Ulrich Siebgeber - ©LG
Ulrich Siebgeber
Vergessen hilft. Aber nicht wirklich.
 

 

Siebgebers Kolumne entstand in den späten Jahren der Merkel-Herrschaft, die geprägt wurden durch ein Klima des politischen Konformismus und der Zuspitzung gesellschaftlicher Differenzen nach dem Motto Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich und muss aus der öffentlichen Debatte entfernt, zumindest unsanft an den Rand gedrängt werden. Gleichzeitig wurden politische Entscheidungen getroffen, deren Brisanz für jeden Einsichtigen offenlag und deren verheerende Auswirkungen das Land gegenwärtig nach und nach zu spüren beginnt.
Siebgebers Aufzeichnungen enden am 8. Mai 2020. Zusammengefasst und nach Themen geordnet lassen sie sich nachlesen in dem Buch Macht ohne Souverän. Die Demontage des Bürgers im Gesinnungsstaat, das 2019 erschien und nebenher das Pseudonym, besser, die literarische Maske des Autors aufdeckte. Im Land der Masken wirkt dergleichen Mummenschanz ohnehin wie aus der Zeit gefallen. Was nicht gegen ihn sprechen sollte.
Ulrich Schödlbauer

von Henning Eichberg

Das Wichtigste ist, dass wir ungleich sind.
Denn sonst weiß man ja nicht, wer wer ist.
Klara, 5 Jahre alt, Norwegen

Die jüngsten Wanderungsbewegungen verändern grundlegend unsere dänischen – und die europäischen – Verhältnisse. Vielleicht sind sie epochemachend. Aber die Debatten des Mainstream und der öffentlichen Aufmerksamkeit sind einseitig gerichtet.

 Es dominiert die öffentliche Debatte über Flüchtlingszahlen und Migrationskontrolle. Hier spricht man über Zugangsbegrenzungen, nationale und europäische Grenzzkontrollen, Obergrenzen und EU-Quotenregelungen sowie über das Sortieren zwischen Flüchtlingen (die ein Asylrecht beanspruchen können) und Armutsmigranten (die abgewiesen werden). Ja, es muss wohl Grenzen geben für die Wanderungsbewegungen. Aber diese Begrenzung ist eine Sache staatlicher Verwaltung, die, wenn wir nicht aufpassen, leicht dazu führen kann, dass Menschen auf Zahlen reduziert werden. Themen wie Kontrolle und Begrenzung sind wichtig, aber sie liegen außerhalb von Kultur und Kulturpolitik. Dafür haben sie allerdings eine indirekte Bedeutung, nämlich für die Angstkultur, die sich auf ihrer Grundlage entwickelt, die die bürgerliche Rechte schürt und von der sie in Wahlen profitiert.

Etwas anderes ist der Umgang, den wir auf dänischem Boden entwickeln und gestalten zwischen ›ethnischen Dänen‹ und ›den anderen‹, und zwar in Wechselwirkung. Durch Integration und Inklusion kann verhindert werden, dass sich eine Parallelgesellschaft entwickelt, die durch Isolation Zwist und Gewalt hervorbringen könnte. Die zwischenvolkliche Begegnung auf dänischem Boden ist eine kulturelle Angelegenheit, die Kulturpolitik und Zivilgesellschaft miteinander verbindet. Von diesem Verhältnis hängen der Zusammenhalt und die kulturelle Zukunft unseres Volkes ab.

Bisher haben die Einwanderung und ihre politische und administrative Hantierung sich zu einer sozialen Katastrophe entwickelt. Hier dreht sich eine Spirale der Entfremdung. Angst und Besorgnis in der dänischen Bevölkerung, besonders unter sozial Schwachen, werden nicht ernst genommen, sondern parteitaktisch ausgenutzt durch den Ruf nach Grenzkontrollen und verschärften Regeln für den Aufenthalt in Dänemark. Und man inszeniert eine demonstrative Kultur der Unfreundlichkeit, mit der Dänemark der Welt ein hässliches Bild zeigt: Seht, wir sind nicht freundlich – wir halten Euch draußen vor! Aber die Menschen werden auf beiden Seiten Verlierer, sowohl die Migranten, die verarmen, als auch die ethnischen Dänen, die zornig werden.

Neue Fragen zum Nachdenken

Die Situation fordert uns Sozialisten heraus, zum einen auf der Theorieebene. Wir brauchen eine neue und selbstkritische Nachdenklichkeit und müssen uns unbequeme Fragen stellen.

