von Gerd Held
Wenn sich alles auf das ›Palästina-Problem‹ zuspitzt, geraten wichtige Errungenschaften im Nahen und Mittleren Osten in Gefahr. Auch der Westen sollte sich davor hüten, diese Errungenschaften geringzuschätzen.
Die Trauer über das Leid auf beiden Seiten der Kämpfe in Gaza ist aufrichtig. Diese schlimmen Wochen hat niemand herbeigesehnt. Aber diese Trauer ist keine sichere Position gegen Vernichtungskriege. Aus ihr kann keine gegenseitige Anerkennung des Daseins von Völkern und Staaten hervorgehen. Ein ›Gleichgewicht des Leids‹ kann keine sicheren Existenzrechte begründen. Nur eine pluralistische Welt souveräner, territorial begrenzter Staaten kann sie bieten. Aus dieser Erkenntnis erwächst die Aufgabe, den Blick etwas zu weiten und ihn auf die Gesamtheit der Länder des Nahen und Mittleren Ostens zu richten. Das soll nicht getan werden, um irgendeinen größeren Gesamt-Schuldigen zu suchen, sondern um sich an die Fortschritte zu erinnern, die in vielen Ländern dieser Weltregion in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gemacht wurden. Eine Fixierung auf die ›Palästina-Frage‹ würde diese Fortschritte gefährden. Es würde zu einer dramatischen Verengung kommen – zu einem politischen Kurzschluss, der die Entwicklungsanstrengungen in dieser Region entwertet und zunichte macht.
Eine direkte Friedenslösung für die ›Palästina-Frage‹ ist nicht in Sicht. Beim gegenwärtigen Stand der Dinge würde jeder ›Frieden‹ für den gar nicht klar abgrenzbaren Raum ›Palästina‹ in sich schon den Keim neuer Kämpfe tragen. Das gilt auch für die oft beschworene ›Zwei-Staaten-Lösung‹. Nur in Anlehnung an einen größeren Umkreis von Staaten im Nahen und Mittleren Osten, könnte ein endloser Verdrängungskampf vermieden werden.
Daraus folgt: Für einen längeren geschichtlichen Zeitabschnitt muss die Weiterentwicklung der schon bestehenden Staaten im Vordergrund stehen. Das gilt für die Länder mit islamischer Geschichte und Prägung, und es gilt auch für Israel. Gegen die Hamas führt Israel einen gerechten Verteidigungskrieg, bei dem es um seine Existenz geht. Und da steht es gar nicht so allein, wie es scheint. Welcher Nachbarstaat kann wirklich ein Interesse an einer solchen Staatsvernichtung durch extremistische Kräfte haben? Diese Vernichtung könnte sehr leicht eine Massenbewegung auslösen, die auch Staaten des islamischen Kulturkreises in den Abgrund reißen würde. Die Kräfte, die bisher die Stabilität und die Entwicklung ihrer Länder vertreten haben, stünden dann auf verlorenem Posten. Eine solche Wendung der Dinge ist also keineswegs in ihrem Interesse. Sie haben viel zu verlieren.
Die Bedeutung der Staatsbildung
Um das zu verstehen, muss man freilich die Aufgabe der Staatenbildung besser verstehen. Und man müsste die Aufbauleistungen und Fortschritte, die es auf allen Seiten tatsächlich gibt, hervorheben. Gegenwärtig steht eher das Leiden im Vordergrund. In der massenmedialen Weltöffentlichkeit stehen sich die Konfliktparteien nur als Betroffene gegenüber. Die internationale Diplomatie scheint sich nur um die Begrenzung des Leidens auf beiden Seiten zu drehen. Aber stabile Existenzrechte können nicht einfach auf ›die Menschen‹ bezogen sein, sondern müssen sich auf souveräne, verantwortungsfähige Staaten gründen.
Die Entwicklung einer Staatenwelt im Nahen und Mittleren Osten
Das führt einerseits dazu, die Aufbauleistung des Staates Israel als ein bewundernswertes Beispiel und Vorbild für die Entwicklung in dieser Weltregion mit ihren harten Bedingungen und Knappheiten anzuerkennen, und nicht so zu tun, als wäre Israel nicht mehr als ein Gebilde, das von der Unterdrückung und Ausbeutung anderer Menschen lebt (›Apartheid«). Die ›antikoloniale‹ Hassrede, die die gesamte Geschichte der Neuzeit in eine Zerstörungs- und Totschlagslegende umschreiben will, versucht gegenwärtig, an Israel ein Exempel zu statuieren, und hier einen ›Weltfeind‹ aufzubauen. Und das findet durchaus einen Widerhall. Das zeigt die durchaus breite Zustimmung, die eine UN-Resolution zur Nahost-Krise gefunden hat, die den Vernichtungsangriff der Hamas auf Israel nicht einmal erwähnt. Doch das ist nur die eine Seite des Problems.
