von Johann Lauer

›Hört auf die Wissenschaft‹ ist das Motto sowohl in der Corona- als auch in der Klimapolitik. Dies ist kein neues Motto. Die Verwissenschaftlichung der Politik schreitet seit dem 19. Jahrhundert voran. In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts kam es schon einmal zu einer regelrechten Überhöhung der Wissenschaft. Damit einher ging die Beliebtheit des technokratischen Politikberatungsmodells.

In diesem Artikel werden vor allem die prinzipiellen Grenzen bestehender Politikberatungsmodelle thematisiert. Zweitens wird ein anderes, ein komplementäres Modell vorgestellt. Wissenschaft kann aus prinzipiellen Gründen nur hypothetisches Wissen begründen. Die Wenn-dann-Tiefenstruktur des Wissens ermöglicht keine definitiven Entscheidungen. Erst recht kann die Wissenschaft weder verbindliche Entscheidungen treffen noch für die damit verbundenen Folgen die Haftung übernehmen. Die politischen Institutionen eines Staates können erstens verbindliche und definitive Entscheidungen vornehmen, gleichzeitig auch für die Folgen haften. Daher plädiere ich für ein komplementäres Modell der Politikberatung, in dem jedes Subsystem, Politik und Wissenschaft, seine Aufgaben möglichst gut erfüllt.

Modelle der Politikberatung: technokratische, dezisionistische und pragmatische Politikberatungsmodelle

Innerhalb der Wissenschaft werden drei unterschiedliche Politikberatungsmodelle erörtert: technokratische, dezisionistische und pragmatische Modelle. Im Zentrum dieser Modelle steht die Frage, wie man das Verhältnis zwischen praktischer Politik und Wissenschaft gestalten sollte. Welchen Stellenwert sollten wissenschaftliche Erkenntnisse haben? Welchen Wert sollte Wissenschaft für die praktische Politik haben?

Zwei Legitimationsquellen von Politikberatungsmodellen, die zu Legitimationsdilemmata führen, werden dabei besonders hervorgehoben: einmal die demokratische Legitimation und zweitens die epistemische Legitimation bzw. die sachliche Expertise. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist bei Letzterer in der Regel die wissenschaftliche Expertise gemeint. Deshalb spricht man auch von einer Technokratisierung oder Verwissenschaftlichung der Politik wie der Lebensverhältnisse überhaupt. Die Legitimation bildet daher das zentrale Problem der Politikberatung: »Es besteht ein grundsätzlicher Konflikt zwischen der Legitimation durch Delegation (Repräsentation) und dem Einfluss von politisch nicht legitimierten wissenschaftlichen Beratern (Experten) auf die Entscheidungsträger«, so Peter Weingart.

Zur Lösung dieses Legitimationsdilemmas wurden drei verschiedene Politikberatungsmodelle vorgeschlagen. Diese drei Politikberatungsmodelle bestimmen, wie eine Vielzahl von Wissenschaftlern das sieht, nach wie vor sowohl die politische als auch die wissenschaftliche Diskussion.

Einige Wissenschaftler insbesondere in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts aber auch in der jetzigen Corona- und Klimadebatte betonten die Bedeutung der sachlichen Expertise und neigen daher einem technokratischen Modell zu, wonach die Wissenschaft das letzte Wort hat. Hier fällt sofort die fehlende demokratische Legitimation ins Auge. Während das dezisionistische Modell zwar eine demokratische Legitimation haben könnte, fehlt hier aber die sachliche Expertise.

Jürgen Habermas hat ein pragmatisches Modell vorgeschlagen, das die Vorteile des technokratischen und des dezisionistischen Modells vereinen soll und deren Nachteile überwinden könnte. In vielen Handbüchern über Politikberatung wird dieses Modell nicht nur erörtert, sondern von den meisten Wissenschaftlern bevorzugt. Auch in der praktischen Politik wird es angewendet, so greift die EU-Kommission ebenfalls auf das pragmatische Modell zurück und plädiert für eine Demokratisierung der Expertise (democratising expertise) und eine Verwissenschaftlichung der Demokratie (expertising democracy).

