von Lutz Götze

Peru wirbt engagiert um Touristen und sie kommen in Scharen. Auch die sintflutartigen Regenfälle der vergangenen Wochen haben sie nicht abschrecken können. Einfallstor ist im Regelfall der internationale Flughafen Jorge Chávez in Lima, der freilich, obwohl erst vor wenigen Jahren fertiggestellt, bereits aus allen Nähten platzt.

Die Stadt folgt seinem Beispiel: Geschätzte elf Millionen Einwohner machen das Leben zum Albtraum; der Verkehr bricht bereits am frühen Morgen regelmäßig zusammen und ändert sich bis spät in die Nacht nicht. Wer zur Arbeit strebt, tut gut daran, eine Stunde Fahrzeit mehr einzuplanen als vor einigen Jahren, um sein Ziel zu erreichen. Gleiches gilt für den Fremden, der ein Museum ansteuert. Doch angekommen, geschieht ein Wunder: Nicht das allseits hochgelobte museo de oro von Lima –ein mit Goldutensilien und Waffen vollgestopftes und mit den Jahren heruntergekommenes Haus am Stadtrand –schlägt den Besucher in seinen Bann, sondern das erst vor kurzer Zeit eröffnete Hoyle-Larco-Museum. Vater und Sohn Larco haben über Jahrzehnte hinweg Keramik und Gold der Chimu-, Mochica-und Nazca-Kulturen zusammengetragen und mit viel Kunstverstand in ihrem Museum präsentiert. In fünf Sprachen wird dem Kundigen wie dem Laien, ohne jede Besserwisserei, ein Panorama der vorkolumbianischen Kunst präsentiert, das auf der ganzen Welt seinesgleichen schwerlich finden dürfte.

Lima bietet ansonsten eine außerordentliche gastronomische Vielfalt, zumal an Fischen und Meeresgetier. La Cala in Miraflores, am dröhnenden Pazifik gelegen, ist ein Geheimtipp und offeriert lukullische Himmelsfreuden: Man beginne mit einer Ceviche und lasse eine gegrillte Corvina folgen, begleitet von erstaunlichen Weinen des Landes, zumal aus der Ica- Region im Süden. Der Kenner weiß um die enormen Qualitäten chilenischer und argentinischer Weiß-und Rotweine, doch auch ein hiesiger Tropfen verströmt, bei riesigem Körper, ein immenses Aroma und lässt die ausländische Konkurrenz augenblicklich vergessen.

Die Wirtschaft Perus macht deutliche Fortschritte: Der Handel mit Gold und Silber blüht, Avocados –hier Palta geheißen – und Mangos machen den Großteil der landwirtschaftlichen Produktion aus, die in alle Welt exportiert wird. Doch der Reichtum ist, wie überall, ungerecht verteilt. Extremem Wohlstand – in der Hauptstadt in den Villenvierteln San Isidro und Miraflores sichtbar – stehen täglich wachsende Slums an den Rändern der großen Städte gegenüber. In ihnen begegnen sich die (noch) Hoffenden mit den Hoffnungslosen.

Perus Problem ist von fünferlei Art: Umwelt, Landflucht, eine hohe Jugendarbeitslosigkeit, ein schlechtes Bildungssystem und eine weit verbreitete Korruption. Landesweit türmen sich in Peru die Müllberge, zumal entlang der Ausfallstraßen der großen Städte. Die Entsorgung klappt nur in Ausnahmefällen; die Bevölkerung ›entsorgt‹ ihren Plastik- und sonstigen Müll nach Belieben. Ein Umweltbewusstsein ist so gut wie nicht vorhanden. Jetzt sind, auch befördert durch das warme Wasser von EL Nino, sintflutartige Regenfälle über das Land hereingebrochen. Halb Peru steht unter Wasser, nahezu hundert Menschen sind bereits in den rauschenden Wellen ertrunken, Tausende von Menschen obdachlos. Die weltweite Erderwärmung hat eines der ärmsten Länder in voller Härte getroffen. Eine Katastrophe ereignet sich und niemand schert sich darum!

