von Milutin Michael Nickl
Werden die Europäer die Meinungsäußerungsfreiheit, Medienfreiheit und Pluralität mit Blick auf Artikel 11 der EU-Grundrechte-Charta (2007/C 303/05) »ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen« bewahren? Mit der Written Declaration 29, im Politsprech smile 29 genannt, hat das EU-Parlament etwas deklariert, das die bestehende EU-Richtlinie 2006/24/EG zur Vorratsdaten-Speicherung unverhältnismäßig verschärfen und die verdachtsunabhängige Überwachung aller EU-Bürger etablieren würde. Seit Mitte 2010 ist diese zweischneidige Willensbekundung des Europäischen Parlaments, die Written Declaration 29 – (aktuell siehe http://smile29.eu/index.html, deutschsprachige Version http://smile29.eu/doc/DS29_DE.pdf) − zur Browser-Kontrolle und verdachtsunabhängigen (!) Vorratsdatenspeicherung konkreter Inhalte von Suchmaschinen-Abfragen aktuell.
Kaum ein/e Betrachter/in dürfte vom ergreifenden, ja flehentlichen Blick des Kinderkopfes auf dem Smile-29-Poster nicht ergriffen sein. Persuasiv gelungen, aber leider Propaganda. Die Written Declaration 29, bzw. die Smile-29-Petition betrifft potenziell alle im 27-Staatenverbund lebenden EU-Bürger; im Jahr 2010 über 501 Millionen. Es handelt sich um eine extensive, grundrechtsignorante Erweiterung der Vorratsdatenspeicherung und verdachtsunabhängigen Überwachung sämtlicher EU-Bürger/innen, die digitalisierte Endgeräte benutzen.
Unser Zeitfenster beschränkt sich auf wenige Kernfragen in der deutschsprachigen Themenkarriere. Über den Transmissionsriemen der Written Declaration 29, bzw. durch die Smile-29-Petition soll sowohl die Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste erzeugt oder verarbeitet werden (Telecommunications data retention) erheblich erweitert werden als auch die ohnehin schon extensivierte Datenschutz-Richtlinie 2002/58/EG für elektronische Kommunikation (Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation) zusätzlich ausgeweitet werden. Und zwar im Design des Kinderschutzes und des Schutzes vor Kinderpornographie.
Ohne prärogative ideologische oder parteipolitische Vorprogrammierung und ohne plausible Hinweise auf Verantwortung, Pflichten und etwaige gesetzliche Restriktionen beim Ausüben von Meinungsäußerungsfreiheit und Informationsfreiheit zu ignorieren (Art. 11 der EU-Grundrechte-Charta, EU-Amtsblatt vom 14.12.2007, im Titel II »Freiheiten«, C 303/21), darf dennoch gefragt werden: Müssen Kinder als Vorwand für die Rechtfertigung von Überwachung und für die Eliminierung von Bürgerrechten herhalten? Medienübergreifend finden sich ernstzunehmende Argumentationslinien und Einwände, die nahelegen, dass es bei der Written Declaration 29, bzw. der Smile-29-Petition um etwas ganz anderes geht: tendenziell ums transnational geschickt eingefädelte Strangulieren der Netzfreiheit. Denn weder ist das wirkliche Netz-Volumen von Kinderpornographie bisher empirisch manifest ermittelbar noch der vertrauenerweckend klingende Slogan Löschen statt Sperren angemessen durchgreifend umsetzbar und nachprüfbar. Auf dem Prüfstand steht z.B. die Zusammenarbeit mit inhope.org. Und dabei geht es um die tatsächliche Handlungsfähigkeit dieser Internet-Beschwerdestelle (http://www.internet-beschwerdestelle.de/index.htm).
Deren anerkennenswerte Ziele werden im CDU-CSU-FDP-Koalitionsvertrag für die 17. Legislaturperiode des Deutschen Bundestags vom 26.Okt. 2009, (PDF-Version, Seite 105) nach einem gutmenschlichen Credo unter der Rubrik »Internetsperren« beigezogen. Zum Kontext gehört, dass das vom Deutschen Bundestag förmlich schon beschlossene Zugangserschwerungsgesetz (ZugErschwG vom 18.6.2009, vom Bundesrat verabschiedet am 10. 7. 2009), eine Art Sperrungs-Präzensur zur Bekämpfung der Kinderpornographie in Kommunikationsnetzen (damals von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebracht) durch den CDU/CSU/FDP-Koalitionsvertrag vom 26.10.2009 ausgesetzt wurde. Gilt zunächst für ein Jahr plus anschließend erforderlicher, zeitlich nicht vorgezeichneter Evaluierungsphase [Erfolgs- und Wirksamkeitsevaluierung] plus Neubewertung [aufgrund gewonnener Erkenntnisse ergebnisoffen] einschließlich Abschluss jener Neubewertung.