Auf der anderen Seite geht es auch darum, die Aufbauleistungen und Fortschritte der verschiedenen Länder des islamischen Kulturkreises im Nahen und Mittleren Osten anzuerkennen. Wer die Gesamtgeschichte dieser Region im 20. Jahrhundert betrachtet, kann nicht umhin, diese Leistungen und Fortschritte anzuerkennen. Anzuerkennen, dass sie im Rahmen einer schrittweisen Ausbildung eines Pluralismus von unabhängigen Staaten geschahen. Das bedeutet, dass sie eine eigene Leistung darstellen und es nicht nur eine das Vorbild des Westens nachahmende und von ihm abhängige Entwicklung war. Zur Begründung von Existenzrechten im Nahen und Mittleren Osten muss man daher all denen widersprechen, für die ›arabisch‹ und ›Islam‹ von vornherein nur etwas Minderwertiges oder gar Böses bedeuten. Die Länder und Menschen dieser Region haben schon gezeigt, dass sie sehr wohl zu umsichtigen Entscheidungen und guten Entwicklungen fähig sind.
Die arabisch-islamische Welt zwischen Fortschritt und Krise
Es ist noch gar nicht so lange her, dass verschiedene arabische Staaten ihren Frieden mit Israel machten und es zu Kooperationen im gemeinsamen Interesse kam. Die Palästina-Frage war nicht gelöst (und sie ist auf absehbare Zeit wohl auch nicht lösbar), aber die Bedeutung dieser Frage schien sich relativiert zu haben. Sie hinderte die verschiedenen Staaten nicht mehr daran, ihre eigenen Entwicklungsinteressen zu verfolgen. Lange Zeit hatte das Feindbild Israel vielen Regierungen im Nahen Osten als Alibi gedient, um von der wirtschaftlichen Stagnation und von der Erstarrung der Machtverhältnisse im eigenen Land abzulenken. Aber das hat sich in den letzten Jahren geändert, was auch daran lag, dass sich der Fokus der Regierenden auf die Entwicklung ihrer eigenen Länder verschoben hatte. Man suchte neue wirtschaftliche und kulturelle Betätigungsfelder, insbesondere auch in den stark vom Erdöl-Export abhängigen Ländern (Katar, Saudi-Arabien). Andere Länder wie Marokko oder die Türkei machten Fortschritte bei der Diversifizierung ihrer Industrie und der Stärkung ihrer Rolle im internationalen See- und Luftverkehr. Es kam zu gewissen politischen Lockerungen und Öffnungen, auch bei den Rechten von Frauen im öffentlichen Leben.
Ein Blick in die Geschichte lohnt sich. In den ersten Jahrzehnten nach der Erringung der Unabhängigkeit (bis in die 1970er Jahre) dominierte in vielen Ländern eine weltlich-sozialistisch orientierte Führungsschicht. Erst als diese Führungsschicht angesichts nicht haltbarer Versprechungen ermüdete und ihre Glaubwürdigkeit verlor, gewann ein politischer Islam an Einfluss. Die Führung verlagerte sich vielerorts auf religiöse Parteibildungen und Regierungen – die Übernahme des Sozial- und Bildungswesens sowie des Kultur- und Medienbereichs, spielte dabei eine wichtige Rolle. Doch nun gibt es auch bei dieser engen religiösen Führung schon seit einigen Jahren Verschleißerscheinungen – das zeigen die oben erwähnten Lockerungen und Öffnungen und macht diese bedeutungsvoll.
Es wäre aber ganz falsch, hier von einer neuen ›Aufbruchstimmung‹ zu sprechen, dazu sind die inneren Ressourcen der Länder zu knapp und der wirtschaftliche Druck von außen zu groß – zum Beispiel stehen die typischen Leichtindustrien des Mittelmeerraums unter dem ostasiatischen Konkurrenzdruck. Vor allem gibt es den immensen Druck durch das starke Bevölkerungswachstum. Vor dem harten Hintergrund dieser Knappheit bekommen kleine Fragmente von Arbeit und öffentlichem Leben – als kleine Freiheiten des Alltags – einen neuen Wert, gleichzeitig bleibt der Islam stark. Er wird als Unterpfand für die Eigenständigkeit der Länder und für die Würde ihrer Bürger verstanden. So sollte die Situation der Länder vorsichtig als Situation ›zwischen Fortschritt und Krise‹ beschrieben werden. Das ist eine Situation, in der die Menschen der arabisch-islamischen Welt jetzt durchaus etwas zu verlieren haben.
