von Lutz Götze
Über den Ausgang der Wahlen zum britischen Unterhaus konnte nur der überrascht sein, der die Insel und ihre Menschen nicht kennt. Allenfalls die Höhe des erdrutschartigen Sieges der Konservativen Partei ließ aufhorchen. Labour hat das schlechteste Wahlergebnis seit 1935 eingefahren; den Tories gelang der flächendeckende Einbruch in traditionelle Arbeiter- und Angestelltenbezirke Mittel-und Nordenglands, sogar Wales, die seit Jahrzehnten Abgeordnete der Arbeiterpartei in das House of Commons entsandt hatten. Ausgenommen von dieser Entwicklung waren ausschließlich Schottland und Nordirland, wo die Nationalisten obsiegten, jedoch aus unterschiedlichen Gründen. In Schottland strebt die Scottish National Party unter Nicola Sturgeon ein Referendum an, um in der Europäischen Union zu verbleiben. Die Aussichten sind freilich schlecht.
Die Ursachen für diese verheerende Niederlage von Labour sind, vordergründig betrachtet, eindeutig: ein unbeliebter Parteivorsitzender Jeremy Corbyn, der ständig zwischen leave or remain lavierte und obendrein die antisemitischen Tendenzen in seiner Partei nicht bekämpfte, war das eine, die Gespaltenheit seiner Partei in zahlreichen Fragen und keineswegs nur in der Brexit-Entscheidung das andere.
Auf der Erfolgsseite scheint es, oberflächlich betrachtet, ebenso einfach zu sein: Ein Tory-Führer namens Boris Johnson, der kampferprobt und siegesgewiss in den Wahlkampf zog, vor keiner Halbwahrheit oder Lüge zurückschreckte – die Königin eingeschlossen –, der Jedem und Allen das Blaue vom Himmel versprach, politische Gegner verspottete oder rüde verletzte und dabei vor sexistischen Ausfällen nicht zurückschreckte: Das alles zusammengenommen, bescherte ihm diesen Kantersieg und strafte jene Analysten Lügen, die vor der Wahl behaupteten, dergleichen sei zwar in den USA möglich, werde aber im Mutterland der Demokratie abgestraft. Mitnichten!
Natürlich ging es, wiederum vordergründig, um den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, und manche Wählerstimme, zumal im industriellen Norden, floss den Konservativen zu, weil dort die Minenarbeiter und mittleren Angestellten es leid waren, immer erneut wegen des Brexit an die Urnen gerufen zu werden: ›Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende!‹ war ihr Wahlspruch – wie in einer ermüdeten Ehe. Noch deutlicher: ›Nach uns die Sintflut! Egal, was nach dem Bruch kommt, schlechter kann es nicht werden!‹ Dass es ab 2021 für den Durchschnittsbürger Großbritanniens –falls das Königreich dann noch in dieser Form existieren sollte – deutlich schlimmer werden wird- Arbeitslosigkeit, Gesundheitsfürsorge, Rente, Bildungssystem und Öffentlicher Verkehr –wurde verdrängt und im allgemeinen Rausch kleingeredet.
Auf dem Kontinent mag mancher Betrachter zu dem Ergebnis kommen, das alles beweise lediglich, dass der allfällige Sturm auf der Nordseeinsel den letzten Rest von Verstand aus den Hirnen der Menschen geblasen und sie motiviert habe, gegen ihre ureigenen Interessen zu stimmen. Die eher literarisch Gebildeten mögen an die Sturmszenen in Shakespeare´s Lear, Macbeth oder Hamlet gedacht haben, andere an Jane Eyre´s Wuthering Heights, die Masse vielleicht an schockierende Gruselromane von der Insel. Das alles ist nicht ganz falsch, aber doch nur die halbe Wahrheit. Und eine halbe Wahrheit ist oft nichts als eine ganze Lüge!
Nur Populismus?
Zur Erklärung dieses Phänomens reicht es auch nicht, das weltweite Anwachsen des Populismus anzuführen, der nun auch die britische Insel erfasst und Johnson den Sieg beschert habe. Radikal verkürzte und damit verlogene Aussagen charakterisieren zwar inzwischen weltweit die öffentliche Debatte und machen der Vernunft und differenzierten Argumenten das Leben schwer. Darüber hinaus bereitet der inflationäre Gebrauch der neuen Medien mitsamt den asozialen Medien, die sich ›sozial‹ nennen, das Feld für eine dramatisch wachsende Unbildung, die sich des Mangels an notwendigem Wissen nicht schämt, sondern dreist allenfalls danach fragt, ob man dergleichen brauche, um das Leben zu bewältigen. Am Ende steht die Dummheit, die in den Schulen, zumal bei forciertem Einsatz von Computern im Unterricht, schon heute erkennbar ist: mangelhafte Beherrschung des Lesens und Schreibens, erschreckende Mängel in Mathematik und den Naturwissenschaften. Populismus meint in Wahrheit Verdummung.
