von Ulrich Schödlbauer

1.

Dem kanadischen Premierminister Justin Trudeau wird nachgesagt, der erste ›woke‹ Regierungschef eines Landes der westlichen Hemisphäre zu sein (man darf davon ausgehen, dass die Bezeichnung in Staaten außerhalb des Westens keinen nachvollziehbaren Sinn ergibt). Der überschlagende Eifer, mit dem der Engel der sexuellen und sonstigen Minderheiten die protestierenden Berufskraftfahrer seines Landes bekämpft, Leute, die nichts weiter wollen als wegen einer ›Pandemie‹ von der Gefährlichkeit einer Grippe nach zwei Jahren nicht länger auf ihr normales Leben zu verzichten, gibt zu denken. Just Fernfahrer wissen, dass Überwachheit kein vertrauenerweckender Zustand ist, wenn jemand am Steuer eines schweren Fahrzeugs sitzt. Jedenfalls ist sie das genaue Gegenteil jener Aufgewecktheit, die nun einmal am besten durch die Fährnisse des politischen und gesellschaftlichen Lebens geleitet. Wer Konflikte, die in jeder Gesellschaft brodeln, aber gewöhnlich unter der Decke von Gleichheitsgesetzen sowie des allgemeinen Wohlverhaltens dem privaten Leben seine Aufgeregtheiten und damit Sinn verleihen, auf der Ebene forcierter Gemeinschaft lösen möchte, der schärft sie an und verleiht ihnen am Ende eine Dimension, in der sie nicht mehr lösbar erscheinen.

2.

Der Clou aller Gemeinschaft ist der Ausschluss der ›Anderen‹, der Andersartigen aus dem großen Wir, das sich an die Stelle des kleinen Wir derer setzt, die täglich ihre Aufgaben und Probleme miteinander bewältigen müssen und dies in der Regel auch ohne größere Prellungen leisten. Das große Wir, einmal in Stellung gebracht, sucht sich seine Aufgaben selbst. Das heißt, es schwebt als Drohung über dem Alltag der Einzelnen, ein Wohlverhalten erzwingend, das im Kern mysteriös bleibt. Niemand weiß heute, wohin das Wir morgen steuert. Aber auch heute, in Kenntnis aller ausgegebenen Regeln, kann niemand sicher sein, sie auch richtig, soll heißen, ihrem eigentlichen Sinn gemäß, zu interpretieren. Um ein naheliegendes Beispiel zu wählen: Es ist nicht möglich, eine medizinische Maske im allgemeinen Lebensalltag effektiv, ihrem medizinischen Zweck entsprechend, zu tragen. Macht sich also jeder schuldig, der die ausgegebene Regel nicht verletzt, aber den Zweck der Regel? Vor welchem Forum wird eine solche Schuld verhandelt? Dem des Gewissens? Vor vertraulich tagenden Beschlussgremien, die das fortwährende Verfehlen des Zwecks zum Anlass nehmen, um immer neue Sanktionen über die Bevölkerung zu verhängen? Denn Maßnahmen, die keinem anderen Zweck dienen als dem, die mangelnde Effektivität bereits verhängter Maßnahmen zu kaschieren, sind Sanktionen, das heißt Strafmaßnahmen.

3.

