von Lutz Götze
Nepal ist - trotz oder gerade wegen seiner geringen geographischen Ausdehnung - ein beispielhaftes Land des 21. Jahrhunderts: Es zwingt, den Blick auf globale Probleme und Entwicklungen zu schärfen. Das Land zu Füßen des Himalaya ist einer der ärmsten Staaten der Welt mit geschätzten 70 Prozent Analphabeten, einer schier unvorstellbaren Umweltverschmutzung vor allem in der Hauptstadt Kathmandu als Folge eines vollkommen unkontrollierten Wachstums der jüngsten Zeit, einem verrotteten Bildungssystem sowie einer unübersehbaren Landflucht.
Hinzu kommen regelmäßige Stromausfälle, schmutziges Wasser und eine Gesundheitsversorgung, die sich nur die Oberschicht leisten kann. Die Masse der Bevölkerung Kathmandus vegetiert und verreckt im Schmutz der gigantischen Müllberge. Die Achttausender im Norden verhüllen ihr Haupt.
Die beträchtlichen Mittel der staatlichen Entwicklungshilfe aus aller Herren Länder verschwindet zum überwiegenden Teil in den Taschen der Regierungsclique um Premierminister Ihala Nath Khanal und seine Partei; der Führer der Maoisten, Pushpa Kamal Dahal, hat ihn wissen lassen, seine Partei werde, nach Billigung eines Sieben-Punkte-Programms, alsbald in die Regierung eintreten: »We have maintained the new government. The Maoist Party will join the government in a few days and the cabinet will soon get full shape«, so schreibt The Himalayan am 13. Februar 2011. Kritiker meinen, Dahal wolle lediglich an den Fleischtöpfen teilhaben.
Die maoistische Führungsriege insgesamt und ihre Basis aber wollen bei dem Deal nicht mitmachen. Ihnen ist der beabsichtigte Kompromiss nichts wert: Sie wollen alle Macht in ihren Händen halten, vor allem das Innenministerium (home ministry), also den Polizeiapparat. Kritiker im Regierungslager argwöhnen, die Maoisten wollten auf diese Weise die Gewalt im Staate vollständig übernehmen und Zustände wie seinerzeit die Khmer Rouge in Kambodscha schaffen. Die Gespräche der Protagonisten drohen zu scheitern, doch das Gerangel um Machtpositionen und Geld geht munter weiter.
Die nichtstaatlichen (NGOs) und internationalen (INGOs) Hilfsorganisationen - sie werden auf über 30.000 in Nepal geschätzt - geben Unsummen von Geld aus, doch das Land verkommt unaufhörlich. Dr. Chhewang N Lama, Mitglied des nationalen Social Welfare Council (SWC), schreibt in The Himalayan am 13. Februar 2011: »Merely 20 per cent of the NGOs and INGOs affiliated with SWC are actually actively working«. Die große Masse dieser Organisationen sitze in der Hauptstadt, statt im Lande zu arbeiten, verwalte Spendengelder und kontrolliere sich selbst. Es herrscht, so unser Fazit, eine gigantische Korruption also auch bei denen, die einstmals angetreten waren, Missstände weltweit zu ächten, die Korruption der Regierenden und Wirtschaftskreise zu beenden und sinnvolle Entwicklungsprojekte voranzutreiben. Heute ist in Nepal das Gegenteil festzustellen: Es herrscht der Grundsatz manus manum lavat.
In den reichen Ländern des Nordens wird dazu wortreich geschwiegen. Hunderte vermeintlicher Hilfsorganisationen sammeln weiterhin Spenden in der Bevölkerung unter Missbrauch von Bildern schrecklich verstümmelter Menschen des Südens. Doch die Spenden erreichen die wirklich Bedürftigen nur im Ausnahmefall.
Gibt es einen Ausweg aus diesem globalen Chaos, denn Nepal stellt die Regel und nicht etwa, wie häufig behauptet, die Ausnahme dar? Weltbank, Weltwährungsfonds und vermeintliche Finanzexperten empfehlen das gleiche Konzept wie vor der Finanz-und Wirtschaftskrise 2009: freie Marktwirtschaft, ungehinderte Finanzströme und ökonomisches Wachstum um jeden Preis. Das schaffe Arbeitsplätze und sozialen Wohlstand.
In Wahrheit haben sie aus der Krise nichts gelernt, denn ihre Strategie dient lediglich den Reichen und Skrupellosen Im Norden wie Süden. Die Massen in den südlichen Ländern hingegen werden weiter hungern und im Schmutz ersticken; im Norden verläuft der Prozess des sozialen Abstiegs langsamer, doch er ist erkennbar.
Eine vernünftige Gegenstrategie muss bei der Bildung ansetzen: Alphabetisierungsprogramme, qualifizierte Ausbildung für alle Menschen, Erziehung zum kritischen Denken sowie zur Pflege natürlicher Ressourcen und erneuerbarer Energien, also zum Schutze des Lebens im umfassenden Sinne. Bildung ist die Grundlage für alles Weitere: für eine vernünftige und gesteuerte Entwicklung, für sozialen Wohlstand und individuelle Freiheit.
Bildung aber ist gefährlich für die Machthaber nicht nur in Nepal: Ungebildete und abhängige Menschen sind leichter zu regieren und begehren nicht auf. Deshalb zittern jetzt die Potentaten im islamischen Lager, weil sie befürchten, der Funke vom Tahrir-Platz könnte in ihren Ländern ein Feuer entfachen. Das gleiche fürchten im übrigen auch Hamas und Hisbollah samt ihren Geldgebern in Syrien und im Iran. In den Diktaturen des Fernen Ostens ist es nicht anders.
Bildung ist der Stachel im Fleische der Mächtigen. Sie gilt es zu fördern, unter allen Umständen. Sie könnte zum Segen der Entwicklungshilfe werden.
Bildung ist nicht alles, aber ohne Bildung ist alles nichts.