von Horst Heimann

Die Kapitalismuskritik von Wolfgang Streeck und Jürgen Habermas

Das kapitalismuskritische Buch von Wolfgang Streeck (2013a) und die kapitalismuskritischen Aufsätze von Streeck (2013b) und Jürgen Habermas (2013) erregten in den Medien mehr Aufmerksamkeit als es für anspruchsvolle wissenschaftliche Bücher und Zeitschriftenaufsätze üblich ist. Wo liegt die Ursache für dieses starke Interesse? Legten die Autoren völlig neue, weltumwälzende Erkenntnisse vor, die noch nie jemand zu veröffentlichen gewagt hatte? Nein, im Gegenteil: Die lebhafte Resonanz folgt sogar aus der Tatsache, dass sich beide Autoren mit ihrer dezidiert kapitalismuskritischen Interpretation unserer Gesellschaft vollkommen im wissenschaftlich-publizistischen Mainstream unserer Zeit, also des Zeitgeistes bewegen, auch in Übereinstimmung mit der großen Mehrheit der Gesamtbevölkerung.

Aus der Vielzahl ähnlicher Meinungsumfragen sei hier nur aus einer von der Bertelsmann Stiftung in Auftrag gegebenen Umfrage von 2012 zitiert. 81 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu: »Wir brauchen eine neue Wirtschaftsordnung, die auch den Schutz der Umwelt und den sozialen Ausgleich in der Gesellschaft stärker berücksichtigt.« (Die ZEIT, 16.08.2012)

Kapitalismus oder Demokratie?

Wolfgang Streecks Kapitalismuskritik wirkt auch zusätzlich brisant, weil er – zwar im antikapitalistischen  Mainstream – aber deutlicher und zugespitzter, mit überzeugenden Fakten und Argumenten die These begründet: Kapitalismus und Demokratie können nicht mehr länger nebeneinander bestehen, so dass Europa vor der Alternative steht, die er im Untertitel seines Aufsatzes formuliert: »Kapitalismus ohne Demokratie oder Demokratie ohne Kapitalismus«.

Ziel der folgenden Ausführungen ist nicht eine Rezension oder ausführliche Darstellung und Kritik der Aufsätze von Streeck und Habermas sowie des Buches Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus (2013). Es geht vielmehr darum, die politisch relevanten Ergebnisse, die Quintessenz der Arbeiten von Streeck und Habermas herauszuarbeiten und im Kontext der wissenschaftlich-publizistischen Debatten über Kapitalismus und Demokratie zu beurteilen. Und schließlich ist zu untersuchen, welche Schlussfolgerungen sich aus diesen Debatten für die Politik ergeben können, vor allem für die SPD, wenn es ihr wieder darauf ankäme, nicht nur zu regieren oder zu opponieren, sondern auch die Welt zu interpretieren, um sie zu verändern.

Im folgenden ersten Abschnitt werde ich anhand von Streecks Aufsatz (es ist ein Abdruck des letzten Teils seines Buches), der die kontoverse Debatte durch die Antwort von Habermas belebte, die Quintessenz seiner Analyse der Entwicklung des demokratischen Nachkriegskapitalismus bis zur »neoliberalen Konterrevolution« darstellen, nämlich: Europa muss bald wählen zwischen Kapitalismus oder Demokratie. Entscheiden wir uns für den Kapitalismus, dann entscheiden wir uns zugleich gegen die Demokratie. Nur wenn wir uns gegen den Kapitalismus entscheiden, entscheiden wir uns für den Fortbestand der Demokratie. Denn die Entwicklung des demokratischen Kapitalismus, die Koexistenz von Kapitalismus und Demokratie, ist an einen Endpunkt angekommen: »Die gegenwärtige Finanz-, Fiskal- und Wirtschaftskrise ist der vorläufige Endpunkt der langen neoliberalen Transformation des Nachkriegskapitalismus.« Die »Krise des demokratischen Kapitalismus« konnte nur dank »zeitweiliger Notbehelfe« vertagt werden: »Inflation, Staatsverschuldung und Privatverschuldung waren zeitweilige Notbehelfe, mit denen demokratische Politik den Anschein eines Wachstumskapitalismus mit gleichen materiellen Fortschritten für alle oder gar allmählicher Umverteilung von Markt- und Lebenschancen von oben nach unten aufrechterhielt.« (Streeck, 2013b: 57) Dieser Satz impliziert einen zentralen Kerngedanken einer nicht nur formalen, sondern inhaltlich sozialen Demokratie, der Volksherrschaft: Die politische Demokratie wird legitimiert, vom Volk akzeptiert, weil sie »gleichen materiellen Fortschritt für alle« ermöglicht und sogar »Umverteilung von oben nach unten«. Daraus folgt: Die Demokratie verliert ihre Legitimation, die Akzeptanz des Volkes, wenn sie nicht mehr »gleichen materiellen Fortschritt für alle« verwirklicht.

Dieses Sozialstaatskriterium der Demokratie hatte bereits August Bebel kurz nach Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei 1869 in der Auseinandersetzung mit einer bürgerlich-demokratischen Partei in einer Artikelserie herausgearbeitet, die wegen der großen Resonanz in der Broschüre Unsere Ziele veröffentlicht wurde. Dort, in der 6. Auflage von 1877, erläutert Bebel »einen Hauptdifferenzpunkt ... zwischen uns  ... und der bürgerlichen Demokratie«, nämlich: »Die bürgerliche Demokratie geht von der Ansicht aus, daß die politische Freiheit eigentlich alles sei, was der Mensch verlangen könne«. Für die Sozialdemokraten reiche das aber nicht aus: »Die politische Freiheit aber kann keine gleiche sein, wenn ökonomische Ungleichheit existiert. ... Ist nun gar ein Abhängigkeitsverhältnis vorhanden, wie in der jetzigen Gesellschaft, ist der Arbeiter einem Brotherren unterworfen, von dem seine Existenz abhängt, dann liegt auch auf der Hand, daß dieser Brotherr die Gewalt in den Händen hat, das politische Recht des Arbeiters zu verkümmern, es in der ihm, dem Unternehmer, gut dünkenden Weise auszubeuten. ... An einem Staat, in dem die politische Freiheit bloß der Zweck ist, hat der Arbeiter wenig Interesse. Was ihn drängt und treibt, die politische Freiheit und Gleichberechtigung zu erobern, ist die Aussicht, mit ihrer Hilfe auch die ökonomische Unabhängigkeit zu gewinnen. Was nützt ihm die bloße politische Freiheit, wenn er dabei hungert, wenn seine Lage sich nicht verbessert, er vor wie nach der vom Kapitalisten ausgebeutete Mensch ist, der sein ganzes Leben sich plagen und abrackern muß, um schließlich elend zu Grunde zu gehen?« (Bebel 1877: 16 f.) (Diese von Bebel nur argumentativ begründete Aussage wurde in den vergangenen Jahrzehnten empirisch bestätigt: Vor allem in den materiell besonders benachteiligten Bevölkerungsgruppen geht die Wahlbeteiligung überproportional stark zurück.)

In seiner Analyse gelangt Streeck zu der Erkenntnis, das die Krise des demokratischen Kapitalismus nicht mehr lange mit Hilfe der »Notbehelfe« vertagt werden kann, denn: »Alle drei (Notbehelfe) hatten sich nacheinander erschöpft und mussten durch andere Notbehelfe abgelöst werden, als die Nutznießer und Verwalter des Kapitals nach jeweils einem Jahrzehnt extensiver Anwendung anfingen, sie zu teuer zu finden.« (Streeck, 2013b: 57) Wenn diese »Notbehelfe« nicht mehr wirksam sind, dann werden Demokratie und Kapitalismus zu unüberbrückbaren Gegensätzen: »Wenn folglich der Kapitalismus des Konsolidierungsstaates auch die Illusion des gerecht geteilten Wachstums nicht mehr zu erzeugen vermag, kommt der Moment, an dem sich die Wege von Kapitalismus und Demokratie trennen müssen. Der heute wahrscheinlichste Ausgang wäre dann die Vollendung des hayekianischen Gesellschaftsmodells der Diktatur einer vor demokratischer Korrektur geschützten kapitalistischen Marktwirtschaft.« (Streeck, 2013b: 62) (Dafür gibt es allerdings statt des abstoßenden Begriffs »Diktatur« auch die freundlichere Bezeichnung »marktkonforme Demokratie«.)

