von Peter Brandt
Niemand außer den Tätern und eventuellen Auftraggebern weiß bisher, wer den russischen oppositionellen Politiker Alexei Nawalny ermorden oder gesundheitlich schwer schädigen wollte und warum. Als die wahrscheinlichste Variante gilt Kennern die eigenständige Aktion einer autonom handelnden Gruppe, eventuell in den Sicherheitsapparaten, die sich im Einklang mit der Staatsführung sieht. Würde sich das bewahrheiten, wäre es sicher kein Grund zur Beruhigung, denn es würde bestätigen, was schon einige Zeit vermutet wird: dass das Gewaltmonopol des Staates als eines einheitlichen Akteurs in Russland nicht mehr funktioniert. Ja, Russland hat nach wie vor und im letzten Jahrzehnt wieder verstärkt ein autoritäres, zumindest semi-autoritäres Regime mit starken Rechtsstaatsdefiziten und Korruptionsauffälligkeit (mehr noch als Demokratiedefiziten) sowie eine Gesellschaftsordnung, die staats- und privatkapitalistische Charakteristika kombiniert. Damit befindet es sich im Einklang mit den meisten der anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion und steht keineswegs am unteren Ende der Skala.
Das riesige Land war seit jeher ein Vielvölkerimperium, kein Nationalstaat; politische Freiheit kannte Russland einige Monate nach dem revolutionären Sturz des Zarismus im März 1917. Weil weder die bürgerlichen noch die gemäßigt-sozialistischen Parteien die von der Revolution aufgeworfenen Fragen der Beendigung des Krieges, der Nationalitäten und der Agrarreform zu lösen vermochten und den sozialen Forderungen der selbstbewussten Arbeiterschaft hilflos gegenüberstanden, konnten die Bolschewiki im November 1917 die Macht übernehmen. Nach der Epoche des ›realen Sozialismus‹ und der sozialen Katastrophe der Jelzin-Ära wurde die Befestigung der Staatsautorität und das dadurch ermöglichte Funktionieren der Institutionen seit der Übernahme der Regierung, dann der Präsidentschaft Wladimir Putins von der großen Mehrheit als Befreiung empfunden, und das gilt auch für den Übergang zu einer unabhängigen, interessengeleiteten Außenpolitik als Großmachtpolitik. Die Russische Föderation ist 1991 durch die Auflösung der Sowjetunion auf ein Territorium zurückgestutzt worden, das dem des 17. Jahrhunderts nahe kommt, wobei Unabhängigkeits- bzw. Autonomiebestrebungen der baltischen, ostslawischen und zentralasiatischen Völker ebenso eine Rolle spielten wie der innere Machtkampf in der russischen Teilrepublik.
Aus russischer Sicht ist die NATO inzwischen von der Elbe bis an den Bug und weiter vorgerückt. Dass die ostmitteleuropäischen und südeuropäischen Länder – wohl im Einvernehmen der politischen Führungsschichten mit den Völkern – im Hinblick auf ihre historischen Erfahrungen bestrebt waren, mit einem NATO-Beitritt sich unter die Fittiche des amerikanischen Atomschirms zu begeben, ist verständlich, war und ist aber für Russland unter jeder denkbaren Regierung höchst problematisch. Und das Gefühl der Einkreisung verstärkte sich, als diverse, von den USA unterstützte Regimewechsel im Randbereich Russlands statt prorussischer prowestliche Oligarchenfraktionen an die Macht brachten. Die einstmals gegebene konventionelle militärische Überlegenheit des Warschauer Pakts, mit der die Sowjetunion die globale und atomare Überlegenheit der USA ausbalancierte, ist einer deutlichen Überlegenheit der NATO auf diesem Sektor gewichen, die Russland, bedingt durch seine vergleichsweise bescheidenen Verteidigungsausgaben, die nicht beliebig erhöht werden können, zur Konzentration auf die atomare Rüstung nahezu zwingt, jedenfalls im Rahmen der überkommenen sicherheitspolitischen Logik.
Das sicherheits- und außenpolitische Denken in Deutschland ist auch nach 1990 diktiert vom Atlantizismus mit der Führungsrolle der USA und der Ideologie der ›westlichen Wertegemeinschaft‹. Ein vereintes Europa könnte an die Stelle des ›Westens‹ treten, wird bis heute aber meist als Ergänzung der atlantischen Verbindung verstanden. Die sowjetrussische Zustimmung zur NATO-Mitgliedschaft auch des wiedervereinigten Deutschland resultierte einerseits aus der 1989/90 akuten Wirtschafts- und Ernährungskrise der UdSSR, war aber zugleich mit der begründeten Erwartung verbunden, eine darüber hinausgehende Osterweiterung der NATO würde nicht erfolgen, und es würde sich um eine Zwischenlösung handeln, bis ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem die alten, vom Kalten Krieg geprägten Bündnisse erst überwölben und dann überflüssig machen würde. Die Charta von Paris vom 21. November 1990 schien ebenso in diese Richtung zu deuten wie der als Ersatz für den seit 1945 ausstehenden Friedensvertrag ausgehandelte Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990.