Kritik der drei Politikberatungsmodelle

1. Dezisionistisches versus technokratisches Modell der Politikberatung

Das dezisionistische Modell der Politikberatung löst das Legitimationsdilemma auf, indem es dafür plädiert, dass den politischen, demokratischen Institutionen die endgültige und damit letzte Endscheidungsmacht zukommen solle. Die politischen Institutionen oder der Staat müssen ja auch die Haftung für die Folgen dieser Entscheidungen tragen. Der große Nachteil dieses Modells ist die mangelnde sachliche Expertise. Aufgrund der Komplexität moderner Gesellschaften dürften die politischen Repräsentanten kaum adäquate Fachkenntnisse in allen Bereichen aufweisen. Dieser berechtigte Einwand führte zu einem anderen Modell.

Die Vertreter des technokratischen Modells setzen vor allem auf die höhere Rationalität wissenschaftlicher Erkenntnisse oder bessere sachliche Expertise der Wissenschaft und plädieren für eine Verwissenschaftlichung der Politik. Eine Verschmelzung von Politik und technischer Sachlogik wird propagiert, so dass Helmut Schelsky auf dem Höhepunkt der Planungseuphorie der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts die Aufgabe eines Staatsmanns in einem technischen Staat wie folgt beschreibt:

»Für diesen ›Staatsmann des technischen Staates‹ ist dieser Staat weder ein Ausdruck des Volkswillens noch die Verkörperung der Nation, weder die Schöpfung Gottes noch das Gefäß einer weltanschaulichen Mission, weder ein Instrument der Menschlichkeit noch das einer Klasse. Der Sachzwang der technischen Mittel, die unter der Maxime einer optimalen Funktions- und Leistungsfähigkeit bedient sein wollen, enthebt von diesen Sinnfragen nach dem Wesen des Staates. Die moderne Technik bedarf keiner Legitimität; mit ihr ›herrscht‹ man, weil sie funktioniert und solange sie optimal funktioniert. Sie bedarf auch keiner anderen Entscheidungen als der nach technischen Prinzipien; dieser Staatsmann ist daher gar nicht ›Entscheider‹ oder ›Herrschender‹, sondern Analytiker, Konstrukteur, Planender, Verwirklichender.«

Das technokratische Modell hat nun eindeutig ein demokratisches Legitimationsproblem oder wie Schelsky meint, moderne Technik bedürfe keiner Legitimität, da nicht gewählte Wissenschaftler oder gar anonyme wissenschaftliche Institutionen für alle verbindliche Entscheidungen treffen.

Die Verwissenschaftlichung der Politik, die – wie bereits erwähnt – vor allem Mitte des 20. Jahrhunderts die Planungseuphorie befeuerte und heute in der Klima- und Coronapolitik wieder aktuell ist, wich recht schnell einer Ernüchterung. Man kann mit wissenschaftlichen Methoden mehrere Alternativen, ja sogar gegensätzliche Alternativen begründen. Gutachten und Gegengutachten führen nach wie vor zu einer Delegitimation der Wissenschaft, weil verschiedene Parteien mit unterschiedlichen Interessen zu einer Politisierung oder Indienstnahme der Wissenschaft beitragen:

»Mit jedem Wissen potenziert sich das Nicht-Wissen, so wie jede Expertise eine Gegen-Expertise provoziert. Der Zuwachs an Experten und die fortschreitende Kolonialisierung weiter gesellschaftlicher Bereiche durch immer mehr Expertenkreise führt zu einer Delegitimierung und einer ›Entzauberung‹ nicht der Welt, sondern der Experten selbst«, so Rainer Schützeichel.

Ein weiteres, ein epistemisches Problem kommt noch hinzu: Wer bestimmt den Stand der Wissenschaft oder wie kann dieser bestimmt werden? ›Die Wissenschaft‹ gibt es nicht, dies ist eine völlig irrige Vorstellung, die leider insbesondere in den Medien verwendet wird. Es gibt nur Wissenschaftler, die mit Hilfe einer wissenschaftlichen Methodologie Wissen generieren. Auch die angesehensten Wissenschaftler, die in Akademien tätig sind oder Regierungen beraten, können Fehler machen oder einen überholten Stand der Forschung propagieren. Weiterhin ändert sich der Stand der Forschung ständig.