Hunderttausende Peruaner haben sich in den letzten Jahren auf den Weg gemacht, um in den Slums der großen Städte unterzukommen und eine Arbeit zu finden. Die Chance freilich ist gering, die Gewalt nimmt stattdessen beim alltäglichen Überlebenskampf zu. Die Arbeitslosigkeit ist allgemein drastisch gestiegen, jene unter den Jugendlichen wird offiziell mit vierzig Prozent angegeben. In Wahrheit dürften es weit mehr sein. Sie wachsen ohne oder mit allenfalls geringer Ausbildung auf und verdingen sich als jugendliche Tagelöhner ohne Aussicht auf Besserung ihrer Situation. Viele geraten als Drogenkuriere ins kriminelle Abseits. Auf der anderen Seite gibt es einige, sehr teure Privatschulen und einige, ebenso teure, Privatuniversitäten – darunter die Universidad Católica, deren Absolventen die begehrten Stellen in Wirtschaft, Verwaltung und Politik erhalten, begünstigt durch die allenthalben grassierende Vetternwirtschaft. Derzeit erschüttert, wie überall in Lateinamerika, der Fall Odebrecht das Land; die Ausmaße der Bestechung von Politikern werden täglich erkennbarer. Doch es wird so ausgehen wie immer und überall: Einige Personen werden ausgetauscht, der Schoß bleibt fruchtbar.

 

Die Nazca-Linien

Ein Erlebnis besonderer Art bietet die Nazca-Wüste mit ihren Linien und Tierfiguren. Vor Jahrzehnten, beim ersten Besuch Perus, hatten wir in Lima mit Maria Reiche sprechen können, die ihr Leben der Erforschung der Glyphen gewidmet hatte.

Ein zweistündiger Flug über die Wüste, beginnend in Pisco, lässt Kondore, Affen, Kolibris und einen vermeintlichen Astronauten erkennen, dazwischen unzählige Linien. Wer sie schuf und zu welchem Zweck liegt bis heute im Dunkel. Hypothesen der zuweilen absurdesten Art häufen sich: Landeplätze von Außerirdischen, Träume von Schamanen oder auch Sportplätze werden derzeit hoch gehandelt. Ein nutzloses Unterfangen freilich. Figuren und Linien bewahren ihre Rätsel und stimmen den Betrachter gelassen: wissend, dass dem menschlichen Verstand immer erneut Grenzen des Verstehens gesetzt sind.

 

Cuzco und Machu Picchu

Die Hauptstadt des Inka-Reiches war einst das Zentrum der westlichen Hemisphäre, ja: der bekannten Welt schlechthin. In nur wenigen Jahrzehnten hatten es die Söhne Pachamamas geschafft, ihre Nachbarn zu unterjochen und ein Riesenreich des Schreckens zu errichten. Aymara und andere Völker von costa, sierra und selva waren die Opfer.

1532 drang Francisco Pizarro mit seinen Mordgesellen in das Land der Anden: lüstern nach Gold, denn Mexiko hatte sich nicht als das versprochene El Dorado erwiesen. Die Legende vom Hohen Priester Viracocha nutzend – ein gleicher Fall wie Quetzalcoatl in Mexiko bei Hernando Cortez´ Eroberung dreizehn Jahre zuvor - , der, einstmals verstoßen, seine blutige Rückkehr nach Cuzco angekündigt hatte, nahm er den freundlichen Gastgeber Atahualpa in Cajamarca, hoch oben in den Anden gelegen, gefangen und ließ ihn mit Gold und Silber aufwiegen, das die Landsleute des Inka in Massen heranschleppten. Hinrichten ließ der Spanier den König trotzdem. Die Garotte tat ihr blutiges Werk.

Die einst von den Inka unterjochten Nachbarvölker halfen teilweise den Spaniern und hofften auf Besserung ihrer Lage: vergebens. Eine neue Schreckensherrschaft löste die alte lediglich ab. Das Spanien Karls V. und seines Nachfolgers Philipp II. beherrschte die neue große Welt, in der die Sonne nie unterging, wie es im Escorial hieß.

Die spanische Diktatur der Vizekönige dauerte bis in das 19. Jahrhundert, ehe Simón Bolívar, San Martin, Santander und Sucre die Unabhängigkeit der Andenstaaten schufen: 1821 in Peru, 1825 in Bolivien, dem Alto Peru.

