
von Lutz Götze
Über den Ausgang der Wahlen zum britischen Unterhaus konnte nur der überrascht sein, der die Insel und ihre Menschen nicht kennt. Allenfalls die Höhe des erdrutschartigen Sieges der Konservativen Partei ließ aufhorchen. Labour hat das schlechteste Wahlergebnis seit 1935 eingefahren; den Tories gelang der flächendeckende Einbruch in traditionelle Arbeiter- und Angestelltenbezirke Mittel-und Nordenglands, sogar Wales, die seit Jahrzehnten Abgeordnete der Arbeiterpartei in das House of Commons entsandt hatten. Ausgenommen von dieser Entwicklung waren ausschließlich Schottland und Nordirland, wo die Nationalisten obsiegten, jedoch aus unterschiedlichen Gründen. In Schottland strebt die Scottish National Party unter Nicola Sturgeon ein Referendum an, um in der Europäischen Union zu verbleiben. Die Aussichten sind freilich schlecht.
Die Ursachen für diese verheerende Niederlage von Labour sind, vordergründig betrachtet, eindeutig: ein unbeliebter Parteivorsitzender Jeremy Corbyn, der ständig zwischen leave or remain lavierte und obendrein die antisemitischen Tendenzen in seiner Partei nicht bekämpfte, war das eine, die Gespaltenheit seiner Partei in zahlreichen Fragen und keineswegs nur in der Brexit-Entscheidung das andere.
»Vielleicht will die SPD gar nicht, dass es sie gibt« – ein Universum in einem Titel. Volltreffer!
Was würden Ferdinand Lassalle, Wilhelm Liebknecht, der ›Arbeiterkaiser‹ August Bebel, Phillip Scheidemann, Friedrich Ebert, Kurt Schumacher, Willy Brandt und Helmut Schmidt um nur einige zu nennen, zu diesem Titel sagen?
All diese Sozialdemokraten wussten, was sie mit und in dieser Partei in Deutschland wollten: Teilhabe aller, Chancengleichheit, sozialen Aufstieg über Bildung, ›Fördern und Fordern‹, Gleichberechtigung der Geschlechter, einen starken Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort! Und das alles im Wettstreit mit der politischen Konkurrenz und dem scharfen Schwert freier Wahlen. Sozialdemokraten, das waren Facharbeiter, Meister, Ingenieure, Wissenschaftler, auch sehr wohlhabende Citoyens, die immer wussten, redliche, faire Arbeit ist die Grundlage von Wohlstand und den notwendigen sozialen Ausgleich. Die ›Kuh‹ Wirtschaft sollte nie so gemolken werden, dass sie verendet.
von Rüdiger Henkel
Meine Frau und mich interessieren die Wahlergebnisse in Thüringen nicht nur als politisches Phänomen, denn obwohl wir seit 1958 im alten Bundesgebiet leben, haben wir dorthin noch persönliche Beziehungen zu Freunden und Verwandten, nicht sehr enge, aber immerhin. Wir besuchten uns gegenseitig, so lange es uns gesundheitlich möglich war, wir telefonieren gelegentlich und stehen im Briefwechsel zu Geburtstagen und zu Weihnachten. Wie es in Deutschland üblich ist, tauschen wir auch unsere politischen Ansichten aus. Folglich haben uns die Ergebnisse der Thüringer Landtagswahl stark berührt, aber nicht völlig überrascht.
Die Wahlbeteiligung betrug 64,9 Prozent, die Linke bekam 31 Prozent der abgegebenen Stimmen und die AfD 23,4 Prozent, das heißt: Jeder dritte Thüringer ist überhaupt nicht wählen gegangen und hat auch die Möglichkeit der Briefwahl nicht genutzt. 54,4 Prozent der abgegebenen Stimmen entfielen auf Parteien, die der freiheitlich-demokratischen Grundordnung in der Bundesrepublik Deutschland äußerst skeptisch gegenüberstehen. Innerhalb der Linkspartei gibt es nach wie vor aktive Gruppierungen ehemaliger hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter und innerhalb der AfD gibt es waschechte Nazis.
Besteht deshalb die Mehrheit der aktiven Thüringer Wähler aus orthodoxen Kommunisten und bornierten Nationalsozialisten? Diese Schlussfolgerung wäre nicht nur zu einfach, sondern sie ist einfach falsch. Doch politische Meinungen bilden sich langfristig und sind kurzfristig nur schwer zu ändern. Sie beruhen auf wirkungsmächtigen Eindrücken, die die Leute nicht schnell wieder verdrängen. Wir alle wurden Zeugen des Wahlverhaltens zutiefst verunsicherter Menschen. Die Ursachen für das desaströse Ergebnis sind vielfältig.
Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G