Das Regime der Gemeinschaft ist ein Regime, das mittels Sanktionen fortexistiert, Gemeinschaftsregime ist Sanktionsregime. Damit ist nicht der rechtliche Gemeinplatz gemeint, dass Gesetze sanktioniert sein müssen, um zu greifen. Hier geht es nicht um die Geltung von Recht und Gesetz, sondern um das Gesetz forcierter Geltung: Jemand beschließt, was gilt, und alle richten sich daran aus. Es zählt der Beschluss. Ich, der Einzelne, füge mich nicht einer allgemeinen und hoffentlich wohlerwogenen Regel, ohne mich in meinem restlichen Leben davon beeindrucken zu lassen, sondern ich stelle mein Leben unter den Beschluss, dessen allgemeine Befolgung zu meinen wesentlichen Anliegen zählt, im Extremfall vielleicht sogar alle anderen dominiert. In der Gemeinschaft ist jeder für jeden verantwortlich. Der italienische Ministerpräsident Mario Draghi hat das richtig erkannt, als er die unverfrorene Formel gebrauchte: »Die Ungeimpften sind nicht Teil unserer Gesellschaft.« Man könnte sagen: Das ist die Sprache der Mafia. Ob das so stimmt, weiß keiner, der nicht dazugehört. Eines jedenfalls ist sicher: In dieser Art von Gemeinschaft ist die liberale Gesellschaft, in der das Gesetz die Freiheit des Einzelnen garantiert, erloschen. Demokratie ist Freiheit in der Bewegung.

4.

Der gängige Einwand lautet: In Krisenzeiten rückt die Gesellschaft zusammen und besinnt sich auf die Tugenden der Gemeinschaft. Die Tugend aller Tugenden der Gemeinschaft heißt Opferbereitschaft. Der Einzelne ist bereit, Opfer zu bringen, wenn alle leiden. Hinter dem offenbaren Sinn steckt ein gar nicht so geheimer, der Regierenden aller Zeiten geläufig zu sein scheint. Je sinnferner die von Regierungen beschlossenen Maßnahmen, desto fanatischer der Opferglauben derer, die sonst die Welt nicht mehr verstehen. Das beste Opfer, dies nebenbei, ist selbstverständlich das vom Nachbarn zu erbringende. Religionsgemeinschaften erzeugen die von ihnen benötigten Fanatiker, indem sie den Menschen absurdes Zeug zu glauben aufgeben: Credo quia absurdum. Wir lassen keinen Widerspruch gelten. Das ist, als persönliche Attitüde, das Ende der Privatheit, so wie es als patriarchalische Maxime einmal an ihrem Anfang stand. Wenn Staaten und gesellschaftliche Gruppen sich gegenseitig im Erfüllungseifer überbieten, sprechen Ethnologen von Potlatsch: Man ruiniert sich ohne Rücksicht auf die Folgen, weil man der anderen Seite um keinen Preis etwas schuldig bleiben möchte. Auch dabei handelt es sich um eine Weise, im Verbund zu reisen. Wohin die Fahrt auch gehen mag – zurückbleiben will keiner. Es ist so kalt im leeren Land.

5.

Politik der Massen lebt von Versprechungen. Sie sollen das Problem der Führerschaft lösen. Das zugrunde liegende Kalkül lautet: Wer realistische Ziele vorschlägt, der kann auch führen. Das klingt doppelbödig wie alle Politik – Realist ist, wer weiß, welche Ziele erreichbar sind und welche nicht. Realist ist aber auch, wer weiß, mit welchen Versprechen man die Massen auf seine Seite bringt. Und diese beiden Realismen haben nicht das Geringste miteinander zu tun. Sie stehen aber in einem Spannungsverhältnis: Wer bloß den einen zu bedienen weiß, der … ja der hat bald ausgedient. Projekte, wie jede Partei sie vor Wahlen auflegt, sollen die Spannung in eine treibende Kraft verwandeln. Projekte zeigen das Ziel und den – oder einen – möglichen Weg; darin liegt ihr besonderer Charme. Dennoch enthalten auch sie ein leeres Versprechen: Jeder soll mitmachen können. Die Betonung liegt auf dem ›kann‹: Wer mitmachen kann, der kann auch fernbleiben und sein eigenes Ding durchziehen. Dafür gibt es sogar gute Gründe. Es ist kein Projekt denkbar, in dem Gesellschaft vollständig aufgehen könnte. Ein Projekt für alle stellt eine Vergewaltigung der Gesellschaft dar – ihre Verwandlung in Gemeinschaft. Was man aus aktuellem Anlass Spaltung der Gesellschaft nennt, ist der auf Ausgrenzung beruhende Versuch, sie zur Gemeinschaft umzuformen.