Die Situation im Gazastreifen ist ein Sonderfall
Über die Situation im Gaza-Streifen kann vieles gesagt werden. Sicher ist es richtig, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht mit der Hamas und auch nicht mit den lauten Demonstrationen auf der Straße gleichgesetzt werden darf. Aber die Situation in den Gebieten, die den arabischen Palästinensern zur Selbstregierung überlassen wurden, dürfen auch nicht mit der Situation der anderen arabischen Länder gleichgesetzt werden. Im Gaza-Streifen ist nicht einmal in Ansätzen ein Entwicklungsmodell erkennbar, das auf die eigenen Kräfte baut. Das Gebiet ist extrem abhängig von der Zufuhr von außen: von Geld, von Nahrungsmitteln, von Fahrzeugen und Maschinen, von Fachleuten. Das Gebiet wurde wie ein Lager regiert. Hier entsteht tagtäglich der Eindruck, die arabischen Palästinenser hätten nichts zu verlieren, und das ist ein Nährboden für den Extremismus. Wie könnte Israel diesen Nährboden auflösen, ohne sich selbst abzuschaffen? Ist die so oft beschworene ›Zwei-Staaten-Lösung‹ wirklich tragfähig oder nur ein Formelkompromiss? Redlicherweise muss zugegeben werden, dass eine definitive Lösung des Palästina-Problems nicht in Sicht ist. Deshalb wäre es ganz falsch, jetzt alles auf eine solche Lösung zu setzen. Auch die arabisch-islamischen Länder können ihre eigene Entwicklung nicht an eine solche Lösung der Palästina-Frage binden.
Staat und Territorium
Auf den ersten Blick erscheint die Zwei-Staaten-Lösung für das ›Palästina-Problem‹ einfach und naheliegend. Es ist eine eingängige Formel, die Gerechtigkeit für beide Seiten suggeriert. Aber sie stellt eigentlich gar nicht die für ein Staatswesen grundlegende Frage: Ist das Staatswesen in seiner Anlage tragfähig? Kann es die Existenzrechte einer ganzen Gesellschaft schützen und materiell füllen? Es muss nicht autark sein, sondern kann Außenhandel treiben und Bündnisse schließen. Um sich selbst behaupten zu können, muss es ausreichend Mittel haben, um sie im Austausch einbringen zu können. Falls dies nicht der Fall ist, wäre ein solcher Staat ständig darauf angewiesen, von äußeren oder höheren Mächten versorgt und beschützt zu werden? Er wäre auf Gedeih und Verderb auf fremde Entscheidungen angewiesen. Er wäre ein bloßes Protektorat. Das ist der große Vorbehalt, der gegen eine Zwei-Staaten-Lösung besteht: Dieser Raum ist zu eng, um zwei tragfähige, souveräne Staaten zu tragen. Ein Nebeneinander von zwei Staaten würde zu immer wieder neuen Existenzkrisen auf der einen oder anderen Seite führen. Und damit wäre der Keim zu neuen Verdrängungskriegen gelegt.
An dieser Stelle muss daran erinnert werden, dass es auch anderswo im Nahen und Mittleren Osten ähnliche Probleme gibt: wo Staaten in einzelne Teilgebiete zerfallen und es separatistische Tendenzen gibt. Man denke an den Irak, Libyen und Syrien. In einigen Ländern gibt es Bevölkerungs-Enklaven, die den Staat, in dem sie wohnen, gar nicht als ihren Staat ansehen (Libanon). Es gibt in den Großstädten mancher Länder eine entwurzelte, jüngere Generation, die zu ›ihrem‹ Staatswesen eine sehr geringe Bindung haben. Sie hat vor einigen Jahren im sogenannten ›arabischen Frühling‹ manche Länder an den Rand einer Staatskrise gebracht. Ein Teil ist auch für einen islamischen Extremismus empfänglich. Angesichts dieser Lage ist die territoriale Integrität der bestehenden Staaten im Nahen und Mittleren Osten ein kostbares Gut. Sie darf nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt, sondern muss entschieden verteidigt werden. Leider haben westliche Staaten das in der jüngeren Vergangenheit nicht getan, sondern sich berufen gefühlt, in einzelnen Ländern politisch und militärisch zu intervenieren – zum ›Tyrannensturz‹ gegen die etablierten Regierungen. Um die Folgen ihres Tuns haben sie sich nicht gekümmert, und damit mancherorts (siehe Libyen) nur den Zerfall des territorialen Zusammenhalts befördert. In anderen Ländern (siehe Ägypten) sind sie glücklicherweise nicht zum Zuge gekommen.