Welche Bedeutung haben Volk und Ethnizität? Auf der Linken haben wir manchmal die nationale Frage vernachlässigt. Nun stellt sie sich in neuer Form, und wir kommen nicht um die Identitätsfrage herum: Wer sind wir selbst eigentlich? Und wie wollen wir, dass unser Dänemark in Zukunft aussehen soll? Solche Fragen dürfen nicht den Rechtspopulisten überlassen werden, die dafür nichts als die Antwort der Exklusion bereithalten. Sondern wir haben unsere eigenen dänischen Voraussetzungen, um die Identitätsdebatte als eine Zusammenhangsdebatte zu qualifizieren. Dazu gehören der grundtvigsche Volksbegriff, die Solidaritätstradition der Arbeiterbewegung, die Rettung der dänischen Juden während der Nazi-Besatzung, der Begriff des Zwischenvolklichen – und außerdem tragen wir als Sozialistische Volkspartei selbst den Volksbegriff in unserem Namen. (N.F.S. Grundtvig war ein Dichter des 19. Jahrhunderts, der als nationale Gründergestalt Dänemarks gilt. Er saß für die Bauernlinke im ersten dänischen Parlament.)

Welche Bedeutung hat Religion für die Gesellschaft, und welche Rolle sollte Religion spielen? Die Freidenker sind eine wichtige intellektuelle Tradition der Linken, aber man sollte sich nicht dazu verleiten lassen, eigene (alternative) Glaubensvorstellungen zu entwickeln. Ist vielleicht Glaube eine persönliche Angelegenheit des einzelnen – während Religion etwas anderes ist, das uns verbindet? Was ist also Religion in einer sozialistischen und materialistischen Perspektive? Religion kann jedenfalls nicht länger nur als eine Sache der Vergangenheit betrachtet werden. Und was bedeutet es, dass Religion niemals etwas im Singular ist, sondern immer im Plural existiert – was für die christliche Religion ebenso gilt wie für den Islam?

Von einem humanistischen Menschenbild her gesehen stehen bestimmte Rechte – wie zum Beispiel Religionsfreiheit, Frauenrechte und Rechte sexueller Minderheiten – nicht zur Diskussion. Aber: Verschleierung, der Händedruck zwischen Menschen verschiedenen Geschlechts – wo verlaufen die Grenzen? Meinungsfreiheit und Freiheit der Religionskritik, ja – aber wie steht es mit antisemitischen oder antimuslimischen Karikaturen?

Es gibt einen wichtigen Zusammenhang zwischen Klasse und Ethnizität. Dies gilt besonders im Verhältnis zur Entfremdung, die durch die kapitalistische Konkurrenzgesellschaft und ihre hierarchische Klassenaufteilung bewirkt wird. Dennoch ist diejenige Entfremdung, die Migranten erleben, nicht identisch mit derjenigen Entfremdung, die die ethnischen Dänen erleben. Was bedeutet das – nicht zuletzt für den Klassenkampf?

Sprache, Arbeit, Zusammenleben

Auf einer anderen Ebene – obwohl damit zusammenhängend – ist die praktische sozialistische Kulturpolitik herausgefordert. Was bedeutet Integration in Migrationszeiten, insbesondere wenn wir die kulturpolitischen Richtlinien von SF ernstnehmen: Bildung, Zugänglichkeit, Vielfalt, Mitbürgerschaft und kulturelle Qualität?

Die dänische Sprache ist grundlegend für unseren Zusammenhalt als Volk. Und Sprache ist mehr als nur ein Instrument zur Qualifikation der Arbeitskraft: Gemeinsames Sprachverstehen ist eine Voraussetzung für einen gleichen und menschenwürdigen Umgang miteinander. Sprache ist auch mehr als nur Vokabular und Grammatik – das zeigt sich, wenn wir miteinander singen. Singen wir mit Einwanderern in den Sprachschulen des Sozialistischen Volksbildungsverbands (SFOF – der Kultur- und Bildungsverband im Umfeld der Sozialistischen Volkspartei)? Die Venligboer (wörtlich: Freundlich-Bürger, eine Bewegung für die Willkommenskultur in Dänemark) als eine Graswurzelbewegung in der Zivilgesellschaft sind eine wichtige Quelle, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Die dänische Sprache verbreitet sich durch lebendige Wechselwirkung, nicht durch bürokratische Auflagen und Forderungen – und Mehrsprachlichkeit ist ein Gewinn. Was tun wir dafür?

Integration geht an den Arbeitsplätzen vor sich. Das ist sowohl ein Arbeitsmarktsproblem und ein Problem der politischen Ökonomie des Outsourcing, wo Kapitalinteressen die Arbeitsplätze in Niedriglohnbereiche auslagern – als auch eine Frage der Arbeitsplatzkultur. Was heißt das konkret?

Integrationen geschieht nicht zuletzt dort, wo wir wohnen. Wir haben problematische Erfahrungen mit Ghetto-Bauten – und auf der anderen Seite sieht es lichter aus dort, wo man integriert baut wie zum Beispiel in Blangstedgaard (Odense). Blangstedgaard ist eine Reformsiedlung der 1980er Jahre, deren Planung durch Diversifikation der Bauten und Eigentumsformen gezielt auf die soziale Integration ausgerichtet wurde. Dort wohnen heute viele Einwanderer Seite an Seite mit anderen Dänen. Hier liegt unter anderem eine architekturpolitische Herausforderung. Und in zahlreichen Dörfern des dänischen ›Außenbereichs‹, die von Entvölkerung, Verschwinden der Geschäfte und Schließung von Schulen bedroht sind, hat man gute Erfahrungen mit Menschen aus der Ferne gesammelt. Das liegt auf einer Linie mit Erfahrungen aus dem schwedischen Röstånga, wo Einwohner alte und verfallende Häuser aufgekauft haben, um sie mit der Hilfe von Flüchtlingen aus benachbarten Asylzentren instandzusetzen.