6.

Der Versuch, man muss es zugeben, ist in Deutschland weit gediehen. Das liegt unter anderem daran, dass mit Angela Merkel eine Person die Regierungsgeschäfte führte, die das Instrumentarium der Angst perfekt zu bedienen wusste: Angst ums Geld, Angst vor der Kernschmelze, Angst vor dem Wiederaufstieg der ›Faschisten‹, Angst vor der ›Klimakatastrophe‹, schließlich die unheimlichste unter allen, die Virenangst als ›wissenschaftliches‹ Substrat des Dämonen- und Gespensterglaubens. Es liegt auch daran, dass sie in einer untergegangenen Gemeinschaft ›gut und gern‹ gelebt hatte. Die Geister der Vergangenheit kommen, wie Claqueure ohne Zahl (und oft genug ohne Gesicht) in Ost und West bezeugen, in der Erlebnisgeneration nicht zur Ruhe. Im politisch-administrativen Raum zirkuliert genügend einschlägiges Know-how, von dem die Sieger von 1989/90 einst dachten, die Geschichte hätte es entsorgt. Dabei liebt die Geschichte die Wiederholung, das Wieder-Herausholen des Vertrauten. Längst sind die im ersten sozialistischen Experiment auf deutschem Boden zu Bruch gegangenen Dächer geflickt, Regimeopfer als Zeitzeugen aus Trigger-Rücksichten aus der Öffentlichkeit entfernt, die Biographien… Das Neue vom Neuen verdrängt das Neue vom Alten, das noch irgendwo schlummert, der Generationswechsel sorgt für neue Dynamik, sprich Offenheit. Die neue Linke ist, man hört es, weit offen. Sie ist auch nicht mehr die Linke, sondern das, was uns verbindet.

7.

Omikron, die endemisch gewordene Variante eines mutmaßlich experimentell erzeugten ›Killervirus, der die Welt in Atem hält‹, erteilt auch eine Lektion in Sachen Ideologie: Irgendwann, nach soundsoviel Mutationen, infiziert eine Ideologie jeden für diese Art der Gedankenbewegung Empfänglichen. Es ist alles eine Frage der Mutationen. Ebenso wie Viren besitzen Ideologien kein Eigenleben, soll heißen, sie entwickeln sich nicht anhand von Sachlogik, sondern bedürfen des Wirts, sprich der Erregungs- und Kampfbereitschaft derer, die ihnen verfallen. Nicht wenige bezahlen die Krankheit mit dem sozialen und physischen Ruin. Am Ende der Verwandlungen aber steht die Leichtversion, mit der sich mehr oder weniger erfolgreich leben lässt. Die Erben der Bilderstürmer sind Rahmenverkäufer. Framing, das Kunstwort eines angeschlagenen Journalismus, der nicht leben und nicht sterben kann, bringt die Sache auf den Begriff. Die Pandemie geht, sie diffundiert hinweg, zurück bleibt ein neues ›Framing‹ für die Politik: einseitig der Sorge, dem ›Mothering‹ zugewandt, freiheitsfeindlich, antiliberal, ausgrenzend, mit der Tendenz, auf die privaten Lebenszustände durchzugreifen, die perfekte Rahmung für das, was ansteht, aber im eingefleischten Realismus der Leute, die zäh an ihren Interessen hängen, regelmäßig stecken blieb. Wenn das Deutschland der Merkel-Zeit zur Insel der Großen Mutter mutierte, dann liegt das auch an einer Jungen Garde, die das Pfui-Wort ›Kollektiv‹ nie in den Mund nehmen würde, aber ›weibliche Politik‹ gerade für das hielt und hält, was weltgeschichtlich ansteht.

8.