Cuzco ist heute von Touristen regelrecht belagert, hat gleichwohl in Teilen seinen Charme bewahrt, den es zu entdecken gilt. Übertroffen wird die Stadt lediglich vom Magneten Machu Picchu. Den Besuchern ziehen die Nachfahren der Inka freilich auf rabiate Weise das Geld aus der Tasche: Drastische Preise für Zugfahrten, Hotelübernachtungen und den Alltag vergällen dem Fremden schnell den Aufenthalt. Die Raffgier der von Einheimischen und ausländischen Konzernen beherrschten Tourismusindustrie ist ohne Grenzen.

Und dennoch: Magie und Mythos von Machu Picchu an einem frühen Morgen sind ohnegleichen. Nebel wallen über den Ort und hüllen den Riesen Huayna Picchu gegenüber anfangs in Wolken. Alsbald lichten sie sich, verbergen freilich alsbald erneut Berge und Täler umher. Gelegentlich bricht die Sonne durch, taucht alles in ein milchiges Weiß, erlaubt manchmal einen kurzen Blick, bis sich schließlich das Felsennest in vollkommener Schönheit zeigt. Pacha Mama hat wieder einmal gesiegt; der Besucher verneigt sich vor der grandiosen Kulisse, die die unten im Tal des wild schäumenden Urubamba vorbeiziehenden Konquistadoren nie gesehen haben. Warum der letzte Zufluchtsort der Inka, wohl um 1650, wieder verlassen wurde, bleibt enigmatisch.

Der Inkahort bewahrt auch 2017 – wie damals beim ersten Besuch vor mehr als vierzig Jahren – seine Einzigartigkeit trotz aller Touristenmassen, krakeelenden Reiseführer und Schmutz verbreitenden Rucksacktouristen, die um beste Fotoplätze ringen und der Aura des Ortes den Garaus bereiten. Dabei fällt auf, dass es bei den Schnappschüssen allein um sie geht, keineswegs um den Horst der Kondore zu ihren Füßen. Machu Picchu ist ihnen in Wahrheit vollkommen egal; Hauptsache, sie selbst erscheinen, per Selfie, auf dem Bild: unwichtig, vor welchem Hintergrund. Sie könnten ebenso vor dem Eiffelturm, der Freiheitsstatue, Buckingham Palace, dem Opernhaus von Sydney oder der Berliner Mauer stehen. Es ist offenkundig: Eitelkeit und Verblödung der Menschheit schreiten, Hand in Hand, mächtig voran, und es ist letztlich egal, ob die Umweltverschmutzung oder der massenhafte Billigtourismus dem Globus mehr Schaden zufügen. Beide sind grenzenlos. 

Zurückgekehrt in strömendem Regen nach Aguascalientes in das Hotel Hatun Inti am reißenden Urubamba, ist der Schritt hinaus auf den Balkon atemberaubend: Senkrecht unter den Füßen jagen die Wellen dem großen Amazonas entgegen. Heute, vier Wochen später und nach ergiebigen Regenfällen, sind, so hören wir, Haus und Balkone unterspült, möglicherweise bereits ein Opfer der Fluten. Die Natur verzeiht nichts und niemandem.
 

Don Giovanni

Ein zweites Wunder - dem des Larco - Museums vergleichbar - ereignet sich, wenige Tage später, im prachtvollen Hotel Monasterio an Cuzcos Plazoleta Nazarenas. Im einstigen Dominikaner-Kloster gibt es zu einem eher mittelmäßigen Abendessen den Auftritt einer Sopranistin und eines Tenors der Oper Lima, die Mozart-, Verdi-und Puccini-Arien darbieten. Das ›La ci darem la mano‹ des Don Giovanni im Bankettsaal des fünfhundert Jahre alten Prunkbaus ergreift den Fremden und lässt ihn augenblicklich Touristenwahn und allgegenwärtigen Lärm vergessen. Alte und Neue Welt verbinden sich auf das angenehmste und bescheren ein Erlebnis der besonderen Art. Der Abend wird zum Ereignis, hier in den Anden auf viertausend Metern Höhe.