Vor reichlich zwei Jahrzehnten, als auch die meisten Linken den Endsieg des demokratischen Kapitalismus über den diktatorischen Sozialismus feierten, hätten obige Zitate einen Aufschrei ›demokratischer‹ Empörung ausgelöst und in diesen Aussagen hätte man die Gefahr für die Demokratie für die Demokratie gesehen. Doch heute gehören die Hinweise, dass der Kapitalismus die Demokratie gefährde, zum wissenschaftlich-publizistischen Mainstream, wie die Debatten über Postdemokratie, Machtverlust der Politik zugunsten der Wirtschaft, Politikverdrossenheit, Wählerschwund etc. belegen.

Demokratie ohne Kapitalismus – vollkommen unrealistisch

Das »hayekianische Gesellschaftsmodell der Diktatur einer ... kapitalistischen Marktwirtschaft« ist für Streeck zwar nicht das einzig denkbare Modell, zu dem es keine Alternative gibt: »Die Alternative zu einem Kapitalismus ohne Demokratie wäre eine Demokratie ohne Kapitalismus. ... Sie wäre die andere, mit der Hayekschen konkurrierende Utopie.«  Doch diese andere Utopie, die im Unterschied zur Hayekschen, nicht einmal einen Namen hat, ist mit der neoliberalen Alternative kaum konkurrenzfähig, denn »im Unterschied zu dieser läge sie nicht im historischen Trend, sondern würde im Gegenteil dessen Umkehr erfordern. Deshalb und wegen des enormen Organisations- und Verwirklichungsvorsprungs (und der intellektuellen Überlegenheit!!, H. H.) der neoliberalen Lösung ... erscheint sie heute als vollkommen unrealistisch.« (Streeck, 2013b: 62 f.)

Obwohl auf der Ebene der Meinungen die neoliberale Lösung überwiegend als unwiderruflich gescheitert gilt, hat Streeck dennoch Recht mit der Aussage, dass sie »im historischen Trend liegt«. Denn das politische Krisenmanagement vertieft die Kluft zwischen Reich und Arm, dient vor allem der Rettung des Reichtums weniger und der Verelendung breiter Volksschichten in den Krisenländern, so dass trotz rhetorischer Niederlage der Neoliberalismus als soziale Realität weiterhin zynische Triumphe feiern kann.

Trotz seiner grundsätzlich pessimistischen Einschätzung der Zukunftschancen der Demokratie deutet Streeck ganz kurz an, was getan werden müsste: »Dann müsste es demokratiepolitisch zuallererst darum gehen, die von vier Jahrzehnten neoliberalen Fortschritts angerichteten institutionellen Verheerungen rückgängig zu machen und die Reste jener politischen Institutionen so gut wie möglich zu verteidigen und instandzusetzen, mit deren Hilfe es vielleicht gelingen könnte, Marktgerechtigkeit durch soziale Gerechtigkeit zu modifizieren oder gar zu ersetzen. ... Demokratisierung heute müsste heißen, Institutionen aufzubauen, mit denen Märkte wieder unter soziale Kontrolle gebracht werden können: Märkte für Arbeit, die Platz lassen für soziales Leben, Märkte für Güter, die die Natur nicht zerstören, Märkte für Kredit, die nicht zur massenhaften Produktion uneinlösbarer Versprechen verführen.«

Vergleicht man jene Forderungen Streecks mit der Rhetorik der Parteien zur Bekämpfung der Krise, dann könnte man fast erleichtert aufatmen und hoffen, dass ja jetzt fast alle Parteien für eine Umkehr des neoliberalen historischen Trends kämpften. Doch er selbst stellt kategorisch fest, dass das, was getan werden müsste, in absehbarer Zeit nicht getan werden wird: »Bevor so etwas im Ernst auf die Tagesordnung kommen könnte, bedürfte es zum Mindesten jahrelanger politischer Mobilisierung und dauerhafter Störungen der gegenwärtig sich herausbildenden sozialen Ordnung.« (Streeck, 2013b: 63)

Das Fazit von Streecks Analyse des real existierenden Kapitalismus ist eindeutig: Es gibt keine realistische Chance für die Alternative »Demokratie ohne Kapitalismus«. Die zumindest mittelfristige Etablierung der hayekianischen Utopie »Kapitalismus ohne Demokratie«, also der »Diktatur einer vor demokratischer Korrektur geschützten kapitalistischen Marktwirtschaft«, ist offensichtlich unabwendbar.

Etwas Demokratie und Kapitalismus – nur in souveränen Nationalstaaten!?

Nach dem niederschmetternden Fazit seiner Kapitalismusanalyse, dass wir uns wohl für absehbare Zeit mit dem »Kapitalismus ohne Demokratie« abfinden müssten, löst sich Streeck von den Ergebnissen seiner wissenschaftlichen Analyse und findet, oder erfindet, in letzter Minute überraschend doch noch »die demokratisch plausible Antwort auf die Legitimationskrise einer neoliberalen Konsolidierungs- und Rationalisierungspolitik.« Doch während er sich sowohl mit seiner radikalen Kapitalismuskritik als auch mit seinem fehlenden Glauben an einen demokratischen Ausweg aus der Krise im Mainstream des Zeitgeistes bewegt, begibt er sich mit seiner doch noch gefundenen »demokratisch plausiblen Antwort« in eine Minderheitenströmung, die allerdings stärker wird. Denn im Gegensatz zu der noch vorhandenen Mehrheitsmeinung, dass gegen die Krise nicht »weniger, sondern mehr Europa« helfe, sieht er »das Gebot der Stunde« im Rückbau Europas: »Die Forderung nach einem Rückbau der Währungsunion als eines gesellschaftlich rücksichtslosen technokratischen Modernisierungsprojekts, das die Staatsvölker, die das real existierende europäische Volk bilden, politisch enteignet und wirtschaftlich spaltet, erscheint insofern als die demokratisch plausible Antwort auf die Legitimationskrise einer neoliberalen Konsolidierungs- und Rationalisierungspolitik, die sich selbst für alternativlos hält.« (Streeck, 2013b: 67)

Durchaus zustimmungsfähig auch für Befürworter der europäischen Einigung ist seine Kritik an der neoliberalen Politik der europäischen Institutionen, an Projekten für eine ›politische Union‹ und an Demokratisierungskonzepten: »Aber vielleicht kann man sich erstens darauf einigen, dass ein Demokratieprojekt für Europa ... sich scharf von Projekten für eine ›politische Union‹ absetzen müsste, wie sie von autoritären neoliberalen Strategen wie Wolfgang Schäuble verfolgt werden, denen es darum geht, einer hayekianischen Zentrale das neoliberale ›Durchregieren‹ zu erleichtern. ... Ein Demokratieprojekt, das die Bestellung eines     ›europäischen Finanzministers‹ ermöglichen soll, der wiederum die Bedienung der ›Märkte‹ zu garantieren und dadurch deren ›Vertrauen‹ wiederherzustellen hätte – ein Demokratieprojekt also, das davon absieht, die Demokratiefrage mit der Neoliberalismus oder gar der Kapitalismusfrage zu verknüpfen -, bedarf des Schweißes der Demokraten nicht. Es läuft, als neoliberales Herzensanliegen, von allein.« (Streeck 2013b: 64)

Gegen Streeck plädiert Habermas für den Ausbau der Einheit Europas

In seinem Aufsatz Demokratie oder Kapitalismus? Vom Elend nationalstaatlicher Fragmentierung in einer kapitalistisch integrierten Weltgesellschaft (2013) lehnt Habermas die Forderung Streecks nach einem Rückbau Europas entschieden als kontraproduktiv ab. Er widerspricht aber keineswegs der radikalen Kapitalismuskritik Streecks, sondern lobt ausdrücklich seine fundierte Analyse, und vergleicht sie sogar mit dem 18. Brumaire des Louis Bonaparte von Karl Marx. Und das ist inzwischen nicht mehr ein Bannstrahl, sondern wieder eher eine »Heiligsprechung«.