Wissenschaft kann aufgrund prinzipieller Grenzen wissenschaftlicher Methodologie nur hypothetische, aber keine definitiven Antworten geben. Politisches Handeln und Entscheiden erfordern aber definitive Antworten. Definitive Antworten können indes mit der Autorität der Wissenschaft nicht begründet werden. Während das dezisionistische Modell der Politikberatung die Autonomie des Politischen respektiert, verletzt es die Autonomie der Wissenschaft. Beim technokratischen Modell verhält es sich umgekehrt.

2. Pragmatisches Modell der Politikberatung

Als Ausweg aus dem Dilemma zwischen Dezisionismus und Technokratie wurde von Jürgen Habermas das pragmatische Modell der Politikberatung vorgeschlagen. Dieses Modell will die Vorteile demokratischer Partizipation und wissenschaftlicher Expertise ermöglichen, also Dezisionismus und Technokratie zusammenführen, und gleichzeitig die oben angeführten Nachteile verhindern. Wenn Politiker hoffen, dass ›die‹ Wissenschaft und demokratisch gewählte Politiker gemeinsam die einzig wahre, gerechte und effiziente Lösung finden könnten, dann vertrauen sie also dem pragmatischen Politikberatungsmodell. Peter Weingart unterscheidet für die wissenschaftliche Politikberatung im 20. Jahrhundert drei nicht notwendig diachrone Phasen: Verwissenschaftlichung der Politik, Politisierung der Wissenschaft und Demokratisierung der Expertise. Eine Lösung des Legitimationsdilemmas kann er völlig zu Recht in keiner Phase erkennen:

»Das Spannungsverhältnis der verschiedenen Rationalitäten von Wissenschaft und Politik, die sich in den Legitimationsdilemmata äußern, lässt sich kaum ›lösen‹«.

Auch das pragmatische Modell der Politikberatung vermag also nicht, sowohl der Autonomie der Politik als auch der Autonomie der Wissenschaft gerecht zu werden. Dies kann nach meiner Meinung ein komplementäres Modell der Politikberatung leisten.

Prinzipielle Grenzen des Wissens

Das technokratische Modell hat neben dem demokratischen Defizit ein mindestens genauso wichtiges epistemologisches Defizit: Im Folgenden werden die zwei wichtigsten behandelt, die die prinzipiellen Grenzen des Wissens schlechthin begründen: die Wenn-dann-Tiefenstruktur wissenschaftlicher Forschung sowie das Unmöglichkeitstheorem oder Arrow-Paradoxon.

Die Grenzen zwischen Wissen und anderen Formen der Erkenntnis werden von der Methodologie festgelegt. Seit der Antike haben wir es diesbezüglich mit einer enormen Ausweitung zu tun, da eine Vielzahl von Methodologien weiterentwickelt wurde und neue Innovationen hinzukamen. Die größten Fortschritte erzielte man im 20. Jahrhundert. Neben der Ausweitung findet aber häufig auch eine Begrenzung der wissenschaftlichen Möglichkeiten statt durch die Entdeckung neuer prinzipieller Grenzen der Rationalität und damit der Wissenschaft.

Wie bereits oben konstatiert, kann Wissenschaft aus prinzipiellen Gründen nur hypothetisches Wissen begründen. Die Wenn-dann-Tiefenstruktur des Wissens ermöglicht keine definitiven oder verbindlichen Antworten geschweige denn Entscheidungen. Sie erinnert daran, dass innerhalb der Wissenschaft keine absoluten Erkenntnisse formuliert und begründet werden, sondern dass nur hypothetische und relative Wenn-dann-Relationen begründet werden können. Trotzdem führt dies nicht zu einer antiveritativen Position, wie Anhänger des Skeptizismus behaupten. Es wird also keine Relativität des Wahrheitsanspruches postuliert, sondern die Beziehung zwischen Voraussetzung und Folge enthält einen absoluten Wahrheitsanspruch,. Es handelt sich bei wissenschaftlichen Analysen um die Erkenntnis von Sachverhalten unter Voraussetzungen:

