Ulrich Siebgeber - ©LG
Ulrich Siebgeber
Vergessen hilft. Aber nicht wirklich.
 

 

Siebgebers Kolumne entstand in den späten Jahren der Merkel-Herrschaft, die geprägt wurden durch ein Klima des politischen Konformismus und der Zuspitzung gesellschaftlicher Differenzen nach dem Motto Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich und muss aus der öffentlichen Debatte entfernt, zumindest unsanft an den Rand gedrängt werden. Gleichzeitig wurden politische Entscheidungen getroffen, deren Brisanz für jeden Einsichtigen offenlag und deren verheerende Auswirkungen das Land gegenwärtig nach und nach zu spüren beginnt.
Siebgebers Aufzeichnungen enden am 8. Mai 2020. Zusammengefasst und nach Themen geordnet lassen sie sich nachlesen in dem Buch Macht ohne Souverän. Die Demontage des Bürgers im Gesinnungsstaat, das 2019 erschien und nebenher das Pseudonym, besser, die literarische Maske des Autors aufdeckte. Im Land der Masken wirkt dergleichen Mummenschanz ohnehin wie aus der Zeit gefallen. Was nicht gegen ihn sprechen sollte.
Ulrich Schödlbauer

Georg Christoph Lichtenbergvon Ulrich Siebgeber

Wer sich tagaus tagein der Mühe unterzieht, den Verlautbarungen der Medien zu folgen, weiß: das Deutsche zählt zu den großen Kultursprachen dieser Welt. Dabei liegt die Betonung auf ›dieser‹, in anderen Welten mögen andere sprachliche Bedingungen herrschen, darüber wissen wir wenig.

Für Reisende jedenfalls endet ›diese‹ Welt abrupt an den Grenzen des eigenen Landes – Österreich und Teile der Schweiz selbstredend ausgenommen –: eine empirische Erinnerung daran, dass das Deutsche jedenfalls nicht zu den großen oder auch nur in Grenzen praktikablen Verkehrssprachen dieser Welt gehört. Das eben scheint die Kultursprache auszumachen: die Erinnerung an ältere Zeiten, die wenigstens in dieser Hinsicht die besseren genannt werden dürfen. Daher sollte man erwarten, dass unter den Aktivisten der Kultur ein reges Interesse an dieser Sprache anzutreffen wäre – weit gefehlt, soweit die Statistiken ihre nüchterne Sprache sprechen. Das scheint nicht zuletzt an der Kultur zu liegen. Wer von den kulturellen Leistungen der Deutschen spricht, der pflegt gemeinhin an weiter zurückliegende Epochen der europäischen oder ›Weltgeschichte‹ – merken Sie den Zeitsprung? – zu erinnern. Im Politiker-Alltag auf ›Goethe-und-Schiller‹ zusammengeschrumpft, dümpeln sie zwischen ›Idealismus‹ und ›Sonderweg‹, ein gefundenes Fressen für Antiquare und ihre Kundschaft, aber keine Option auf ein offenes, unverkrampftes Verhältnis zur Gegenwart und ihren Champions.

Balsam für die unverstandene Sprach-Seele versprechen Studien, die in unregelmäßigen Abständen versichern, dass es, was die Verbreitung des Deutschen angeht, noch immer für einen Platz unter den ersten zehn – aktuell: fünf! – reicht: Das ist doch was. Es gibt dem Radebrechen am nächsten Kiosk eine fast zärtliche Note: Seid umschlungen, Millionen! Woher stammen diese Zahlen? Großenteils aus der liebevollen Addition von Sprachinseln, in denen, immerhin, meist auch ein kulturelles Eigenbewusstsein anzutreffen ist, ein ›kulturelles Biotop‹, das entfernt – sehr entfernt – an jene Goethe-Schiller-Region erinnert, mehr noch an das zweite Kaiserreich und seine ›kulturelle Sendung‹, noch mehr an religiöse oder religiös motivierte Sonderwege, kurz, an den Mief, den das Mutterland, die größere Sprachinsel im Meer der europäischen Sprachen, in mikroskopischen Teilen hegt und im Großen und Ganzen verachtet. So mischt sich in die Entspannung erneute Besorgnis: Das kann doch nicht alles sein? Nein, kann es nicht. Eine dumpfe Sprache, vornehmlich in Regionen gesprochen, wo der Anschluss an die Zentren weder zu erwarten noch erwünscht ist – das geht gar nicht. Oder doch? Leben wir nicht alle in der deutschen Provinz, als gelte es, dort den Nabel der Welt vor unanständigen Berührungen zu schützen?