Habermas referiert zustimmend die Analysen Streecks, in denen er die verheerenden sozialen und ökonomischen Folgen der neoliberalen Reformpolitik beschreibt und nachweist, »dass die ›Politik des Schuldenstaates‹, die der Europäische Rat seit 2008 auf Drängen der deutschen Bundesregierung betreibt, im Wesentlichen das kapitalfreundliche Politikmuster fortschreibt, das in die Krise geführt hat.« (Habermas 2013: 60) Und er sieht auch die entdemokratisierenden Wirkungen der europäischen »Konsolidierungspolitik (nach dem Muster der ›Schuldenbremsen‹)«; denn diese ziele auf eine »Wirtschaftsverfassung, die der demokratischen Willensbildung entzogen bleiben soll« und »technokratische Weichenstellungen ... von der Meinungs- und Willensbildung in den nationalen Öffentlichkeiten und Parlamenten entkoppelt«. (Habermas 2013: 69) Trotz seiner Kritik an der aktuellen Politik der EU sieht Habermas aber einen demokratischen Ausweg aus der Krise nicht in der »defensiven Rückabwicklung des Euro«, sondern im »offensiven Ausbau der Währungsgemeinschaft zu einer supranationalen Demokratie. Diese könnte bei entsprechenden politischen Mehrheiten die institutionelle Plattform für eine Umkehrung des neoliberalen Trends bieten.«  (Habermas 2013: 61)

Habermas ist überrascht, dass für Streeck »nicht der demokratische Ausbau« Europas, sondern »Rückbau statt Ausbau« eine Lösung sein kann. Ein »zurück in die nationalstaatliche Wagenburg der 60er oder 70er Jahre« könne die Krise nur verschärfen. Denn die »politische Handlungsfähigkeit von Nationalstaaten« reicht nicht aus, »um sich den Imperativen eines überdimensional aufgeblähten und dysfunktionalen Bankensektors zu entziehen«. (Habermas 2013: 62) Mit überzeugenden Argumenten weist Habermas nach, dass Streecks Lösungsvorschlag für einen Rückbau Europas und die Stärkung nationalstaatlicher Souveränität die fatalen Folgen neoliberaler Politik nicht aufheben könnte. Und ebenso widerlegt er Streecks »Vier Gründe gegen eine Politische Union«. (Habermas 2013: 66 f.) Um »Streecks Furcht vor einer repressiven Zentralisierung der Zuständigkeiten« zu entkräften, betont er, dass »die institutionelle Vertiefung der Europäischen Union« nicht »auf eine Art europäische Bundesrepublik hinauslaufen muss«. Nicht ein »Bundesstaat«, sondern »auch ein supranationales, aber überstaatliches demokratisches Gemeinwesen« erlaube ein gemeinsames Regieren. (Habermas 2013: 69)

Habermas` Plädoyer für den Ausbau Europas enthält auch eine hervorzuhebende Besonderheit im kritischen linksintellektuellen Meinungsspektrum: Während dort Parteienverachtung verbreitet ist und Parteien oft nur als politisch irrelevante Versager eine Rolle spielen, setzt er demonstrativ auf die Parteien: Er appelliert an die »proeuropäischen Parteien«, gemeinsam gegen die »Umfälschung von sozialen in nationale Fragen« vorzugehen und »Merkels clever-böses Spiel der Dethematisierung« nicht mitzuspielen. Und er wünscht der »Alternative für Deutschland« Erfolg, um »die anderen Parteien zu nötigen, ihre europapolitischen Tarnkappen abzustreifen«. (Habermas 2013: 70)

Habermas macht in seinem Beitrag nicht nur deutlich, dass er zum Thema Einheit Europas eine grundsätzlich andere Meinung vertritt als Streeck. Er kritisiert auch den Analyse-Ansatz Streecks, allerdings nur zurückhaltend. In diesem Ansatz sieht er eine Ursache für Streecks politischen Pessimismus: Einerseits ergebe sich »aus der Anlage der Darstellung klugerweise keine theoretisch begründete Voraussage« über den weiteren Krisenverlauf. »Rhetorisch verleiht Wolfgang Streeck seiner Darstellung der Krisentendenzen allerdings ein gewisses Flair von Unausweichlichkeit.« Eine Ursache für das Nichterkennen von politischen Alternativen vermutet Habermas darin, »dass Wolfgang Streeck den Sperrklinkeneffekt der nicht nur rechtlich geltenden Verfassungsnormen, sondern des faktisch bestehenden demokratischen Komplexes unterschätzt«. (Habermas 2013: 64) Ein Beispiel für die Wirkungen dieses »demokratischen Komplexes« sieht Habermas darin, dass »die massenhaften Proteste in Lissabon und anderswo« zu einigen Korrekturen der Sparpolitik führten, dass es also politische Alternativen gab.

Dieser kritische Hinweis von Habermas, dass Streeck politische Alternativen nicht erkenne oder ignoriere, bedarf einer Vertiefung. Denn politische Alternativen intellektuell nicht zu erkennen und und praktisch-politisch nicht zu nutzen, ist Kern und Hauptursache für das Elend und die Ohnmacht linksintellektueller Kapitalismuskritik.

Der praxisnegierende Theorieansatz linker Kapitalismuskritik

Mit seiner Formulierung, dass Streeck nur »rhetorisch ... seiner Darstellung der Krisentendenzen ... ein gewisses Flair von Unausweichlichkeit« verleihe, also zum Determinismus neige und Alternativen ausschließe, verharmlost Habermas gravierende Defizite in Streecks Analyse-Ansatz, bzw. seinem wissenschaftstheoretischen Paradigma. Es ist nicht die Rhetorik der Darstellung, sondern ein spezifisch linkes Paradigma der Kapitalismuskritik, das objektivistisch-deterministisch die Entwicklung der ökonomischen Basis, also des Kapitalismus, als objektive ›Naturgegebenheit‹ voraussetzt, die subjektiven Faktoren des Überbaus, politische Akteure und Ideen ausklammert und daher politische Alternativen und Handlungsspielräumen nicht wahrnehmen kann, also die Möglichkeit von Praxis negiert. So hat Streeck zwar überzeugend begründet, dass der real existierende Kapitalismus nicht mehr mit der politischen Demokratie vereinbar ist und diese Demokratie gefährdet und überwinden wird. Aber er vermag nicht zu erkennen, was engagierte Demokraten praktisch tun könnten, um die Demokratie zu retten und den Kapitalismus zu überwinden.

In seinem Buch Gekaufte Zeit (2013a), das aus den Adorno-Vorlesungen im Juni 2012 in Frankfurt hervorgegangen ist, analysiert Streeck die Entwicklung des Nachkriegskapitalismus, die durch die Krisen zum »Ende des demokratischen Kapitalismus« geführt hat, zur Alternative »Demokratie oder Kapitalismus«. (Zusammenfassend dargestellt im letzten Abschnitt seines Buches und in seinem Beitrag in den Blättern für deutsche und internationale Politik. (Streeck 2013b) Den Beginn dieses Krisenprozesses datiert er auf Ende der sechziger Jahre. Da er diese Entwicklung als objektiven Prozess beschreibt und nicht nach subjektiven politischen Akteuren fragt, sieht er in dieser Krise des Kapitalismus »eine Krise seiner Wirtschaft ebenso wie seiner Politik«. (Streeck 2013a: 23) Es ist also die Krise der »Politik des Kapitalismus«, nicht die Krise dieser oder jener politischen Partei, oder dieser oder jener ökonomischen Theorie.