»Analysiert man nämlich eine solche Aussage auf ihre Tiefenstruktur hin, so zeigt sich dabei fast immer ein Gebilde vom Typus der hypothetischen Aussage, also einer Wenn-Dann-Aussage. Mit ihrer Hilfe läßt sich nicht behaupten, irgend etwas sei schlechthin der Fall, sondern immer nur, es sei der Fall, wenn bestimmte Voraussetzungen gegeben sind. […] Die hypothetische Tiefenstruktur der theoretisch-wissenschaftlichen Aussage zeigt, entgegen einem verbreiteten Mißverständnis, durchaus keine Relativität ihres Wahrheitsanspruches an. Zwar wird der Geltungsanspruch jeder Elementaraussage gleichsam relativiert, wenn sie mit einer Hypothese verknüpft wird und nur noch als Glied derartiger Verknüpfungen von Interesse ist. Wenn man jedoch die Existenz einer entsprechenden Beziehung zwischen Voraussetzung und Folge behauptet, so ist wenigstens mit dieser Behauptung der Anspruch verbunden, schlechthin und ohne Einschränkungen zu gelten. Die neuzeitliche Wissenschaft hat es daher nicht einfach mit der Erkenntnis von Sachverhalten, sondern mit der Erkenntnis von Sachverhalten unter Voraussetzungen zu tun«, so Wolfgang Wieland.

Nun wird die Wenn-dann-Struktur wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht selten sogar von den Wissenschaftlern unterschlagen, die es eigentlich besser wissen müssten. Die Ergebnisse werden oft so kommuniziert, als handele es sich räumlich und zeitlich um allgemeingültige Erkenntnisse. Diese falschen Darstellungen beginnen dann mit folgenden Worten: ›Wissenschaftler haben herausgefunden, dass y wahr ist‹. So können zwar universelle, kontextfreie Erkenntnisse formuliert werden, aber wenn man den Kontext sowie den hypothetischen Charakter des rational begründeten Wissens berücksichtigt, muss die Formulierung folgendermaßen lauten: ›Wissenschaftler haben herausgefunden, wenn x1, x2 … xn wahr sind, dann ist y wahr‹. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass damit keine Relativierung des Wahrheitsanspruches einhergeht, dass diese Wenn-dann-Relation absolut gilt und zwar in einermöglichen Welt oder in einem mathematisch-logischen Modell. Ob sie in der realen Welt gilt, ist eine andere Frage.

Auf jeden Fall kann man behaupten, dass man damit zwar keine universelle Wahrheit, aber eine Annäherung an die Wahrheit der realen Welt formuliert hat. Die Wenn-dann-Struktur des Wissens ermöglicht daher, hypothetische Erkenntnisse zu formulieren, ohne auf das Ideal der Wahrheit zu verzichten. Ein Relativismus des Wahrheitsanspruches oder gar eine antiveritative Position ist nicht notwendig, sondern würde der Wissenschaft einen Bärendienst erweisen.

Empirie und Rationalität sind die übergeordneten Prinzipien, denen wissenschaftliche Forschung genügen muss, da wissenschaftliche Theorien aus einem logisch-mathematischen Formalismus und einer empirischen Interpretation der (politischen) Realität bestehen. Wissenschaft erfordert sowohl eine rationale Formalisierung und eine ebensolche Vorgehensweise als auch eine empirische Verankerung. Nicht nur bei der Erkenntnis des Seins, sondern auch bei der Legitimierung eines Sollens sind diese Prinzipien grundlegend.

Folgende allgemeinen Kriterien werden von der Mehrheit der Wissenschaftlern anerkannt:

a) Intersubjektivität (Transsubjektivität): Wissenschaft sucht nach Wegen, auf denen sie Begründungen findet, die jeder vernünftige und sachkundige Mensch nachvollziehen kann.

b) Objektivität: Subjektive Wünsche oder Vorurteile dürfen nicht in die Arbeit einfließen, sondern nur intersubjektive Gründe.

c) Reliabilität (Verlässlichkeit): Die Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen sollten unter den gleichen Bedingungen reproduzierbar sein.

d) Validität: Ein wissenschaftliches Ergebnis muss ein argumentatives Gewicht besitzen und methodisch-logische Qualitätskriterien erfüllen. Argumentative, logische, methodische und sprachliche Präzision sind erforderlich. Dabei wird zwischen interner Validität (Glaubwürdigkeit und Authentizität) und externer Validität (Transferierbarkeit oder Passung) unterschieden.

Die zentrale Frage oder das Dilemma sozialer Wohlfahrt ist, wie kann man individuelle Präferenzen zu sozialer Wohlfahrt aggregieren oder kann es eine objektive Aggregation individueller Präferenzen zu einer sozialen Wohlfahrt geben? Wenn dies gelänge, gäbe es auch eine wissenschaftliche – wohlgemerkt nicht demokratische – Legitimation der Handlungen, die mit diesem Ansatz begründet werden könnten.

