...neulich im Einsein
empfand ich eine deutlich andere, mir schien, irgendwie erregte Caféhaus-Atmosphäre. Es raschelten mehr Zeitungsseiten, an den Tischen wurde lauter disputiert und beim (notgedrungenen) Hinhören verstand man manche Worte. Die unangenehmsten, lange nicht gehörten, kannte man nur noch aus der Literatur, z.B. der über Wiener Caféhäuser (als im ›Central‹ der Bronstein sel. beim Schach am Stundenglas der Romanoffs drehte …). Vom überlebten Kapital [oder] Imperialismus hörte man, und seiner Verkehrsform, dem Markt, dessen Clash, ja dessen Ende evident sei. Allerdings war die Metapher vorherrschend: die große Blase sei geplatzt, vom Casino-Kapitalismus sprach man [sollte so ›Kredit‹ zusammenfassend begriffen sein?], vom Theologischen des Geldes – man erinnert sich: wir bewunderten die, die tatsächlich bis zum Ende des ersten Kapitels des bekannten Marxschen Dreibänders gekommen waren und vom ›Fetischcharakter der Ware‹ zu rätseln verstanden). Kurz: der Kapitalismus des Nordens stürbe (wieder einmal, wie schon 1923, 1929, 1945, 1972), das scheint auch gegenwärtig die felsenfeste Second-hand-Überzeugung der Diskursbetreiber. Allerdings wäre man damit längst noch nicht wieder bei Marx, allenfalls zurück bei epigonalen Zusammenbruchs-Theoretikern wie Rosa Luxemburg oder Nikolai Bucharin.
In der allgemeinen Aufregung schien mir eine Binsenwahrheit über den Kapitalismus abhanden gekommen zu sein, nämlich dass er im Stirb-und Werde, vulgo: der Krise gerade seine Betriebsform hat. Mythisch ist er dem Phönix verwandt, zu dessen Natur Verbrennen und Auferstehen gehören. So der Markt: mit seinem Auf und Ab von Angebot-und-Nachfrage, das als ein beständiges Verschwinden wahrgenommen werden kann, verschwindet diese Dynamik ihrerseits natürlich nicht.
Der Markt, das ist sozusagen das Gravitationsfeld, das immer dann entsteht, wenn Menschen mit ihren (materiellen/geistigen) Angeboten in eine Anerkennungskonstellation treten. Diese Anerkennung geschieht nie unmittelbar (von mir zu dir), sondern über die Erzeugung eines Dritten, eines Mediums der Anerkennung: der Ware [Geld]. Das Problem dabei ist, dass sich niemals alle aktuellen Angebote – wortwörtlich! – realisieren, warenförmig werden. Es verschwinden und entstehen immer wieder solche Anerkennungsbegehren. Der Markt als der Kriterien-Ort des Ob- oder-ob-nicht würde erst dann verschwinden, wenn Menschen nicht mehr als abstrakt getrennt von Anderen nach Anerkennung, d.h. aber: nach Selbsterhaltung streben müssten (wie ehemals in Familien-, Sippen- oder völkischen Clanverbänden). – Die Marktgesellschaft ist also das, was wir unsere – einst westliche, jetzt globale – Kultur nennen. Sie ist eine Engführung des natürlichen Menschen. Jetzt erst wird das individuelle Leben als Risiko konstituiert. Auf diese Weise entwickeln sich Verschiedenheiten, Differenzen und Dynamiken, die alles bloß Gewohnte, Beständige, Vertraute randständig werden lässt.
Oder, um noch einmal auf die Theologie-Metapher zu kommen: der Markt ist keine Messe [hier kommt die Anerkennung – verdienstlos – ›von Oben‹], denn es geht hier nie um das Heil des oder aller Menschen!
Steffen Dietzsch