Bei seiner Darstellung des Krisenprozesses beruft er sich auf zahlreiche Aussagen aus den wirtschaftswissenschaftlichen Diskursen, erwähnt aber nicht politische Parteien und ihre Programme als subjektive Akteure dieses objektiven Krisenprozesses, der zur »Auflösung des demokratischen Kapitalismus der Nachkriegszeit« geführt hat (Streeck 2013a:10) und zur »Entdemokratisierung des Kapitalismus«. (Streeck 2013a: 28) Hinweise auf subjektive soziale oder politische Akteure im objektiven Entdemokratisierungsprozess bleiben pauschal: Während »die Massenloyalität der Arbeit- und Konsumnehmer gegenüber dem Nachkriegskapitalismus stabil« blieb, war es das Kapital, »das dem demokratischen Kapitalismus ... die Legitimation« aufkündigte, um soziale Verpflichtungen loszuwerden.(Streeck 2013a: 44 f.) Nicht die Lohnabhängigen, sondern »Kapitalbesitzer und Kapitalverwalter (begannen) einen langen Kampf (päziser: Klassenkampf, H. H.) für einen grundlegenden Umbau der politischen Ökonomie des Nachkriegskapitalismus« (Streeck 2013a: 54) für eine »Fundamentalrevision des Wohlfahrtsstaates der Nachkriegsjahrzehnte«. (Streeck 2013a: 57)

Nur einmal erwähnt Streeck eine bestimmte Bevölkerungsgruppe als persönlich Verantwortliche, nämlich »die Unterschichten«: Der Erfolg des Neoliberalismus führte zu mehr Ungleichheit, und diese wiederum zum Rückgang der Wahlbeteiligung, besonders bei den Benachteiligten: »Die politische Resignation der Unterschichten schützt den Kapitalismus vor der Demokratie.« (Streeck 2013a: 90) (Er erwähnt aber nicht, dass seit Ende der achtziger Jahre Heerscharen von intellektuellen Sozialisten als Kronzeugen reumütig das Scheitern des »Sozialismus jedweder Art« und den Endsieg des Kapitalismus im Weltmaßstab anerkannten, und damit, mehr als die Unterschichten, dem Kapitalismus nützten, und natürlich auch sich selbst!) Diesen bemerkenswerten Sachverhalt hätte er erwähnen können, als er sich darüber wunderte: »Die lange Wende zum Neoliberalismus stieß in den reichen Gesellschaften des Westens auf bemerkenswert schwachen Widerstand.«  (Streeck 2013a: 58)

Wenig erhellend ist die kritische Feststellung: »Versagt haben Demokratie und demokratische Politik, als sie versäumt haben, die Konterrevolution gegen den Sozialkapitalismus der Nachkriegsära als solche zu erkennen und sich ihr zu widersetzen.« (Streeck 2013a: 58) Denn es gab nicht das objektive Naturereignis ›Konterrevolution‹ oder ›Wende zum Neoliberalismus‹, dem sich die ›demokratische Politik‹ nicht widersetzt hat. Es gab aber und gibt die demokratischen Politiker, Intellektuellen, Wissenschaftler und Publizisten, die die neoliberale Ideologie übernommen, propagiert und politisch durchgesetzt haben, als willige Helfer des Kapitals. Nicht das Kapital hat durch Abschaffung der Demokratie die »Fundamentalrevision des Wohlfahrtsstaates« durchgesetzt, sondern die von der Mehrheit des Volkes demokratisch gewählten Volksvertreter, mit Unterstützung von Wirtschaft. Wissenschaft und Publizistik. Ein Beispiel unter Zehntausenden, zugleich Zeichen für das Ethos wissenschaftlicher Machteliten, wie Wissenschaft und Publizistik »die Konterrevolution gegen den Sozialkapitalismus« nicht erkannt und sich ihr nicht widersetzt haben, sondern sie aktiv unterstützt und propagiert haben, ist ein Aufsatz im SPIEGEL, Nr. 19/1999, unter dem Titel An Arbeit fehlt es nicht (S. 38 ff.). Die Autoren, Wolfgang Streeck und Rolf Heinze, wissenschaftliche Berater der rot-grünen Bundesregierung, machen den ›Sozialkapitalismus‹ (im Aufsatz allerdings nicht so genannt) für die hohe Arbeitslosigkeit verantwortlich und begründen eine marktkonforme Alternative: »Das wichtigste Instrument einer neuen Arbeitsmarktpolitik im Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft ist – der Markt.« (S. 44) Dagegen habe die »Betreuungsmentalität« der bisherigen Arbeitsmarktpolitik den Arbeitslosen »die Erfahrung vorenthalten ... , daß sie für sich selbst sorgen können«. Es gehöre zu den »Solidaritätspflichten der Gemeinschaft ... , ihre Mitglieder nicht vor Marktzwängen zu schützen, die sie dazu bewegen könnten, sich noch einmal aufzuraffen«. (S.44)

Die kritische Beurteilung des deterministisch-objektivistischen Theorieansatzes von Streeck widerspricht nicht seiner Diagnose, dass der Kapitalismus zu einer akuten Gefahr für die Demokratie geworden ist, sie soll aber erklären, dass Streeck damit keine Erkenntnisse für eine wirksame Therapie zur Rettung der Demokratie gewinnen kann. Im Vorwort seines Buches erwähnt er eine Gemeinsamkeit mit Adorno: »Ich halte es auch für falsch, von jemandem, der ein Problem als solches beschreibt, zu fordern, dass er zusammen mit dessen Analyse gleich eine Lösung liefert.« Dennoch fügt er hinzu, am Schluss mache er doch »einen, allerdings nicht sehr realistischen Vorschlag, was zu tun wäre.«  (Streeck 2013a: 7) In der Tat »nicht sehr realistisch« ist sein Vorschlag, ein bisschen Demokratie durch den Rückbau Europas zu retten.

Streecks scharfe Kritik am »Konsolidierungsstaat als europäisches Mehrebenenregime«  ist zwar weitgehend zutreffend: Im »europäischen Mehrebenenregime« werde die Konsolidierungspolitik abgesichert gegen die Risiken der Demokratie in den Nationalstaaten, z. B. die Abwahl einer Regierung, und zwar durch Einbindung in »eine Art internationalen Superstaat ohne Demokratie«. (Streeck 2013a: 159 ff.) Die durch die EU erzwungene Konsolidierung der Staatshaushalte durch Abbau des Wohlfahrtsstaates diene dem »Oberziel eines allgemeinen Rückbau des Staates und seiner Interventionen in den Markt, also als Teil eines neoliberalen Entstaatlichungs- und Privatisierungsprogramms«. (Streeck 2013a: 176) Zu den »Kontinuitätslinien« des europäischen Konsolidierungsstaates gehöre es, den Staaten den Ausweg in den Staatsbankrott zu versperren und durch Zuschüsse die Kreditgeber zu bedienen. (Streeck 2013a: 210)

Widerstand gegen die Politik – aber keine andere Politik

Nach dieser weitgehend berechtigten Kritik fragt er nicht, wie Habermas, ob nicht eine andere Politik in der EU möglich wäre, bei anderen politischen Mehrheitsverhältnissen. Er fragt nur nach Möglichkeiten der Opposition und des Widerstands gegen diese »Konsolidierungspolitik«, zu der es offensichtlich keine politische Alternative gibt. Er beginnt gedämpft optimistisch; »Opposition gegen überstaatliche Austeritätsdiktate ist schwierig, freilich ist sie nicht unmöglich.« (Streeck 2013a: 215) In Griechenland und Italien konnten Parteien und Wahlen den Austeritätsdruck lockern. In Deutschland unterstütze die Opposition die Regierung beim Festhalten am Euro. Mit anderen Worten: Die Opposition opponiert nicht konstruktiv gegen die Politik der Regierung.