Ja, sie hat ihre dumpfen Seiten, die Sprache Goethes und Schillers, nebenbei bemerkt auch die Sprache Thomas Manns und Bert Brechts, Rilkes und Kleists, Marx’ und Hegels, Lichtenbergs und Liebigs, Luthers und Kants, Wittgensteins und Celans, Nietzsches und Dietzsch’, Hans Sachs’ und Niklas Luhmanns, Georg Forsters und Georg Simmels, Erwin Schrödingers und Ludwig Anzengrubers, Ernst Cassirers und Robert Musils, Hedwig Dohms und Anna Wimschneiders, Heinrich Heines und Bettina Brentanos, Angelus Silesius’ und Theodor W. Adornos, Mozarts und Kafkas, Max Stirners und Max Webers – vornehme Leute, doch warum paarweise? Nun, das gehört offensichtlich bereits zur Dumpfheit, schließlich treten auch Licht und Schatten paarweise auf, so lassen sie sich besser auseinanderhalten und man weiß, woran man mit ihnen ist.

Deutsch als Wissenschaftssprache – das ist ein heißes Thema, an dem man sich leicht den Finger verbrennt, denn wenn die Wissenschaft etwas braucht, dann ist es eine funktionierende Verkehrssprache: die Ideen können und wollen nicht warten, bis das Heer der Übersetzer seine aufopferungsvolle Mission beendet oder bis auch die letzte Pidgin-Variante – warum der Hohn? – über eine vollständige Nomenklatur verfügt. Das ist zwar, wie immer, nur die halbe Wahrheit – manche Ideen warten geduldig Jahrzehnt um Jahrzehnt, bis ihre Zeit gekommen ist und sie aus der sprachlichen Schale befreit werden, in der sie, mehr oder weniger zufällig, zur Welt gekommen sind –, aber diese halbe Wahrheit genügt, um dem Run auf die Geldtöpfe die Richtung zu weisen. Ein Forscherleben ist kurz, die Halbwertszeit der Erkenntnisse ebenfalls, die Karriere die kürzeste Sache von allen, die keinerlei Aufschub duldet, noch kürzer aber ist die Geduld der Geld- und Auftraggeber, die Ergebnisse sehen und keine Doppelforschungen finanzieren wollen. Auch wäre es schön, wenn man auf Kongressen einander verstünde, wäre es anders, so hießen sie vermutlich ›Digresse‹ und man würde sie meiden, soweit die Karriere es zulässt. Besser englisch geradebrecht als deutsch isoliert und einsam – nach diesem Motto setzt sich manche Forscherpersönlichkeit in Szene, die angesichts der sozialen Funktion der Sprache, subtile Hierarchien nach dem Grad der Teilhabe an ihren intimeren Tätigkeiten zu etablieren, besser daran täte, einen Dolmetscher zu bemühen. Was soll sie machen? Was kann sie machen? Englisch ist und bleibt die eingebildete zweite Muttersprache der Deutschen, ihr ›unbelastetes Idiom‹, die Sprache, in der sie anderen kenntlich werden, aber das betrifft immer die anderen und ficht den ›gegenwärtigen Sprecher‹ nicht an. Es ist vielleicht nicht so wichtig, auch wenn ein gut gehaltener Vortrag, ein gut geschriebener Aufsatz stets leichter angenommen und williger rezipiert wird.