Kenneth Joseph Arrow zeigt, dass eine Aggregation individueller Präferenzen zu sozialer Wohlfahrt aus prinzipiellen Grenzen weder demokratischen noch rationalen Gründen genügen kann. Eine positive Antwort ist aus prinzipiellen Gründen nicht möglich, dies ist die zentrale Botschaft des Unmöglichkeitstheorems oder des Arrow-Paradoxons. Sie ist laut Arrow unmöglich, da sie entweder willkürlich oder diktatorisch ist. Damit genügt sie weder rationalen noch demokratischen Kriterien. Kein Entscheidungsverfahren ist in der Lage, gleichzeitig alle folgenden Anforderungen zu erfüllen:

a) Universalität/Vollständigkeit: Alle logisch gerechtfertigten Präferenzordnungen der Individuen sollen zugelassen werden.

b) Transitivität: Wenn jemand die Alternative x der Alternative y und y gegenüber z vorzieht, dann soll x gegenüber z vorgezogen werden und auch die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit muss zu dieser Entscheidung kommen und konkret x gegenüber z vorziehen, sofern dies die Mehrheit der Mitglieder tut.

c) Unabhängigkeit: Irrelevante Alternativen dürfen den Entscheidungsprozess nicht beeinflussen.

d) Souveränität: Die soziale Wohlfahrtsfunktion darf nicht von außen vorgegeben werden.

e) Keine Diktatur: Ein Individuum darf die Rangordnung nicht diktieren. In der Gesellschaft darf kein Diktator in Erscheinung treten, der die Rangordnung manipuliert.

Ein komplementäres Modell der Politikberatung

Ein komplementäres Modell der Politikberatung ist nach meiner Meinung besser geeignet, sachliche Expertise und demokratische Legitimation zu vereinen. Wissenschaft und Politik sollten als komplementäre Systeme mit unterschiedlichen Aufgaben, Kompetenzen und Funktionslogiken aufgefasst und verstanden werden. Damit kann sowohl die demokratische als auch die epistemische Legitimation gelingen, da die Autonomie beider Bereiche akzeptiert und nicht durch andere Funktionslogiken in Frage gestellt wird.

Für eine Trennung der verschiedenen Aufgaben setzt sich auch Weber ein: »(P)raktisch-politische Stellungnahme und wissenschaftliche Analyse politischer Gebilde und Parteistellung ist zweierlei«.

Aufgabe der Wissenschaft innerhalb des komplementären Modells der Politikberatung

Aufgrund der Grenzen wissenschaftlicher Diskurse kann Wissenschaft nie definitive, sondern nur hypothetische Auskünfte geben. Wissenschaft kann mit Hilfe wissenschaftlicher Werkzeuge Diskurse führen und hypothetische Antworten auf politisch-praktische Fragen in Form von empirischem (deskriptivem, explanativem und prognostischem) und praktischem (normativem, pragmatischem und technischem) Wissen begründen. Weiterhin kann sie innerhalb von wissenschaftlichen Diskursen Ideologiekritik betreiben, d.h. Ideologien, subjektive Meinungen und Stammtischparolen entlarven. Dabei kann eine Besonderheit festgehalten werden: Eine advokatorische Eigenschaft (Frank Fischer/John Forester) ist der Wissenschaft inhärent, d.h. dass Argumente für oder gegen eine praktisch-politische Normierung und Regulierung aufgeführt werden können, aber keine definitiven Antworten. Die advokatorische Eigenschaft muss von einer Manipulation durch Interessen sowie durch eine demokratisch legitimierte Auftragsforschung unterschieden werden. Zurückzuweisen ist nur die Manipulation durch Interessen.

Aufgabe der Politik oder der politischen Institutionen innerhalb des komplementären Modells der Politikberatung

Die Aufgabe der Politik oder der politischen Institutionen besteht darin, mit Hilfe von politischen Diskursen und politischen Entscheidungsverfahren definitive Antworten in Form von Entscheidungen zu liefern.