Die Herausforderung ist nicht zuletzt geschlechtspolitischer Art. Denn: Es gibt keinen ›Ehrenmord‹ – Mord an Frauen (ebenso wie an Männern) hat nichts mit Ehre zu tun, und wir akzeptieren keine kulturellen Begründungen dafür. Es gibt keinen Zweifel, dass einige Einwanderer mit Vorstellungen über das Geschlechterverhältnis zu uns kommen, die gegen jene kulturellen Errungenschaften verstoßen, die wir – unter großen Mühen – in der dänischen Kultur erreicht haben. Aber anstatt auf ›den anderen‹ herumzuhacken, geht es darum, gleiche Rechte für Frauen und Männer als gemeinsame Aufgabe anzupacken, die wir auch in der dänischen Kultur noch keineswegs gelöst haben. Hand in Hand insbesondere mit Frauen aus fernen Gegenden…

Die dänischen Volkshochschulen sind ein wichtiger Rahmen für die Integration. (Volkshochschulen sind – im Unterschied zu den Abendschulen gleichen Namens in Deutschland – eine freie, nicht-staatliche Schulform, die aus der bäuerlichen Linken des 19. Jahrhunderts hervorgegangen ist. In ihnen leben junge Erwachsene über einige Monate zusammen und lernen miteinander ohne Zeugnisse oder Prüfungen. Die Folkehøjskoler gelten als Inbegriff national-dänischer Besonderheit.) Hier hat man Erfahrungen gesammelt mit dem Verhältnis zwischen dem Volklichen und dem Zwischenvolklichen, wie es sich durch Zusammenleben und persönliche Entwicklung entfaltet. Aber wo verlaufen die Grenzen dafür, was Volkshochschulen – ebenso wie die Volksschulen – auf sich nehmen können? Hier begegnen einander Kultur- und Bildungspolitik.

Moscheen können die dänische Kulturlandschaft mehr bereichern, als es Rockerburgen und Bandenhauptquartiere (oder gewisse Supermärkte?) tun. Aus der dänisch-jüdischen Geschichte wissen wir, dass Synagogen auf dänischem Boden die Integration befördert haben – Integration ist nämlich nicht dasselbe wie Assimilation. Was können wir jedoch dafür tun, dass Moscheen im Geist der Integration errichtet werden – und nicht zu einer Parallelgesellschaft beitragen, die Fanatiker hervorbringt?

Sport, volkliche Festkultur – mit Traditionen wie die Gewerkschaftsfeste Fagenes Fest (alljährliche alternative Sportfeste der dänischen Gewerkschaftsbewegung von 1938 bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts), die Gymnastikfeste Landsstævner (seit 1862 die Feste der dänischen ›volklichen Gymnastik‹, nunmehr vierjährig) und die Großen Spieltage Store Legedage (seit den 1980er Jahren Spielfeste in verschiedenen großen Städten) – und freiwillige Vereine bilden einen wichtigen Rahmen für die Inklusion. Aber auch ethnische Selbstorganisation hat oft Integrationswirkung gezeigt – so wie der jüdische Sport und die Grönländerhäuser. Hier liegt unter anderem eine sportpolitische Herausforderung.

Eine Jahrhundertaufgabe?

Aus einer engagierten kulturellen Perspektive können die Einwanderungskrise und die damit einhergehende soziale Katastrophe in positive Energie verwandelt werden. Unterschiedlichkeit mit Respekt ist eine kulturelle Aufgabe. Sie macht die neue national-volkliche Frage aus: Wie verwandeln wir die Angstkultur in nationale Willkommenskultur – um der anderen und um unserer selbst willen? Und wie machen wir das konkret?

Gewiss gibt es für die neuen kulturpolitischen Herausforderungen keine einfachen Lösungen. Kulturelle Prozesse entwickeln sich zwischen der politischen Ebene und der Zivilgesellschaft, die nicht von oben her gesteuert werden kann – oder soll. Sozialistische Willkommenskultur und kulturelle Integration erfordern Zeit, und Konflikte sind wahrscheinlich. Aber hier liegt eine Jahrhundertaufgabe, die – mit Blick auf kommende Generationen – weit tiefere Bedeutung hat als der Stacheldraht an den Grenzen.

(Dieses Arbeitspapier wurde im Ausschuss für Kultur und Sport der dänischen Sozialistischen Volkspartei (SF) am 15.3.2016 vorgelegt, diskutiert und bearbeitet. Es wurde unterstrichen, dass das Arbeitspapier sich nicht zur Flüchtlings- und Migrationsfrage allgemein verhält, sondern Stellung nimmt zum spezifischen Verhältnis zwischen Kultur und Integration.)