So zu reden setzt schon das Übergewicht der ›englischsprachigen Welt‹ und ihrer doppelsprachigen Klientel im Wissenschaftsbetrieb voraus. Kein Wunder also, dass die Auguren des neuen, im Werden begriffenen Weltzustandes nach Mitteln suchen, der Multipolarität auch sprachlich zu begegnen, etwa dadurch, dass sie die Stärkung der eigenen Sprache zur Standortfrage erheben. Das ist nicht nur, aber eben auch ein deutsches Problem. Warum es zum Problem werden kann, hat, neben dem machtpolitischen Motiv, auch geltungspsychologische und selbst kognitionstechnische Gründe: es spricht, denkt und urteilt sich besser in der eigenen Sprache, welche immer es sei. Eine unterdrückte Sprache ist mehr als ein unterdrückter Husten: sie steht für nicht realisierte Ideenpotentiale ebenso wie für kulturelle und machtpolitische Minderwertigkeit, die bestens neben überbordendem Selbstwertgefühl der betreffenden Person zu bestehen vermag – neben ihm, soll heißen als externalisierte, gleichwohl immer vorhandene Größe, die sich ebenso in zwanghaftem Verleugnen wie – gelegentlich – in demonstrativem, situationsinadäquatem Gebrauch äußern kann.

Für beide Verhaltensmuster liefern, neben den Tagungsmatadoren des Wissenschaftsbetriebs, insbesondere Politiker eindrucksvolle, von den Medien immer wieder gern aufgespießte Beispiele. Immerhin genießt die Politik den Vorteil, dass eine ausgedünnte, differenzierungsarme, routiniert verwendete Schwundsprache wie das berüchtigte Euro-Englisch ihrem gestanzten, auf mühsam ausgehandelten, strategisch oder vertraglich festgelegten Begriffen fußenden Jargon blendend zuarbeitet – so sehr, dass manche ihrer Vertreter hinter vorgehaltener Hand dieses Kunstidiom als die kommende Gemeinsprache des geeinten Europa ›ins Auge fassen‹. Träte das ein, so läge die einsame Pointe der Entwicklung darin, dass aus der entstehenden Sprachgemeinschaft gerade die native speakers ausgeschlossen blieben, es sei denn, letztere wären bereit, auf das reiche kulturelle Erbe, das ihnen ihre Sprache zuspielt, um der törichten Jungfrauen willen zu verzichten, die das ihrige im Schlafwagen nach Europa verschlummern.

Unvergessen bleibt, dass die heutigen ›Weltsprachen‹ ihren Status untergegangenen oder mühsam transformierten Kolonialreichen verdanken und durchaus keiner besonderen Menschheitsliebe zur Kultur der ›Mutterländer‹, auch wenn diese ihren Nimbus eifrig zu pflegen wissen. Das Verhältnis vieler ›Sprecher‹ zu ihren postkolonialen Idiomen ist keineswegs einfach oder frei von Friktionen – was mancherlei zum Elend der krypto-kolonialen Mentalitäten beiträgt, die auf großen Teilen des Planeten herrschen. Wer seine Sinne beisammen hat, kann vergleichbare Verhältnisse nicht vorsätzlich auf das eigene Land herunterwünschen. Dennoch hat die Dominanz der USA in Europa – und hier vor allem in Deutschland – ein entferntes Analogon geschaffen: den manchmal dramatischen, manchmal kaum merklichen Schwund an muttersprachlicher Kompetenz zugunsten des popkulturellen Jargons, zu vergleichen einem aus früher Vernachlässigung stammenden Mangel an feinmotorischen Fähigkeiten bei Erwachsenen, denen sonst nichts abgeht. Redlich steht dem freudlosen Sprachgebaren wissenschaftlicher Plain-Texte der an jeder Theke anzutreffende Verlust an Mutterwitz zur Seite, als wollten sie beide unaufgefordert bekräftigen, dass es nicht mehr weit her sei mit der Deutungskompetenz der gebildeten Sprache, von der bereits Goethe zu sagen wusste, dass sie »für dich dichtet und denkt«. Das lässt sich beklagen, aber nicht ändern, es sei denn, die ›Verhältnisse‹ änderten sich – es bildet einen Weltzustand ab, dem gegenüber die eigenen Zustände winzig und am Ende eher unwichtig erscheinen.

