf Dauer, das heißt auf Rekolonisation gestellt), Umwelt (mit welchen Prämissen?) –, basiert auf Vorurteilen, auf Voreingenommenheiten, auf mehr oder weniger ungeprüft übernommenem Gedankengut aus der Entstehungszeit dessen, was einmal ›permissive Gesellschaft‹ genannt wurde, es sei denn, es hat, mehr oder weniger listig, seinen Weg aus den Propagandaküchen des Honecker-Staates in die gemeindeutsche Gegenwart gefunden.

Bereitwillig haben Achtundsechziger, anders als die DDR-verlinkte Linke, einst die geistige – nur eingeschränkt moralische – Verantwortung für RAF und grüne Politik, vor allem in ihren links-ideologischen Komponenten, übernommen. Sie konnten dies vergleichsweise unbeschwert tun, weil ihr ursprünglicher diffuser und bisweilen konfuser Neomarxismus nicht besonders weit trug und sie zu lebenslangem Lernen nötigte, sprich: zur sukzessiven Aneignung von Positionen und Denkmustern ihrer weitgehend kritischen bis skeptischen Vorgänger. Die Liste dieser Vordenker ist lang, sie reicht vom immer noch rüstigen Habermas über die teuren Toten Gadamer und Luhmann hin zu den französischen Nietzsche- und Heidegger-Adepten Foucault und Derrida, ganz abgesehen vom unverwüstlichen Führer-Apologeten Carl Schmitt, der weiter in den Diskursen spukt und gelegentlich hustet. Diese unendliche Lern-Geschichte hat das stets behauptete und bis zur Karikatur getriebene Linksssein beträchtlich gedehnt und gestreckt, so dass irgendwann nur noch eine leere Hülle übrigblieb, in der heute der auf Reflexautomatismus gestellte ›Kampf gegen Rechts‹ sich seine kommenden Feinde erzieht.

Es sind diese neuen Rechten, zusammen mit an den rechten Rand gedrängten, sich selbst keineswegs rechts verortenden Intellektuellen und ›Bürgern‹ – oft mit ›linker‹ Biographie –, die den geistig entleerten Mündigkeitstraum inzwischen als Entmündigung der Gesellschaft und als Selbstenthauptung der Öffentlichkeit begreifen: keine ganz ungefährliche Entwicklung, wenn man der Auffassung ist, dass Vernunft und Vernunftgebrauch in der Demokratie ebenso wie in der Gelehrtenrepublik nicht Sache einer Partei sein darf. Verheerend ist diese Entwicklung bereits heute für das Hervortreten neuer Weltbeschreibungen, gleichgültig, auf welchem Terrain, soweit ihre Wahrnehmung die üblichen ideologischen Wachtposten passieren muss. Die verheerte Generation der Vollstrecker, die selbst nichts anderes vorzubringen wusste als ihr gebetsmühlenartig vorgebrachtes »Wir machen das!«, dominiert ihre Schüler und wird von ihnen dominiert. Selig ist, wer an sich selbst zugrunde geht, oder?

 

Aufnahme: © Ulrich Siebgeber