
Bannkreis (79): Ich cancele, also bin ich … wer?
… neulich im Einstein
musste ich lange auf Freund Miloš (aus Prag) warten – aber er hatte mir schon eine ›E-Mail‹ geschickt: sein Zug sei gecancelt worden … Das war der seit langem einzig korrekte Gebrauch dieses Verbs, soviel ich hörte. Aber ›abgekanzelt‹ zu werden, ist eine gegenwärtig überall und von ›den Vielen‹ auszuhaltende demokratie-pädagogische Zumutung: how dare you!, Du gehst ungerührt die Mohrenstrasse entlang? Trägst keine Maske? Liest Shakespeare oder George? Isst Fleisch? Kaufst ›rechte‹ Bücher? Vergisst mit ›man‹ die ›Frau‹? Unsereins lässt das – nolens volens – gern gelten als eine Meinung neben anderen, gedeckt durch den – unbedingten! – Wert: Meinungsfreiheit.
Wertepolitiker
von Markus C. Kerber
Die Diskussion über eine Gas-Pipeline hat es endlich an den Tag gebracht. Es gibt sie noch, die deutschen Wertepolitiker. Obschon das Nord Stream 2-Projekt nun seit 2007 mit Unterstützung der Bundesregierung unter Federführung von Gazprom und seinen deutschen Gehilfen, Mathias Warnig – einem ehemaligen Stasimitarbeiter – und Bundeskanzler a. D. Schröder, seinen Lauf nimmt, hat es in Deutschland – abgesehen von einigen wenigen Warnern – kaum eine kritische Diskussion über die Frage gegeben, ob man sich mit einer Pipeline, die zu 100 Prozent Gazprom gehört, energiewirtschaftlich an Russland binden solle. Zu groß waren wahrscheinlich die energiewirtschaftlichen Abhängigkeiten, nachdem in einer ihrer vielen Volten Frau Merkel sowohl den Ausstieg aus der Atomenergie als auch aus der Kohle operationalisiert hatte. Spät, aber gewiss nicht zu spät kommen nun die fast inflatorischen Protestsalven gegen Nord Stream 2 vorzugsweise von jenen Politikern, die seit Jahren hierzu geschwiegen haben.
Corona und Provinz: Agonie eines Narrativs
von Ulrich Schödlbauer
Zum ersten Mal, soweit ich zurückdenke, bin ich aus einem Levitationstraum erwacht. Offenbar befand ich mich auf einer Gerüst-Plattform von der Art, wie sie Maurer benützen (undeutlich glaube ich mich zu erinnern, dass es an der Berliner Mauer eine Besucherplattform gab, von der aus man als West-Tourist, ebenso gleichgültig wie misstrauisch von einem DDR-Grenzposten aus nächster Nähe beäugt, in den Ostteil der Stadt blicken konnte), und plötzlich war die Plattform weg. Ich stand dort noch eine Weile in der Luft herum, unschlüssig, wie die Situation zu Ende gebracht werden könne. Irgendwann hatte ich wieder Boden unter den Füßen und bemerkte ein gewisses journalistisches Interesse an meinem Fall. »Sieh an«, dachte ich, »es gibt sie also noch, die Westpresse.« Und zweifelnd kehrte ich in die andere Wirklichkeit aus Reichstagstreppensturm und Reichsbürgerflaggenparade zurück.
Das Ende der liberalen Illusion
von Boris Blaha
Haben Sie in letzter Zeit etwas vom Parlament gehört? Parlament? Wieso? Hatten wir eins? Ach, Sie meinen das, wo diese komische Frau mit den bunten Haaren und den bunten Tüchern sitzt und ein wichtiges Gesicht macht? Ist das nicht eine Folklore-Veranstaltung für Touristen, die den Reichstag besuchen?
Im Mutterland des Parlamentarismus hatte sich das Parlament als Vertretung des Landes seinen bleibenden Rang in mehreren fulminanten Auseinandersetzungen gegen die Versuche der Krone, eine Alleinherrschaft zu etablieren, erkämpft und diesen Rang seither nicht wieder verspielt. In Deutschland lief das anders, lange gab es keines, es gab ja auch kein Deutschland. Der erste nennenswerte Versuch, die Frankfurter Nationalversammlung, scheiterte gleich auf ganzer Linie, fasste zwar einen Beschluss, konnte ihn aber nicht durchsetzen. Das Parlament war, wenn es überhaupt eines gab, eine, wenn es gut lief, fast bedeutungslose Veranstaltung, meist eher ein Element von Hohn und Spott. Schwatz- oder Quasselbude waren noch die harmloseren Bezeichnungen. Wenn Wilhelm II. vom Reichsaffenstall sprach, klopfte sich der schneidige Offizier draußen im Lande begeistert auf die Schenkel und im Stammtischmilieu der Arbeiter dürfte es nicht viel besser gewesen sein. Das Europaparlament ist heute die Entsorgungsanstalt für abgebrannte Politelemente, die zu Hause und erst recht in der freien Wirtschaft keiner mehr gebrauchen kann. Als christlich-humanistisches Haus Europa kann man sie ja nicht verhungern lassen. Da bekommen sie wenigstens ihr Gnadenbrot.
Historischer Kompromiss Nr. 2
Mit großem Aplomb kündigte Wirtschaftsminister Altmaier am Freitag den ›Historischen Kompromiss‹ an, der Ökonomie und Ökologie miteinander versöhnen soll. Mal sehen, wie das aussehen wird. Ob wir nicht am Ende fragen müssen: »Haben Sie es nicht ein bisschen kleiner?«
Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Die frei verwendeten Motive stammen von Monika Estermann, Renate Solbach und Ulrich Schödlbauer.