Massenhafte Einwanderung sorgt auch im Inneren eines Landes für quasi-koloniale Sprachverhältnisse. Das schlecht beherrschte, nach sprachlich-kultureller Herkunft modifizierte Idiom unzureichend geschulter Migranten, die als ›Sprechergruppen‹ in einer Art double bind verharren, wirkt unvermittelt – und unverblümt – als soziales Stigma, wobei die Wirkungen von ausgrenzender Distanz über passive Vorsicht bis zu unerbetenen Betreuungsangeboten reichen können. In allen Fällen greift die Unterschicht-Anmutung samt ihren Folgen für den Arbeitsmarkt sowie der misstrauische Seitenblick auf Parallelgesellschaften, in denen manche bereits die kommenden Herren des Landes wittern. Wie überall, wo Gruppen-Wertigkeiten ins Spiel kommen, ist auch diese Ausgrenzung wechselseitig: ein gebrochenes Verhältnis zur herrschenden Sprache wirkt stabilisierend auf das eigene Sprachgebaren, es erzeugt Zwischen-Identitäten mit eigener Dynamik, eigenen Wertvorstellungen und Lebensmustern, kurz, es schafft energisch mit an den Problemen, an denen eine Einwanderungsgesellschaft mit niedriger Geburtenquote nolens volens laboriert. Und es strahlt ab auf die Mehrheitsgesellschaft. Nichts beschäftigt die Phantasie der Menschen so wie das Ausgegrenzte: als Mode verpackt, kommt es geradewegs auf sie zu.

Das Deutsche, auch wenn es die Mehrzahl der heute lebenden Deutschen nicht hören will, zählt zu den wichtigsten Geburtshelfern der Moderne: es gibt wenige Gedanken, Ideen, Konzepte aus der Zeit zwischen 1770 und 1933, die nicht in dieser Sprache bedeutende Ausformungen erfahren hätten, falls sie nicht in ihr erstmals ersonnen wurden. Wer über den Gang der Dinge in jener Epoche etwas erfahren will, kommt an ihr nicht vorbei. Was immer man von einem solchen Erbe halten mag, es existiert und zwingt dazu, sich zu ihm zu verhalten. Gerade den Sprachsensiblen mag es daher schwerfallen, sich mit einem hinteren Platz auf der Skala – und sei es die der ›entwickelten Industrienationen‹ – zufrieden zu geben. Zweifellos fiele es noch schwerer, läge nicht der schlimme Brocken LTI (›Lingua Tertii Imperii‹) wie eh und je dem Begehren im Wege. Zu sprechend ist der gefühlte Rückstand gegenüber den ›Weltsprachen‹, zu uneben das Verhältnis zu den ungleichen Gleichen, um mit völligem Gleichmut pariert zu werden. Und selbstverständlich versteckt sich in diesem Schmerz immer auch masochistische Grübelei über die Wege und Abwege dieser – zwischen 1871 und 1914 – zu schnell zu mächtig gewordenen Nation: anders als den geschrumpften Nachfolgern der wirklichen Welt-, sprich Kolonialreiche blieb ihr als Matrix des Scheiterns der fatale ›Griff nach der Weltmacht‹ eingezeichnet, die, wie wir wissen, seither unerreichbar in anderen Händen ruht.

Weltmacht Sprache? Wer’s nötig hat, trete vor.

Bleiben wir freundlich: das Deutsche ist die Sprache der Deutschen.

Soviel Selbsterkenntnis darf sein.

 

Abb.: Georg Christoph Lichtenberg (Wikimedia Commons)