Im demokratischen Prozess geht es nicht nur um definitive Entscheidungen. Demokratische Institutionen treffen nicht nur definitive Entscheidungen, sondern übernehmen gleichzeitig die Haftung für alle mit einer Regulierung verbundenen Folgen, sowohl für intendierte Hauptwirkungen als auch für nicht intendierte Nebenfolgen sowie Kollateralschäden.

Die Politik kann nicht, wie das pragmatische Modell der Politikberatung meint, die Rationalität von Expertisen verbessern (das Gegenteil wird bewirkt, wenn politische Interessen berücksichtigt werden), sondern lediglich zwischen verschiedenen Regulierungslösungen oder -möglichkeiten eine (demokratische) Wahl treffen: Nur eine beratende Einbindung der Expertise (expertising democracy) in demokratischen Entscheidungsverfahren ist angemessen, nicht dagegen eine Demokratisierung der Expertise (democratising expertise). Letzteres würde lediglich zur Verletzung wissenschaftlicher Standards führen und damit die Autonomie der Wissenschaft verletzten.

Politisches Handeln und politische Regulierung können nicht nur an zwei Kriterien – demokratischer Input und technokratischer Output – gemessen werden. Die Legitimität erfordert weitere Handlungsmaximen, allein in Artikel 20 des Grundgesetzes sind drei Prinzipien angegeben: demokratischer und sozialer Rechtsstaat. Im Grundgesetz sind in den ersten 20 Artikeln Kriterien angegeben, die alle bei der Gesetzgebung berücksichtigt werden müssen.

Auch eine Aggregation der Interessen allein nach demokratischen Kriterien kann rational nicht entschieden werden (siehe oben Arrow-Paradoxon). Ein politischer Dezisionismus ist daher unvermeidbar.

»Für kurzfristige Entscheidungen bleibt die demokratische Methode, nur die Hände, nicht die Gründe zu zählen, oft als einzige«, so Paul Lorenzen. In allen wissenschaftlichen (deskriptiven, explanativen, prognostischen, normativen, pragmatischen oder technischen) Diskursen werden nur Vernunftgründe gezählt und wird damit empirisches oder praktisches Wissen generiert. Innerhalb von politischen Institutionen werden zwar Gründe und Interessen abgewogen, sofern es sich jedoch um demokratische Systeme handelt, sind bei definitiven Entscheidungen die Hände ausschlaggebend.

Es wird immer Expertisen und Gegenexpertisen geben, dies ist auch nicht verwerflich, weil man auch wissenschaftlich verschiedene Regulierungen begründen kann. Wichtig ist aber, dass man zwischen Wissenschaftlern und wissenschaftlichen Analysen auf der einen Seite und ideologischen Meinungsäußerungen auf der anderen Seite unterscheidet. Dies funktioniert dann am besten, wenn die zentrale Bedeutung wissenschaftlicher Werkzeuge und metatheoretischer Fragestellungen anerkannt wird und alle Regulierungsvorschläge anhand wissenschaftlicher Analysen evaluiert werden.

Wissenschaft kann allen Parteien oder Interessenverbänden praktisches Wissen für deren Interesse und Probleme liefern, allerdings handelt es sich um hypothetische Antworten. Erst staatliche Institutionen können mit den dort etablierten Entscheidungsverfahren definitive Antworten geben. Bei politischen Entscheidungen geht es in erster Linie nicht um die fachliche Angemessenheit einer Entscheidung, sondern um die Übernahme der Haftung für eine Entscheidung.

Ein Arzt verfügt über praktisches Wissen, mit dessen Hilfe er Diagnosen erstellen kann. Weiterhin kann er aufgrund seines praktischen Könnens Operationen oder Therapien durchführen. Er übernimmt aber nicht die Verantwortung für den Erfolg der Operation oder der Therapie, sondern nur für die fachliche Angemessenheit der Diagnose sowie die praktische Durchführung der Operation oder der Therapie. Der Patient übernimmt immer die Haftung, nicht nur die Verantwortung für die Folgen.

Auf das Verhältnis von Politik und Wissenschaft übertragen sieht das folgendermaßen aus: Wissenschaftler begründen empirisches und praktisches Wissen, damit übernehmen Wissenschaftler eine beratende Funktion für die wissenschaftliche Angemessenheit des Wissens. Aufgrund der prinzipiellen Grenzen wissenschaftlicher Forschung können für mehrere Regulierungsoptionen rationale Gründe formuliert werden. Definitive Entscheidungen sollten nur innerhalb politischer Institutionen gefällt werden, weil damit in erster Linie auch die Übernahme der Haftung für die Folgen – positive wie negative – verbunden ist.