Britische Tradition
Doch die britische Wahl ist nur erklärbar aus der Geschichte der Insel, zumal der imperialen Epoche, also des oft verklärten ›Viktorianischen Zeitalters‹. Der prägende Politiker jener Zeit war Benjamin Disraeli, Sohn sephardischer Eltern , aber mit 13 Jahren anglikanisch getauft. Ein wechselvolles Leben als Politiker und Dichter kennzeichnete ihn; erst spät drang er mit Macht an die Spitze der Tories, wurde ihr Vorsitzender und 1874 Premierminister. Kennzeichnend für seine politische Haltung war seine berühmte ›Chrystal Palace-Rede‹ von 1872, in der er die Parteimitglieder auf kommende große Aufgaben einschwor, nämlich die weltweite Kolonialisierung fortzusetzen und Britanniens Flagge überall auf dem Globus zu hissen. Es heißt dort:
Die Entscheidung ist keine einfache Sache. Es geht darum, ob Sie damit zufrieden sind, ein bequemes England zu sein, das nach dem Vorbild kontinentaler Prinzipien geformt ist und in absehbarer Zeit ein unvermeidliches Schicksal erfährt, oder ob Sie ein großes Land sein wollen, ein imperiales Land, ein Land, in dem Ihre Söhne, wenn Sie aufsteigen, zu höchsten Positionen aufsteigen und nicht nur die Wertschätzung ihrer Landsleute, sondern der ganzen Welt erringen.
Was folgte, waren verbrecherische Eroberungen, Zigtausende in Kolonialkriegen hingemetzelte Menschen, zumal in Südasien, und Milliarden erbeuteter Wertgegenstände. Hinzu kam die Ausbeutung begehrter Bodenschätze wie Gold und Diamanten, so in Indien und Afrika. Aufstände wurden brutal niedergeschlagen und Kritiker mundtot gemacht, nachzulesen im grandiosen Roman Burmese Days von George Orwell.
England, das sich gern das ›Mutterland der Demokratie‹ nennt, ging so in die Geschichte ein als der weltweit größte Verbrecher. 1876 verlieh das Parlament Queen Victoria den Titel ›Kaiserin von Indien‹, Disraeli überreichte, dazu passend, die Krone. Victoria nannte sich fortan ›Kaiserin von Indien‹. Im Umkehrschluss adelte sie Disraeli im gleichen Jahre. Er durfte fortan den Titel Earl of Beaconsfield in sein Wappen schlagen.
Schon in den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts setzte sich Disraeli an die Spitze der Protektionisten innerhalb der Tories und trat gegen Freihandel und für massive Einfuhrzölle ein. Nach dem Russisch-Osmanischen Krieg handelte er als Premierminister 1878 auf der Berliner Konferenz günstige Bedingungen für Großbritannien aus und stärkte das Empire. Innenpolitisch gebärdete er sich hingegen alles andere denn als Hardliner: Er sorgte dafür, dass die Juden das Wahlrecht erhielten, schuf erste Grundlagen einer Sozialpolitik für die bis dahin weitgehend recht-und besitzlosen Arbeiter im Königreich, warb aber vor allem für sein Ideal: ›One nation‹: ein Land ohne Klassengegensätze, wie sie Karl Marx im Kapital am Beispiel des englischen Königreichs analysiert hatte, sondern eine unteilbare Nation, zurückgehend auf den ›Act of Union‹ von 1707, der die Königreiche Schottland und England zum Königreich Großbritannien geformt hatte. 1800 kam das Königreich Irland dazu. Seit 1927 ist der heutige Name ›Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland‹ üblich. ›One nation‹ will heute als sozialpolitischer, gemäßigt konservativer Teil der Tories die Einheit des Landes wiederherstellen, im Gegensatz zur neoliberalen Politik Margaret Thatchers.
Disraelis imperialistische, europafeindliche und protektionistisch- nationalistische Politik prägte die britische Außenpolitik seither in entscheidendem Maße und tut es heute mehr denn je. Boris Johnson ist sein entschiedener Nachfolger. Das Ziel des Premiers und das der meisten Konservativen ist eindeutig: eine starke Nation, weltweite Handelsverbindungen auf bilateraler Basis, grundsätzlich antieuropäisch und den Traum einstiger britischer Größe auf dem Globus wieder verwirklichend! Dazu gehört ein an Nietzsche und, falsch verstanden, Shakespeare – den er unentwegt zitiert als Beweis seines hohen Bildungsniveaus – gemahnender Appell an das einsame große Individuum, das die Welt lenke. Gern fügt er – als aus Oxford stammender Altphilologe – noch Platon, Sokrates und die Vorsokratiker an, um seinen Reden klassische Autorität zu verleihen.
Das Beispiel Johnson macht Schule und wirkt verführerisch auf Gesinnungskameraden wie Erdogan, Orbán, Kaczynski und andere. Donald Trump hatte den Weg geebnet: ›America first!‹. Johnson und die anderen Nationalisten folgen ihm. Der Zusammenhalt Europas und die Bewahrung seiner Grundsätze sind mit seinem Wahlerfolg auf das Äußerste gefährdet.