Dennoch ist Opposition möglich und nötig. »Wenn konstruktive Opposition unmöglich ist, bleibt« für die Unzufriedenen »nur destruktive Opposition. Sie ist nötig, um die retardierende Wirkung der Restdemokratie in den Nationalstaaten zu verstärken. Wenn demokratisch organisierte Staatsvölker sich nur noch dadurch verantwortlich verhalten können, dass sie von ihrer nationalen Souveränität keinen Gebrauch mehr machen und sich für Generationen darauf beschränken, ihre Zahlungsfähigkeit gegenüber ihren Kreditgebern zu sichern, könnte es verantwortlicher erscheinen, es auch einmal mit unverantwortlichem Verhalten zu versuchen.«  (Streeck 2013a: 218) Wenn der Mehrheit nur Verluste bleiben, »dann könnte in der Tat das Unvernünftige das einzig Vernünftige sein«. (Streeck 2013a: 219) (Doch ist es wirklich »das einzig Vernünftige«, wenn die Mehrheit, der nur Verluste bleiben, das »Unvernünftige« tut und immer wieder Politiker mit Mehrheit wählt, die die reiche Minderheit entlasten, zu Lasten der Mehrheit?)

Er präzisiert zwar nicht, wie dieses »Unvernünftige« als »das einzig Vernünftige« konkret aussehen könnte und wer es tun sollte. Er deutet aber an, es könnte darin bestehen, dass verschuldete Staaten ihre Schulden nicht zurückzahlen. »Dass Staaten ... ihre Zahlungen ganz einstellen können, ergibt sich aber schlechthin aus ihrer Souveränität.« (Streeck 2013a: 221) Streeck kritisiert die fatalen Folgen der Austeritätspolitik und beschreibt mitfühlend die Empörung und Verzweiflung der Menschen, die ins Elend gestürzt werden. Er prüft aber nicht, ob der Rückbau Europas und der Staatsbankrott der Schuldnerländer tatsächlich den verarmenden Menschen Vorteile bringen könnte. Er sucht auch nicht nach anderen praktikablen Auswegen.

So paradox es klingen mag: Seine Analyse bestätigt die neoliberale Ideologie: There is no alternativ, in dem er rückblickend feststellt: There was no alternativ, und vorausschauend: There will never be an alternativ.

Doch zum Abschluss seiner persönlichen praktisch-politischen Überlegungen wächst das Rettende noch. Er entdeckt das, was von der »professionalisierten Politikwissenschaft« unterschätzt werde, nämlich »die politische Produktivkraft moralische Empörung«. Jene »professionalisierte Politikwissenschaft« bemerke nicht, dass die »Regenten des Konsolidierungsstaates sich vor kaum etwas so fürchten wie vor der Wut derer«, die sich »für dumm verkauft fühlen«. Dass die Krise zu sozialen Unruhen führen könnten ist der Albtraum der Herrschenden, die »Paris und Turin 1968« nicht ganz vergessen haben. »So gesehen waren die gelegentlichen Straßenschlachten in Athen und die globale Occupy-Bewegung der ›Neunundneunzig Prozent‹ ein guter Anfang.«  (Streeck 2013a: 222) Nach dieser Formulierung haben die Neunundneunzig Prozent zwar nicht die Möglichkeit, mit demokratischer Mehrheit eine bessere Politik durchzusetzen, aber sie können der herrschenden Minderheit vielleicht so viel Angst einjagen, dass sie doch eine ein bisschen bessere Politik macht. Denn »eine gesteigerte Reizbarkeit und Unberechenbarkeit der Staatsvölker ... wäre immerhin eine soziale Tatsache. Sie könnte als ›Psychologik‹ der Bürger neben die der Märkte treten und wie diese Berücksichtigung verlangen. Schließlich können Bürger ebenso in ›Panik‹ verfallen und ›irrational‹ reagieren wie Finanzinvestoren, vorausgesetzt, dass sie sich nicht auf mehr ›Vernunft‹ verpflichten lassen als diese, auch wenn ihnen als Argumente nicht Geldscheine zur Verfügung stehen, sondern nur Worte und, vielleicht, Pflastersteine.«  (Streeck 2013a: 223) (Eiserner Vorhang nach nicht enden wollenden stürmischen Ovationen der Antikapitalisten!!)

Wenn ein angesehener Wissenschaftler einer gut begründeten Kapitalismuskritik noch einige persönliche politische Bemerkungen dieser Art anfügt, so wäre das kaum der Rede wert, wenn die politische Substanz dieser Bemerkungen nicht dem Mainstream in den kapitalismuskritischen Diskursen entspräche, wenn also der dominierende Antikapitalismus nicht so hilflos und ohnmächtig wäre, dass sich die Anhänger des Kapitalismus davor nicht fürchten müssen.

»Moralische Empörung« – »politische Produktivkraft« nur im Bündnis mit politischer Repräsentation

Diese Hinweise auf Ohnmacht und Hilflosigkeit des verbreiteten Antikapitalismus in Wissenschaft, Publizistik und sozialen Bewegungen ist keineswegs Ausdruck für Geringschätzung oder pauschale Ablehnung. Ich bin sogar davon überzeugt, dass darin durchaus potenziell eine ›politische Produktivkraft‹ enthalten ist, die aber aus erkennbaren Gründen nicht wirksam werden kann. Die ›moralische Empörung‹ der Bürger, ihre Proteste gegen die wachsende soziale Ungerechtigkeit und ihre Kritik an der ›politischen Klasse‹, sind aus folgenden Gründen so ohnmächtig: Es handelt sich fast nur um lokale und dezentrale Initiativen, Proteste und Aktivitäten, ohne Zusammenhang mit einer gesamtgesellschaftlichen Reformbewegung. Die Akteure wissen zwar, warum sie das bestehende kapitalistische System ablehnen, aber sie wissen nicht, und denken nicht einmal intensiv darüber nach, wie ein anderes und besseres System aussehen könnte. Es gibt keine Kommunikation mit den Institutionen der repräsentativen Demokratie, vor allem mit den Parteien, um zu überlegen, wie man durch Einfluss auf Parteien und Regierungen eine systemverändernde Reformpolitik durchsetzen könnte. Man erwartet von den Parteien nichts, um eine antikapitalistische Politik mehrheitsfähig zu machen und durchzusetzen. Daher gibt es kaum gesellschaftspolitische Programme, Ideen, Visionen oder Utopien für eine bessere Gesellschaft.

Wird diese pessimistische Einschätzung nicht widerlegt durch die Tatsache, dass man in der Wochenzeitung Die ZEIT, vom 27. März 2013, einen »Schwerpunkt: Utopien« findet? Leider nicht. Denn bei den dort behandelten Utopien handelt es sich nicht um Ideen zur Frage, wie engagierte Bürger eine bessere Gesellschaft verwirklichen könnten. Es handelt sich um ein Weltbild und um Utopien, in denen politisch engagierte Bürger keine Rolle spielen, überflüssig sind. Im Beitrag von Marcus Rohwetter ist die Quintessenz dieser Utopien, in den Demokratie und Politik keine Rolle spielen, schon in Über- und Zwischenüberschriften präzise zusammengefasst: »Die Zukunft gehört den Technokraten.« – »Gott ist ein Computer – Religionen und Regierungen liefern keine Welterklärungen mehr und scheitern bei der Lösung globaler Probleme. Jetzt übernehmen Technologiekonzerne die Rolle der Weltverbesserer.« – »Die Technik ist das Mittel zur Überwindung des Bösen.«

Da es im Mainstream der antikapitalistischen Diskurse kein empirisch und theoretisch fundiertes Konzept für die Überwindung des geschmähten Kapitalismus gibt, erblühen auch immer wieder medienwirksame antikapitalistische Visionen. Der Designtheoretiker und Schriftsteller Friedrich von Borries hat jüngst erfolgreich ein neues Genre kreiert, das »Projekt RLF«, das man als »amüsant-unterhaltsamen Antikapitalismus« charakterisieren könnte, oder auch »Pay-Antikapitalismus«, weil man dafür teuer bezahlen muss, wenn man den Kapitalismus bekämpfen will. Das »Projekt RLF« – Anspielung auf Adornos Diktum: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen« – soll »das richtige Leben im falschen« möglich machen, durch Überwindung des Kapitalismus.