Die Auflösung der NATO war, wie die seinerzeitige Sicherheitsberaterin und spätere Außenministerin Condoleezza Rice freimütig erklärte, die einzige ernsthafte Sorge der USA angesichts der sich seit Herbst 1989 andeutenden Einigung Deutschlands, denn nur so, ist hinzuzufügen, würde die strategische Gegenküste der USA auch in Zukunft gesichert sein. Eine gesamteuropäische gestufte Integration mit einer speziellen Sicherheitsstruktur, wie sie der sowjetische Partei- und Staatschef Michail Gorbatschow mit seiner Formel vom gemeinsamen Haus Europa umreißen wollte, stand zur Fortexistenz eines westlichen politisch-militärischen Blocks – trotz Auflösung des östlichen – zumindest in einem Spannungsverhältnis, wenn nicht dazu regelrecht im Widerspruch. Dieses Spannungsverhältnis ist auch der tiefere Grund dafür, dass die von verschiedener Seite wiederholt angeregte Aufnahme Russlands in die NATO nicht erfolgte; eine solche würde den Charakter der Allianz grundlegend verändern; insbesondere könnte diese nicht mehr als Instrument einer amerikanischen Welthegemonie fungieren.
Mehrere Angebote der russischen Führung zu einem Neuanfang in den europäisch-russischen, insbesondere deutsch-russischen Beziehungen, namentlich in Putins Rede vor dem Bundestag am 25. September 2001, sind ignoriert oder missachtet worden, wie heute auch Mainstream-Politiker einräumen. Die erneute Entfremdung und tendenzielle Verfeindung zwischen den meisten westlichen Staaten und Russland, wobei die Bundesrepublik lange eher bremsend wirkte, ist dann durch Aktionen beider Seiten, also eine Interaktion ähnlich dem Mechanismus des früheren Ost-West-Konflikts, vorangetrieben worden. In diesen Zusammenhang gehört auch die als solche zweifellos völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland. Doch auch dieser Vorgang war Teil eines größeren komplexen Geschehens, wo ein struktureller sprachlicher und konfessioneller Konflikt im Innern der Ukraine durch rivalisierende Angebote der EU und der Eurasischen Wirtschaftsunion, durch eine prowestliche Protestbewegung im Westen des Landes und darauf reagierende Separationsbestrebungen im Osten bis zum Bürgerkrieg unter offenkundiger Beteiligung Russlands und weniger offenkundiger der USA eskalierte.
Die westliche, namentlich die bundesdeutsche Entspannungspolitik, deren Kern die Herstellung eines anderen Verhältnisses zu Moskau war, hatte sich schrittweise entwickelt, nachdem die Welt während der Kuba-Krise vom Oktober 1962 am Rand eines großen Atomkriegs gestanden hatte. Der Westberliner Senat und sehr zögernd auch die bis 1969 noch CDU-geführte Bundesregierung strebten eine Auflockerung der seit dem Mauerbau betonierten Teilung Deutschlands und eine Entschärfung an der innerdeutschen Konfrontationslinie an. Speziell die im Oktober 1969 neu gebildete SPD/FDP-Regierung Brandt/Scheel machte sich die Devise zueigen, man müsse den territorialen Status quo de facto anerkennen, um den Status quo der Blockkonfrontation, der Teilung des Kontinents und der Nation in einem längeren Prozess zu überwinden. Das war nur möglich, wenn die Interessen beider Seiten realistisch zugrunde gelegt und Vertrauen aufgebaut wurde. Am Anfang stand also die Bereitschaft, die bestehenden Meinungsverschiedenheiten und Konflikte mit den Augen des Kontrahenten und künftigen Partners wahrzunehmen – nicht um seine Perspektive einfach zu übernehmen, sondern um zu verstehen, warum er denkt, wie er denkt und handelt, wie er handelt.
Eine gekürzte Fassung des Beitrags von Peter Brandt erschien in der Wochenzeitung Der Freitag in der Ausgabe 38/2020 unter dem Titel Russland verstehen.