Wie die Massenmigration die Länder des Nahen Ostens gefährdet
In der gegenwärtigen Krise fällt auf, wie restriktiv ein Land wie Ägypten mit der Ausreise von Bewohnern des Gazastreifens umgeht, und wie es mit aller Härte eine Massenimmigration auf ägyptisches Territorium verhindert. Ägypten weiß um die destabilisierende Wirkung, die eine solche Fluchtbevölkerung auf seine innere Lage ausüben kann. In Syrien und dem Libanon ist zu sehen, wie sich eine solche Bevölkerung als politische und militärische Macht im Lande konstituiert und zum Instrument fremder Mächte (wie dem Iran) wird. Und noch etwas ist wichtig an der Haltung Ägyptens: Bei aller Härte hütet sich Ägypten davor, gegen die Migranten vordergründig zu polemisieren und sie moralisch zu verdammen. Das geschieht nicht aus Angst vor Eskalation, sondern aus Einsicht in die schwierigen Bedingungen, unter den die Menschen im Gazastreifen leben müssen. Ägypten erkennt den Ernst der Lage an und fühlt diesen Ernst mit, aber es sagt trotzdem ›Nein‹. Dieses ›Nein‹ ist nicht willkürlich und ›autoritär‹, sondern reflektiert reale Gefahren.
Das hat allgemeinere Gründe, die für den gesamten Nahen Osten und die Südanrainer des Mittelmeeres gelten. Dort sieht man sich einer jungen Überbevölkerung gegenüber, die sich sehr leicht in eine entwurzelte, nomadisierende, bindungslose, gewaltbereite Überbevölkerung verwandeln kann. Der Autor dieser Zeilen erinnert sich an eine Marokko-Reise im Herbst 2013, bei der unserer Reiseführer, der aus einem Provinzort im Süden des Landes stammte, uns die großen Bemühungen der Regierung schilderte, die junge Bevölkerung in den kleinen und mittleren Provinzstädten zu halten. Es geht also nicht nur um eine Massenimmigration von Fremden, sondern um eine Binnenmigration – eine Landflucht in die Städte, die diese in wahre Heerlager einer demografischen Reservearmee verwandeln. Diese junge Überbevölkerung ist für alle möglichen Ideologien empfänglich, die sie als Opfer der Weltgeschichte darstellen und ihnen ein Recht auf Rache zusprechen. Die Länder des Nahen Osten müssen also aus eigener Erfahrung und aus eigener Selbsterhaltung zum Palästina-Extremismus auf Distanz gehen, denn ein ähnlich bindungsloser Extremismus wächst, in der ein oder anderen Form, auch in diesen Ländern und bedroht ihre wirtschaftlichen, rechtlichen und kulturellen Errungenschaften.
Die Fortschritte arabisch-islamischer Länder
Gerade jetzt wäre es wichtig, von den Errungenschaften und Fähigkeiten der arabisch-islamischen Welt zu sprechen. Aber wer in der westlichen Politik und Öffentlichkeit tut das? Dazu müsste man ja anerkennen, dass es grundlegende Errungenschaften überhaupt gibt. Man müsste sie auch in den Punkten anerkennen, in denen sie nicht dem westlichen Weg in die Moderne entsprechen. Die Anerkennung muss also auch die Entwicklungspfade anerkennen, die aus den eigenen Traditionen der verschiedenen Länder hervorgehen. Eine Außenpolitik, die ihren Namen verdient, darf sich nicht bloß irgendwelche Rosinen westlicher Werte aus der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Gesamtheit eines arabisch-islamischen Landes herauspicken, sondern muss die Souveränität dieser Gesamtheit anerkennen. Die jetzige Krise ist der Moment, wo dies Bewerten und Hineinregieren gegenüber der arabisch-islamischen Welt ausdrücklich zurückgenommen werden sollte. Gerade jetzt käme es darauf an, die Länder der Region mit ihren spezifischen Bedingungen zu betrachten und zu verstehen.
Außenpolitik oder ›Weltinnenpolitik‹?