In einem Interview mit von Borries in »tip Berlin« (2013: 17 ff.), in vielen weiteren Interviews und Medienberichten, in dem Roman RLF, in einem ebenfalls RLF genannten Unternehmen, in einer Ausstellung mit einer »Weltverbesserungsmaschine«, etc., etc., erhalten die Antikapitalisten die Frohe Botschaft: Nach fast 200 Jahren vergeblicher Bemühungen, den Kapitalismus mit antikapitalistischen Mitteln zu überwinden, droht dem System endlich das Aus, und zwar von »unserem ja etwas merkwürdigem Konzept, den Kapitalismus mit seinen eigenen Mitteln überwinden zu wollen«. Von Borries beschreibt nicht nur diese Mittel des Kapitalismus, mit denen RLF den Kapitalismus überwinden wird, er wendet sie auch selbst an.

Zu den Mitteln des Kapitalismus, und damit des antikapitalistischen Projekts RLF, gehören produzieren, verkaufen – kaufen, Mehrwert generieren: »Im Zentrum (von RLF, H. H.) steht eine Produktlinie. Wir haben zehn, elf Luxusprodukte, die einen sehr großen Bereich unseres Konsumalltags abdecken: Kleidung, Wohnen, vielleicht auch bald noch Schmuck.« (S. 17) Die Käufer dieser Designer-Luxusprodukte, mit »limitierter Auflage« werden »die Shareholder der Revolution«. (S. 19) Und er macht deutlich: Nicht die Arbeiterklasse – wie bei Marx – ist das revolutionäre Subjekt, sondern »die oberen Zehntausend« sind Träger dieser Revolution: »Das Besondere an RLF ist: Wir wollen an die oberen Zehntausend ran, an die man sonst nicht rankommt.« (S. 17) Dass diese Revolution die historische Mission nur einer Klasse ist, macht er mit seiner Antwort (bei der er wenigstens »grinst«) auf die Frage deutlich, ob man als Inhaber eines Sparbuchs »Shareholder der Revolution« sein könne: »Nun, unsere Produkte sind in einem Preissegment, wo das Sparbuch allein nicht reichen wird.« (S. 19)

Ergo: Wenn nicht mehr das gesellschaftliche Sein des Kapitalismus, sondern das Design der Luxusprodukte von RLF das Bewusstsein (der »oberen Zehntausend«) bestimmt, dann wird der Kapitalismus endlich endgültig überwunden sein!  

Zweimal Krise der politischen Repräsentation

Die aktuelle Situation der repräsentativen Demokratie in Deutschland ähnelt einerseits der Krise in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Bildung der Großen Koalition 1966 verstärkte bei vielen kritischen Bürgern den Eindruck, dass die Parteien als Institutionen der repräsentativen Demokratie keine politischen Alternativen und keine Opposition gegen die herrschende Politik anbieten können. Neben einer intellektuell-publizistischen Opposition, die in den historischen Darstellungen meist unterschätzt oder sogar ignoriert wird, wurde die studentische Protestbewegung zu einem medienwirksamen Faktor für eine Politisierung und Mobilisierung kritischer Bürger gegen die vorherrschende Entpolitisierung breiter Kreise der Bevölkerung und ihrer Repräsentanten in Parteien, Parlamenten und Regierungen.

Die Außerparlamentarische Opposition (APO) wurde zu einem basisdemokratischen gesellschaftlichen Machtfaktor jenseits der Institutionen der repräsentativen Demokratie. Eine wachsende Zahl politisch interessierter Aktivbürger engagierte sich nicht mehr in den träge und langweilig gewordenen Parteien, sondern in den vitalen basisdemokratisch-außerparlamentarischen Bewegungen. Das war für viele attraktiver als traditionelle Parteiarbeit in der repräsentativen Demokratie: Kandidaten für Wahlen aufstellen, ohne sie nach ihrer politischen Meinung zu fragen, und dann für sie Plakate zu kleben. Die wachsende Vorliebe für basisdemokratische Aktivitäten im Sinne direkter Demokratie hätte auch, wie in den vergangenen Jahren, zu einer gefährlichen Schwächung der repräsentativen Demokratie führen können, zu einer starken Politik- und Parteienverdrossenheit, zum dramatischen Rückgang der Zahl der Parteimitglieder und der Wahlbeteiligung.

Doch damals kam es anders als gegenwärtig: Die mächtige Außerparlamentarische Opposition, die basisdemokratische Kritik an der Bürgerferne der repräsentativen Parteiendemokratie, stärkte paradoxerweise die repräsentative parlamentarische Demokratie und sogar die viel geschmähten politischen Parteien: Die Beteiligung an den Bundestagswahlen stieg von 78,5 Prozent im Jahre 1949, zwischen 85 und 86 Prozent in den sechziger Jahren, auf das Rekordniveau von 91,2 Prozent bei den »Willy-Wahlen« im Jahr 1972. (Also rund 20 Prozent mehr als 2009 und 2013). Und die Zahl der SPD-Mitglieder, die in den sechziger Jahren bei rund 600.000 lag, erreichte Mitte der siebziger Jahre wieder rund eine Million (heute mit 470.000 weniger als die Hälfte.)

Was war damals anders als heute? Heute herrscht weitgehend Funkstille zwischen den von immer weniger Bürgern gewählten Repräsentanten und der Normalbevölkerung, vor allem den unzufriedenen, politikverdrossenen, resignierten oder auch protestierenden Bürgern, von denen keine Aufbruchstimmung ausgeht. Dagegen wirkten die radikaldemokratischen und sozialistischen Diskurse und Proteste der intellektuell-publizistischen Opposition und der APO keineswegs resignativ, sondern lösten eine optimistische Aufbruchstimmung aus, die nicht nur politisierend und mobilisierend in die träge Wirtschaftswundergesellschaft hineinwirkte, sondern auch in die SPD und sogar in die damals noch liberale FDP.

Die Neue Linke und die APO stärkten auch die innerparteiliche linke und sozialistische Opposition in der SPD, die nach innen und außen wieder deutlich erkennbar wurde, vor allem nach der Linkswende der Jungsozialisten Ende der sechziger Jahre. Nicht einschläfernde »Geschlossenheit« der SPD, sondern lebhafte kontroverse innerparteiliche Debatten um den richtigen politischen Kurs, damals vor allem in der Deutschland- und Ostpolitik, zur innerparteilichen Demokratie und zum Demokratischen Sozialismus, ein deutlich erkennbarer linker und sozialistischer Flügel, machten die SPD wieder interessant und attraktiv für kritische parteilose Bürger. Und so konnten Sozialdemokraten damals, mit dem heute undenkbaren Argument für den Eintritt in die SPD werben: Wenn Euch die SPD nicht gefällt, dann tretet ein, um sie mit uns zu verändern.