Projekte sind so gut wie die Projektionen, mit denen ihre Betreiber sie unterfüttern. Den Klimapropheten vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, kurz PIK genannt (»… nur ein Pieks«) ist das ebenso geläufig wie den Auguren des RKI oder jenen klugen Köpfen, die von Zeit zu Zeit für eine politikgerechte Aufbereitung der IPCC-Materialien sorgen. Insofern ist auch das staatliche Impfprojekt, das die gegenwärtige Regierung mit einem Federstrich hätte entsorgen können, während sie es sich als Mühlstein um den Hals hängte, auf ›gute‹ Prognosen angewiesen. Das wissen ihre Gegner und sie wissen auch, dass sie den ›Impfbefürwortern‹ über kurz oder lang ausgehen werden. Das wissen auch die Leute, die auf den Straßen protestieren und dafür vollmundig aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Es ist nicht allein eine Machtfrage (»wir sind mehr« – wer auch immer), es ist auch eine Frage erodierender Gutgläubigkeit auf Forscher- und Konsumentenseite. Ein Gesundheitsminister, zu dessen Eigenschaften die konzise Rede nun einmal nicht gehört, dient da vielen als Augenöffner. Vor allem aber ist es keine Frage, die innerhalb von Landesgrenzen entschieden würde. Wenn es stimmt, dass die semi-gewaltsame Impfkampagne bestimmten Interessen dient, dann stimmt es ebenfalls, dass sie mächtigen Gesellschaftsgruppen gewaltigen Schaden zufügte und immer noch zufügt. Das Rückspiel steht noch aus.

9.

Im Zeichen von Omikron mutiert der Staat zum Auftragnehmer einer Ideologie, die sich in seinen Organen eingenistet hat, nicht als Krankheit zum Tode, wie viele hoffen, die täglich die Totenglocke des Systems läuten, sondern als Sozialisationsagent. Dazu muss sie kurz und handlich sein. Man wird Omikron als Chiffre, als zu entziffernde Zeichenfolge für den Zustand der politischen Welt betrachten müssen. Wir werden dieses Omikron nicht mehr loswerden. Nur wer nicht zu uns gehört, wird das bezweifeln. Omikron ist die Kristallisationsform der Gemeinschaft, die vom auf Dauer gestellten Gesinnungsverdacht lebt. Allerdings wird es sich als zweckmäßig empfehlen, einen bestimmten Bevölkerungsanteil, sagen wir: den nicht-männlichen, genauer: den nicht-cis-männlichen Teil vom Gesinnungsverdacht auszunehmen. Wer, sagen wir, Frau ist, kann in den wesentlichen Fragen des Lebens nicht irren. Wer aber Frau ist, darüber entscheidet bekanntlich nicht die Biologie, sondern die Gesinnung. Soll heißen, wer nicht dem Regenbogen angehört, der hat eigentlich nichts zu sagen. Wer darin einen Widerspruch zur anhaltenden Männerdominanz in öffentlichen Belangen sieht, der hat von Ideologie nichts verstanden. Wenn es ›weiblich‹, ›homosexuell‹, ›divers‹ etc. ist, ›Weltinnenpolitik‹ zu betreiben und den Planeten zu retten, dann ist die Sorge um das reale Virus im Kern ebenso davon infiziert wie das Davoser Weltfestival der Zukunftsmacher. Manchen mag das an die mythische Figur des Arbeiters im Arbeiter-und-Bauern-Staat erinnern. Immerhin lehrt die Geschichte des proletarischen Klassenbewusstseins, dass man die Herrschaft einer Ideologie zwar verachten, aber nicht gering schätzen darf. Das ›scharfe Schwert‹ ist kein gefügiges Werkzeug. Es kann sich jederzeit gegen den wenden, der es schwingt. Nie wieder wird Omikron, so harmlos es in der Realität sein mag, in den Regalen des ›normalen Grippegeschehens‹ verschwinden. Nie wieder wird, wer nicht zum Regenbogen geht, die Geschicke dieser Welt bestimmen.

Doch auch das gilt nur für eine begrenzte Spanne.

 

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