Die sogenannte ›wertegeleitete‹ Außenpolitik neigt immer dazu, in andere Länder hineinzuregieren. Sie ist im Grunde eine ›Weltinnenpolitik‹ und keine Außenpolitik – deren Eigenart ja darin bestehen muss, auch mit genuin anderen Ländern und Staaten zu verkehren und einen Modus vivendi zu finden..
Bloß kein ›Kulturkampf‹ gegen die arabisch-islamische Welt
Angesichts des Vernichtungs-Terrors gegen Israel mag mancher dazu neigen, die Auseinandersetzung zu ›vertiefen‹, indem man den Terror und den anschließenden Jubel darüber auf generelle ›Ursachen‹ zurückführt – auf eine ethnische Ursache (›die Araber‹) oder auf eine religiöse Ursache (›der Islam‹). Aber das schwächt den Kampf gegen den Terror, weil man ihn zu einem globalen Kulturkampf ausweitet. So werden alle Staaten und Gesellschaften der Region aufgrund einer ethnischen, religiösen, kulturellen ›Identität‹ als Feinde markiert. Ein angeblich in sich ewig gleicher ›arabisch-islamischer Kulturkreis‹ wird zum Erbfeind des Westens erklärt, und wir stecken fest in einer weltweiten Konfrontation der Kulturkreise im Sinne von Huntingtons Clash of Civilizations.
Diese Steigerung ist gefährlich, und sie ist auch unnötig. Sie zerstört die bestehenden positiven Anknüpfungspunkte für eine friedliche Koexistenz in einer pluralistischen Staatenwelt. Sie will von den Realitäten im Nahen Osten nichts wissen. Man erinnert sich noch an den schändlichen Auftritt des deutschen Fußballs bei der WM in Katar, wo man das Land wegen Ausbeutung und sexueller Unfreiheit an den Pranger stellen wollte. Funktionäre, Journalisten und Spieler verletzten grob das Gastrecht und den Sportsgeist der ersten Fußball-Weltmeisterschaft in dieser Region. Und der Vorsitzende des Deutschen Fußball Bundes fordert jetzt eine ›europäische Koalition‹ gegen die Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft 2034 an Saudi-Arabien.
Nicht eine, sondern zwei Aufgaben
Die deutsche Außenpolitik muss in der gegenwärtigen Krise zwei Aufgaben im Blick haben. Es ist unbedingt wichtig, Israel in seinem Vorgehen gegen den Terror nachhaltig zu unterstützen. Hier darf es keine faulen Kompromisse geben, wie es die deutsche Stimmenthaltung in der oben erwähnten UN-Abstimmung war. Innenpolitisch muss der Schutz jüdischer Einrichtungen und Bürger wirklich durchgesetzt werden. Der Schutz darf nicht durch eine ›neutrale‹ Haltung der Behörden verwässert werden. Die deutsche Politik wird nicht daran gemessen werden, welche ›Lehren‹ aus der Vergangenheit sie verkündet, sondern daran, welche Taten die deutsche Staatsräson hier und jetzt zustande bringt.
Aber es gibt eine zweite Aufgabe. Die deutsche Politik muss dazu beitragen, dass die gegenwärtige Verengung auf die Palästina-Frage aufgebrochen wird. Es geht um die Einsicht, dass es im Nahen Osten Errungenschaften und Interessen gibt, die weiter führen als der Palästina-Konflikt. Dazu braucht Deutschland ein positives, konstruktives Verhältnis zu den Ländern der arabisch-islamischen Welt. Es muss der Verführung zu einem Kulturkampf widerstehen. Gegen die Massenimmigration aus dem Süden müssen endlich harte Grenzen gezogen werden, aber das darf nicht mit einer wertenden Einmischung in die inneren Verhältnisse der Staaten der Region verbunden werden. Wird die jetzige Politik des erhobenen moralischen Zeigefingers weiterverfolgt, wird auch die Erfüllung der ersten Aufgabe scheitern. Denn dann wird der Kampf gegen den Terror als Hegemonialkrieg des Westens gegen die islamische Welt erscheinen. Das wäre verheerend. Dagegen hilft nur eine positive Grundeinstellung zu dieser Welt. Und ein ausdrücklicher Abschied von der Außenpolitik des erhobenen Zeigefingers.
Ist das nicht zu viel verlangt?
Kann man in dieser Zeit verlangen, zwei verschiedene Aufgaben zu bearbeiten, die nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind? Wo doch das heute dominierende Denken nur das ›eine‹ Gute und das ›eine‹ Böse wahrhaben will.