Politiker sollten über das praktische Können verfügen, das innerhalb der Wissenschaft erstellte praktische Wissen anzuwenden. Politiker innerhalb der Exekutive und Staatsbeamte sollten über das praktische Können verfügen, die innerhalb der Legislative und der Judikative beschlossenen Entscheidungen umzusetzen.

Differenzierung und Spezialisierung erfordern geradezu eine differenzierte Aufgabenverteilung. Diese führt zu unterschiedlichen Kompetenzen sowie damit verbunden zu verschiedenen Verantwortlichkeiten und – viel wichtiger – Haftung für die eigenen Entscheidungen.

Ein weiterer Streitpunkt besteht darin, inwieweit dem von den Wissenschaften methodologisch begründeten Wissen eine Vorrangstellung innerhalb der Gesellschaft eingeräumt wird oder ob neben den wissenschaftlichen auch andere Erkenntnisformen als legitim anzusehen sind. Paul Feyerabend bejaht Letzteres. Die Interpretation, dass nach ihm innerhalb der Wissenschaft alles erlaubt (anything goes) sei, ist nur zum Teil richtig. Er kritisiert vor allem eine Verwissenschaftlichung innerhalb der Gesellschaft, die alle anderen Begründungen oder mit anderen Mitteln generiertes Wissen ablehnt oder ins Abseits stellt, und plädiert für eine Trennung von Staat und Wissenschaft.

Das komplementäre Modell der Politikberatung berücksichtigt die unterschiedlichen Aufgaben von Politik und Wissenschaft und deren verschiedene Leistungsfähigkeit. Ich stimme Paul Feyerabend zu, dass eine Trennung zwischen Staat und Wissenschaft unbedingt erforderlich ist. Eine Verwissenschaftlichung der Politik ist meiner Meinung nach zwar angebracht, trotzdem sollten nicht zuletzt aufgrund der prinzipiellen Grenzen wissenschaftlicher Forschung auch andere Erkenntnisformen nicht von vornherein ausgeschlossen werden. So wie ein autonomer Patient das Recht hat, selber zu bestimmen, welchem Therapeuten er vertraut, einem Schulmediziner oder einem Medizinmann der Hopi-Indianer, so hat auch der Souverän das Recht, nicht nur auf die Kompetenz der Wissenschaft zu vertrauen, sondern auch andere Erkenntnisquellen einzubeziehen.

Fazit

Das dezisionistische Modell der Politikberatung wird der Autonomie des Politischen gerecht und kann daher demokratische Legitimation haben, ihm fehlt aber die sachliche Expertise. Das technokratische Modell verletzt die Autonomie des Politischen, d.h. es hat keine demokratische Legitimation, verfügt aber über sachliche Expertise und damit epistemische Legitimation. Das pragmatische Modell von Habermas will zwar beiden Subsystemen gerecht werden, kann aber im Endeffekt weder demokratischen noch wissenschaftlichen Standards genügen. Sowohl die Autonomie der Wissenschaft als auch der Politik wird verletzt. Hinzu kommt, dass die prinzipiellen Grenzen wissenschaftlicher Forschung ignoriert werden. Wissenschaft kann aus prinzipiellen Gründen nur hypothetisches Wissen begründen, aber weder definitive oder verbindliche Entscheidungen treffen noch für damit verbundene Folgen die Haftung übernehmen.

Demokratische Institutionen können genau dies: verbindliche und definitive Entscheidungen vornehmen, gleichzeitig auch für die Folgen haften. Politik und Wissenschaft haben unterschiedliche Funktionslogiken, d.h., dass sie unterschiedliche Aufgaben sowie unterschiedliche Ansprüche haben. Daher müssen sie auch unterschiedlichen Kriterien genügen. Daher plädiere ich für ein komplementäres Modell der Politikberatung, in dem jedes Subsystem seine Aufgaben möglichst gut erfüllt: Wissenschaft kann zwar nur hypothetisches, aber rationales, empirisches und praktisches Wissen generieren, Politik definitive Entscheidungen treffen sowie die Haftung für die Folgen übernehmen.

Literatur

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