Irgendwann nach 1989 muss es den Journalisten aufgefallen sein, wie leicht es war, die klassische Figur des Nachkriegsintellektuellen vom Sockel zu stoßen. Das geschah selbstredend in der DDR, deren Lebenszeit nur noch kurz bemessen war, aber lang genug, damit sich die gewohnten Wortführer mit Westkontakt noch schnell durch öffentliche Treuebekundungen zu einem geläuterten Sozialismus desavouieren konnten, bevor die Öffnung der Stasi-Akten ihnen für längere Zeit den Mund verschloss. Aber ein Hauptakteur im Westen war sicherlich der frühere Feuilletonchef und spätere Miteigner der FAZ, Frank Schirrmacher, ein Journalist mit der geistigen Physiognomie des verhinderten Intellektuellen, der in seinen Sachbüchern das Gefühl zu verbreiten wusste, das lebenswerte Leben sei just mit ihrem Erscheinen zu Ende gegangen. Schirrmacher pflegte strenges Gericht über die zu halten, denen er nicht das Wasser reichen konnte, das bekam, mit gutem Grund, die eingeschriebene Garde der IMs, allen voran Christa Wolf zu spüren, aber auch Martin Walser nach seiner etwas schwammigen, in den Ohren der versammelten Elite wie eitel Gold klingenden Paulskirchenrede, zusammen mit anderen Verdächtigen und Verdächtigten, ob mit oder ohne guten Grund – falls erforderlich, reichte auch der schlechte.
Schirrmacher mag als Feuilletonchef, wie so mancher seiner Kollegen, einzigartig gewesen sein, sein Verfahren war leicht zu kopieren und ging rasch in Serie: der mehr oder minder seriöse Nachweis unlauterer oder verdächtiger Verbindungen, banale Wortklauberei, Inkrimination von ›Stellen‹, die sich meist auch anders auslegen lassen, forcierte Situationsauslegung, polemische Manipulation von Kontexten – journalistische Alltagspraktiken, zumeist auf Politiker angewandt, die sich zu wehren wissen, aber unschlagbar, sobald man sich die Helden des Geistes mit ihrer Hilfe vorknöpft. Seit den späten Neunzigern kennt die schriftfixierte Öffentlichkeit in Deutschland, von besagtem Schirrmacher abgesehen, nur noch Journalismus und Sloterdijk, eine – allerdings nimmermüde – philosophische Abart desselben, wenn man von gelegentlichen Geburtstagsständchen für Altrecken des Gedankengewerbes absieht. Manche erwähnen bei dieser Gelegenheit Žižek.
Journalisten schreiben Blogs, sie schreiben Sachbücher, Romane, historische Romane, Problemromane, Unterhaltungsromane, sie schreiben Beiträge zur Gegenwartsphilosophie, zur Romantik und ihren Hochglanzfiguren, sie schreiben Standardbiographien, die von der Literaturwissenschaft mit Handkuss übernommen werden, weil sie in der Regel politisch korrekt sind und ihre kleinen und großen Ungenauigkeiten viele Anlässe zu Symposiumsauftritten und kleineren Fachpublikationen bieten, sie sitzen in den Gesprächsrunden der öffentlich-rechtlichen Medien herum und lassen sich von ihresgleichen befragen, manchmal hat man den Eindruck, sie sitzen sich selbst auf dem Schoß und halten miteinander Zwiesprache, weil ihnen ohnehin niemand das Wasser reichen kann. Die wenigen Wissenschaftler, die es in den öffentlichen Raum schaffen, gleichen ihnen in der Regel aufs Haar und wollen nichts anderes, die Mimikry wirkt binnen kurzem auf ihre Fachpublikationen zurück und lässt sie ebenso unumgänglich wie unausstehlich wirken.
Der Journalismus sitzt in der Falle. Das ist nur zum Teil dem Internet und den bröckelnden Leserzahlen der Printmedien geschuldet. Der wichtigere Grund ist wie immer der selbstverschuldete: die Allzuständigkeit blieb nicht unbemerkt und zog sich, lange Zeit mit Verachtung gestraft, ihr Spiegelbild in den sozialen Medien zu. Was der Journalist kann, das kann ich auch – so denkt mancher ehrbare Zeitungsleser nach dem soundsovielten verhauenen Zeitungsartikel, den er zum Überfluss auf seinem eigenen Facebook-›Auftritt‹ verbreitet, und schon ist es geschehen. Im Facebook-Spiegelkabinett gefangen, recherchiert der durchschnittliche Journalist hinter seinesgleichen her und sieht sich von einer Laienschreiberschar gefoppt, die unentwegt tönt: Ik bün schon da. Und sie hat Recht! In der Regel ist sie schon da, sie ist besser – jedenfalls oft genug –, sie ist – in der Regel – besser ausgebildet, in den Sachverhalten beschlagener und ähnelt oft genug einer Rotte detailversessener Fanatiker, denen der Berufsschreiber, auf den der nächste Artikel wartet, wenig entgegenzusetzen hat.
Das Profi-Desaster bleibt nicht auf die Kommentarspalten und das Bloggertum beschränkt: Wer sich anschaut, was die Ich-schreibe-meine-Bücher-selbst-Industrie in puncto Verbreitung und Publikumszuspruch leistet, der spürt die Not des Berufsschreibertums am eigenen Leibe und ahnt eine der Quellen des Hasses, der sich mittlerweile zwischen den Fronten aufgetan hat und im ungezügelten Gebrauch des Vernichtungswortes ›Populismus‹ kulminiert. Längst ist seine politische Dimension nur eine unter mehreren. Sie allein könnte die Lust nicht erklären, mit der sich der Durchschnittsjournalismus seiner bei jeder verkorksten Gelegenheit bedient. Die Heerscharen der Social-media-Schreiber sind der vierte Stand im Feld der Gedankenmacher – nachdem der Journalismus als dritter die beiden ersten, die der Philosophen und Literaten, dekapitiert hat, fürchtet er, nicht zu Unrecht, von ihm überrannt und ›expropriiert‹ zu werden. Am liebsten würde er seinen Vertretern unentwegt zuschreien: Schuster, bleib bei deinen Leisten! Doch das wäre undemokratisch und würde ihn zur Unzeit daran erinnern, dass er der erste war, der gegen diesen hehren Grundsatz verstoßen hat. Das Kind ist in den Brunnen gefallen und keiner da, es herauszuholen.
Oder doch? Ein bisschen staatliche Regulierung der Meinungsfreiheit, einst von allem verachtet, was ›links‹ schrieb, ein bisschen Druck auf die Masse der Unbedarften, noch vor wenigen Jahren ein No-go, der ›elaborierte Code‹, lange Zeit linken Gesellschafts- und Sprachreformern ein Greuel, als verordneter Benimm-Dress für alles, was schreibend sich bewegt, dazu eine Kampfattitüde, die nicht müde wird, im ›Volk‹ die Quelle aller völkischen Übel zu orten – »Das Volk / Ist nicht tümlich« notierte einst Brecht und hatte vermutlich recht –: Man muss sehr verzweifelt und ziemlich naiv sein, um hier einen Ausweg zu orten, und einigermaßen unredlich, ihn zu beschreiten. Der Journalismus ist auf dem Prüfstand, man wird sehen, was aus ihm wird.
Aufnahme: © Ulrich Siebgeber