Und diese Argumentation war durchaus erfolgreich. Der massive Zustrom, vor allem junger und kritischer Mitglieder, ermutigte und erfreute zwar die einen, schürte aber auch bei anderen die Angst vor ›Unterwanderung‹ der SPD. Durch zahlreiche ›Parteiordnungsverfahren‹ mit Ausschlüssen oder Funktionsverboten suchten sie die Reinheit der Partei zu bewahren. Doch andere luden die kritische Jugend ausdrücklich zur Mitarbeit in der Partei ein. Der Jungsozialist Norbert Gansel konstatierte erfreut: »Viele kleine ›Unterwanderstiefel‹ haben die SPD in Bewegung gesetzt.« Und diese in Bewegung gesetzte SPD erreichte 1972 mit 45,8Prozent der Zweitstimmen ihr (bisher!) bestes Ergebnis.

Diese Erfolge, neben der neuen  Deutschland- und Ostpolitik die produktive Integration großer Teile der rebellischen Jugend in die SPD, wären sicher ohne Willy Brandt nicht möglich gewesen. Aber der Erfolg Willy Brandts wäre auch nicht möglich gewesen ohne diese politisierte aktive Basis in der SPD, und auch nicht ohne die fruchtbare Kommunikation zwischen den innerparteilichen Diskussionsprozessen und und den außerparlamentarischen Aktivitäten und intellektuellen Diskursen.

Diese Erfolge sind auch nicht zu verstehen ohne den damaligen Zeitgeist, als man noch nicht wie heute den Wortteil ›Geist‹ in Anführungszeichen setzen musste. Es war eine Zeit, »als Bücher noch geholfen haben« (Delius). In zahlreichen Büchern, Zeitschriften, Massenmedien, Tagungen und Seminaren, in normalen Versammlungen der SPD, wurden die Fragen einer besseren Politik und Gesellschaft intensiv und kontrovers, bewusstseinsbildend, analysiert und diskutiert. Ohnmächtige politische Unzufriedenheit konnte dadurch zu einem kritischen politischen Bewusstsein werden, das als politischer Machtfaktor zum Politikwechsel beitrug.    

Außerparlamentarische Opposition auch nur »emotional, irrational« ?

Nicht alle beurteilen die Ergebnisse der APO und ihrer Teilintegration in die SPD so positiv wie oben dargestellt. Wolfgang Streeck sieht die Ohnmacht der heutigen kritischen Oppositionsbewegungen gegen den Kapitalismus sogar ausdrücklich identisch mit der APO vor über vier Jahrzehnten: »Denen, die sich der Marktgerechtigkeit nicht unterwerfen wollten, bliebe ... lediglich, was in den späten 1960er Jahren als außerparlamentarischer Protest bezeichnet wurde: emotional, irrational, fragmentiert, unverantwortlich – eben das, was zu erwarten ist, wenn die demokratischen Wege der Artikulation von Interessen ... versperrt sind« (Streeck 2013b: 62). Nur an einem konkreten Beispiel, von denen es viele Tausende gibt, sei hier empirisch belegt: Nicht alle, die Streecks Kapitalismuskritik teilen, agierten und argumentierten damals nur »emotional, irrational, fragmentiert, unverantwortlich«, wie Streecks rückblickender Pessimismus glaubt: Im Sommer 1971 planten die Jungsozialisten einen Strategiekongress, zu dessen »Vorbereitung und Durchführung ... ein Konzept erarbeitet« wurde, das keineswegs nur »emotional, unverantwortlich« ist, wie einige Zitate zeigen:

»1. Arbeitsgruppe. Die politischen Perspektiven des ›demokratischen Sozialismus‹ in der BRD und Westeuropa.«  -  »A. Die Aktualität des Sozialismus. 1. Objektive Möglichkeit der Realisierung eines neuen gesellschaftlichen Modells der Gesellschaftlichen Produktion und Konsumtion ... .« -  »B. Perspektiven der Systemtransformation (qualitativer Sprung). 1. Restriktive Bedingungen für eine sozialistische Reformpolitik im Spätkapitalismus.« -  »4. Die Eroberung der Macht beginnt an der Basis (Gorz). Strategie der Systemveränderung durch Basismobilisierung, Selbstorganisation der Massen und Entfaltung von Gegenmacht. ... Versuch der Ermittlung von Kriterien für die Unterscheidung von systemsprengenden und technokratischen Reformen. C. Die Rolle der reformistischen Organisationen der Arbeiterbewegung im Prozeß der Systemtransformation (Sozialdemokratie und Gewerkschaften, Rolle der traditionalistischen KPs in den romanischen Ländern)« (Streeck 1971: 16).

Diese wenigen Zitate aus aus dem Beitrag des Jungsozialisten Wolfgang Streeck im Jahr 1971 zeigen deutlich, dass Streecks pessimistische Einschätzung des außerparlamentarischen Protestes in den 1960er Jahren, rückblickend aus dem Jahr 2013, sachlich eindeutig falsch ist. Die damaligen Kapitalismuskritiker waren selbstbewusster und überzeugt, es gäbe realistische Chancen, den Kapitalismus durch systemverändernde Reformpolitik zu überwinden. Der Text bestätigt die fruchtbare Kommunikation zwischen innerparteilicher und außerparlamentarischer Opposition (»Basismobilisierung, Selbstorganisation der Massen«). Die Aktivitäten in der Gesellschaft und in den Institutionen der repräsentativen Demokratie stimulieren und stärken sich gegenseitig, beide Seiten beurteilen ihre Aktivitäten »positiv«.

Dagegen entschuldigt sich Streeck in seinem Buch von 2013 schon in der Einleitung dafür, dass er vielleicht »das Positive« gar nicht finden werde, und zwar mit dem auf Adorno verweisenden Argument: »Was, wenn es gar nichts Positives gäbe?« (Sreeck 2013a: 9). Hinter dieser Argumentation steht ein im linksintellektuellen Milieu verbreiteter ›objektivistischer‹ Denkansatz: Die Wissenschaft analysiert die objektive gesellschaftliche Wirklichkeit und bemüht sich redlich, dabei auch das objektive Faktum »DAS POSITIVE« , bzw. »Das Gute«, zu erkennen. Doch wenn es »gar nichts Positives« gibt, liegt das nicht an den Wissenschaftlern. Denn wie in den Naturwissenschaften können auch die Sozialwissenschaften nur erkennen, was es wirklich gibt.

Dieser wissenschaftlich-objektivistischen Einstellung stand schon lange die praktische Vernunft Erich Kästners entgegen: »Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!« Diese Einstellung war damals Grundlage für die optimistische Aufbruchstimmung in der Protestbewegung und auch in der SPD: Das, was wir wollen, eine bessere und gerechtere Gesellschaft des Sozialismus, ist »DAS POSITIVE«. Ausgehend von dieser normativen Bestimmung des »Positiven« hat sozialistische Theorie die praxisorientierte Aufgabe, durch kritische Analyse der Gesellschaft zu erkennen, durch welche Reformpolitik wir dafür sorgen können, dass es mehr »Positives« gibt.

Die heutige Kapitalismuskritik ist politisch so ohnmächtig, weil sie sich darauf reduziert, zu begründen, warum das System so übel ist und Demokratie und sozialen Zusammenhalt gefährdet, aber überhaupt keinen Gedanken darauf verschwendet, welche Elemente, Institutionen, Regelungen zu einem alternativen System gehören könnten, das schrittweise den verdammten Kapitalismus überwinden könnte. Noch fataler ist es, dass diese Kapitalismuskritiker es gar nicht als ihre Aufgabe ansehen, über Grundzüge eines alternativen Systems und über politische Akteure zu seiner Verwirklichung wenigstens nachzudenken. Oder wäre etwa die Besetzung der Wallstreet und die Blockierung der Deutschen Bank ein wichtiges Element einer neuen und besseren Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung?

Die heute vorherrschende und in den Medien geschätzte Kapitalismuskritik hat nicht einmal einen Namen, geschweige denn einen Begriff von dem alternativen System, das an die Stelle des Kapitalismus treten soll. Damals dagegen gab es eine starke selbstbewusste intellektuelle und politische Linke, die mit der Vision einer besseren Gesellschaft des Demokratischen Sozialismus vielen Menschen politische Orientierung bot. Nicht nur das gesellschaftliche Sein des Kapitalismus, sondern auch die Idee des Demokratischen Sozialismus bestimmte damals das Bewusstsein vieler Menschen. Dieser kapitalismuskritischen Macht begegneten auch die Akteure des Kapitalismus mit Respekt, so dass sie den Sozialstaatskompromiss respektierten. Diesen konnten sie risikolos aufkündigen, als nach der Implosion des Sowjetkommunismus die Mehrheit der intellektuell-politischen sozialistischen Linken die neoliberale Interpretation der neuen Zeit übernahm: Der Kapitalismus hat im Weltmaßstab gesiegt, der Sozialismus jedweder Art ist gescheitert. Und mit dieser Interpretation haben die neoliberalen Machteliten in den vergangenen Jahrzehnten erfolgreich die Welt verändert und sind jetzt dabei, »das Ende des demokratischen Kapitalismus« herbeizuführen.

Der in der Krise des Kapitalismus wieder aufflammende Antikapitalismus, auch als Meinungs-Mainstream, jagt den Profiteuren dieses Systems keine Furcht ein und kann sogar von ihren Medien gepflegt werden, in denen man zwar die Abschaffung des Kapitalismus fordern kann, aber die Erhöhung des Spitzensteuersatzes verdammen muss.
In der Weimarer Republik sagte Tucholsky: Wenn man SPD wählt, hat man das gute Gefühl, etwas für die Revolution getan zu haben, und zugleich die Garantie, dass sie nicht kommen wird. Heute würde er vielleicht sagen: Wenn man den Kapitalismus scharf kritisiert, hat man das gute Gefühl, etwas gegen den skandalös ungerechten Kapitalismus getan zu haben, und zugleich die Garantie, dass er uns noch lange erhalten bleiben wird.   

Thesen für eine politisch wirksame Kapitalismuskritik

Habermas verweist, nebenbei, auf eine Ursache dafür, dass Streeck keine »konstruktive Lösung« aufzeigen kann: »Allerdings flirtet er am Ende des Buches mit der ziellosen Aggression eines selbstdestruktiven Widerstandes, der die Hoffnung auf eine konstruktive Lösung aufgegeben hat.«  (Habermas 2013: 63) Die Formulierung, er »flirte« mit dieser »ziellosen Aggression« ist allerdings verharmlosend, weil diese defaitistische Mentalität die Quintessenz seiner Überzeugung ist, dass es gar nichts Positives gibt und man daher auch keine Alternative zum Kapitalismus, dem Negativen, suchen kann. Ein solcher Defaitismus bei einem Wissenschaftler wäre noch keine Tragödie, wenn es nicht die im antikapitalistischen Spektrum vorherrschende Mentalität wäre, die auch die beste Kapitalismuskritik ohnmächtig macht.

Hauptursache für diese defaitistische Mentalität ist ein rational nicht zu erklärendes Phänomen in der Geschichte des politischen Denkens: Die große Mehrheit der intellektuellen und politischen sozialistischen Linken übernahm – ohne Diskussion – die neoliberale Interpretation der Implosion des Sowjetkommunismus: Das ist das Scheitern des Sozialismus jedweder Art. Auf der Grundlage dieser Interpretation gelang es den neoliberalen Machteliten in den folgenden Jahrzehnten, die Welt in ihrem Sinne zu verändern. Während ein Teil der Ex-Linken auch den Endsieg des Kapitalismus im Weltmaßstab anerkannte und auch den Unterschied zwischen rechts und links für obsolet erklärte, blieben andere zwar weiterhin Gegner des Kapitalismus, hatten ihm aber keine Alternative mehr entgegenzusetzen.

Wer dennoch weiterhin an der Alternative Sozialismus festhielt, galt nicht nur in den Augen der Neoliberalen als unbelehrbarer Betonkopf, sondern gehörte auch nicht mehr zur kapitalismuskritischen Rest-Linken, für die das Wort Sozialismus zum Unwort und Tabu geworden war. Als die jüngsten Krisen des Kapitalismus die Zahl seiner Kritiker rapide anwachsen ließen, fanden diese als Orientierungshilfe keine realistische theoretische Strömung geschweige denn eine mehrheitsfähige politische Partei, die die wachsende antikapitalistische Stimmung zu einem politischen Machtfaktor machen konnte.

In der Krise der politischen Repräsentation Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre dagegen wurde die SPD dank ihrer inneren Erneuerung immer deutlicher als Alternative zu CDU/CSU erkennbar. Für viele außerparlamentarische Protestbürger wurde sie daher auch zu einer konstruktiven Alternative zum »selbstdestruktiven Widerstand« der vielen irrationalen maoistischen Kommunistischen Parteien und der RAF.

Um dem Verdacht entgegenzutreten, ich »flirte« mit dem Negativen in der Kapitalismuskritik, sei hier ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es dabei weit mehr »Positives« gibt als hier bisher dargestellt wurde: Es gibt durchaus zahlreiche fundierte kapitalismuskritische Analysen mit plausiblen Lösungsvorschlägen, die Bemühungen zahlreicher linker Think Tanks, Publikationen der Friedrich-Ebert-Stiftung, die Beschlüsse der Jungsozialisten für systemverändernde Reformen zur Überwindung des Kapitalismus durch den Demokratischen Sozialismus, etc., etc., und schließlich die Partei Die LINKE, die sich als Partei offen zum Demokratischen Sozialismus bekennt, aber dennoch bei den letzten Bundestagswahlen nur 8,4 Prozent gewann, obwohl sich 81 Prozent der Bevölkerung ein anderes Wirtschaftssystem wünschen, wie Die LINKE. Aber all dies »Positive« in der Kapitalismuskritik ist in der Öffentlichkeit nicht so bekannt wie jene Beiträge, »die die Hoffnung auf eine konstruktive Lösung aufgegeben« haben. Und es löst keine konstruktiven Debatten aus, die desorientierten und frustrierten Bürgern Orientierungen und Hoffnungen vermitteln und den linken Defaitismus durch eine Aufbruchstimmung vertreiben könnten. Viel zu tun gäbe es daher für intellektuell-politische Initiativen oder Organisationen, die sich darum bemühen würden, die vielen zerstreut und weitgehend unbeachtet agierenden Gruppen zu einem praxisorientierten sozialistischen Diskussionsprozess zusammenzuführen, um konstruktiv in die oft emotional-illusionäre Kapitalismuskritik einzugreifen, mit dem Ziel: Dem abgelehnten Kapitalismus wieder die anspruchsvolle, aber realistische Alternative des Demokratischen Sozialismus entgegenzusetzen und seine Verwirklichung zum Ziel politischer Reformpolitik der repräsentativen Demokratie und basisdemokratischer Mobilisierung zu machen.

Eine leicht gekürzte Fassung des Beitrages erschien in der Zeitschrift "perspektiven ds. Zeitschrift für Gesellschaftsanalyse und Reformpolitik", Nr. 2/2013.

Literatur:

August Bebel, 1877, Unsere Ziele, Leipzig, 6. unveränderte Auflage (1. Auflage 1870).

Friedrich von Borries, 2013, „Ich halte das System nicht für reformierbar“, in: tip Berlin, Nr. 18/2013.

Jürgen Habermas, 2013: Demokratie oder Kapitalismus? – Vom Elend der nationalstaatlichen Fragmentierung in einer kapitalistisch integrierten Weltgesellschaft, in; Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 5/2013.

Wolfgang Streeck, 1971, Planung des Strategiekongresses, in: Berliner Blätter für Sozialdemokraten, Nr. 7, 3. Jahrgang, Juli 1971.

Wolfgang Streeck, 2013a: Gekaufte Zeit – Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, 3. Auflage, Berlin.

Wolfgang Streeck, 2013b: Was nun Europa? – Kapitalismus ohne Demokratie oder Demokratie ohne Kapitalismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 4/2013.

 

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