Der entsprechende Passus im erwähnten CDU-CSU-FDP-Koalitionsvertrag lautet:
…Die dauerhafte, wirksame Bekämpfung des Missbrauchs von Kindern ist politische Verantwortung und rechtsstaatliches Gebot zugleich. Wir sind uns darüber einig, dass es notwendig ist, derartige kriminelle Angebote schnellstmöglich zu löschen, statt diese zu sperren. Wir werden daher zunächst für ein Jahr kinderpornographische Inhalte auf der Grundlage des Zugangserschwerungsgesetzes nicht sperren. Stattdessen werden die Polizeibehörden in enger Zusammenarbeit mit den Selbstregulierungskräften der Internetwirtschaft wie der deutschen Internetbeschwerdestelle sowie dem Providernetzwerk INHOPE die Löschung kinderpornographischer Seiten betreiben. Nach einem Jahr werden wir dies im Hinblick auf Erfolg und Wirksamkeit evaluieren und aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse ergebnisoffen eine Neubewertung vornehmen. Vor Abschluss der Neubewertung werden weder nach dem Zugangserschwerungsgesetz noch auf Grundlager der zwischen den Providern und BKA abgeschlossenen Verträgen über Internetsperren Sperrlisten des BKA geführt oder Providern übermittelt. (http://www.cdu.de/doc/pdfc/091026-koalitionsvertrag-cducsu-fdp.pdf)
Rückblick auf die EU-Richtlinie 2006/24/EG vom 13. April 2006 (ABl. EU Nr. L 105: 54–60): sie zielt auf die Vereinheitlichung von Vorratsdatenspeicherung im Telekommunikationsbereich für einen je definierten Zeitraum, um schwere Straftaten zu ermitteln und zu verfolgen. Ein innerhalb der EU nationalstaatlich umstrittenes, gleichwohl pragmatisch nachvollziehbares und nachkonstruierbares Gefahrenabwehrrecht. Dessen Für und Wider bei der nationalstaatlichen Umsetzung von EU-Mitgliedstaaten zu erörtern, kann hier nicht eingepasst werden. Nur ein Detail. Zum Beispiel urteilte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts, verkündet am 2.März 2010 [BVerfG, 1 BvR 256/08, Absätze 1-345], Leitsätze samt Volltext dieser Entscheidung nachlesbar in www.bverfg.de/entscheidungen/rs20100302_1bvr025608.html, dass die konkrete Vorratsdatenspeicherung in der Bundesrepublik Deutschland in ihrer bisherigen Umsetzung verfassungswidrig und entsprechende Vorschriften nichtig seien, da das Gesetz zur anlasslosen Speicherung umfangreicher Daten sämtlicher Nutzer elektronischer Kommunikationsdienste keine konkreten Maßnahmen zur Datensicherheit vorsehe und die Hürden für den Abruf dieser Daten als zu niedrig bewertet wurden. Auf einen etwaigen Vorrang dieser EU-Richtlinie kommt es daher nicht an. Womit das Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG (Bundesrat-Drucksache 798/07) Makulatur geworden war. Was deutsche Telekommunikationsanbieter zur sofortigen Löschung der bis dahin gesammelten Daten verpflichtete. Das BVerG stellte allerdings auch fest, dass die Vorratsdaten-Speicherung unter schärferen Sicherheits- und Transparenz-Vorkehrungen sowie begrenzten Abrufmöglichkeiten für die Sicherheitsbehörden grundsätzlich zulässig sei.
Was besagt, dass das BVerfG generell nichts gegen ein etwaiges anderes Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung einzuwenden hätte, wenn denn dabei eine hinreichende Datensicherheit und Transparenz gewährleistet würde. Eine unmittelbare oder gar durchgreifende Kritik an den Restriktionen der existierenden EU-Richtlinie 2006/24/EG seitens des BVerfG vermag ich mit angewandt-linguistischen und textpublizistischen Mitteln in den erwähnten BVerG-Leitsätzen und in den urteilsbegründenden Darlegungen vom 2.März 2010 nicht zu entdecken.
Es geht also nur noch ums ›Wie der bundesdeutschen Angleichung von Rechtsvorschriften zur Bereitstellungsdaten- und Nutzungsdaten-Observierung‹, ums ›Wie von Provider-Daten-Checks bei öffentlich angebotenen elektronischen Kommunikationsdiensten und Internetanbietern‹, ums ›Wie der Telekommunikationsobservierung und Vorratsdatenspeicherung‹, um die spezielle mitgliedsnationale Umsetzung eines gemeinschaftlichen Ziels in Gestalt der EU-Richtlinie 2006/24/EG innerhalb der internen bundesrepublikanisch-nationalstaatlichen Rechtsordnung.
Das gemeinschaftliche Ziel der EU-Richtlinie 2006/24/EG verpflichtet die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, nationale Gesetze zu erlassen, wonach bestimmte Bereitstellungsdaten und Nutzungsdaten samt Verkehrs- und Provider-Daten öffentlicher elektronischer Kommunikationsdienste, Telekommunikations- und Internetanbieter [entsprechende private Dienste selbstverständlich inbegriffen] von diesen Dienste-Anbietern auf Vorrat gespeichert werden müssen. In der Bundesrepublik Deutschland muss die nationalstaatliche Umsetzung mit diesen sechs Leitsätzen übereinstimmen, die das BVerfG am 2.März 2010 mit 1 BvR 256/08, 263/08 und 586/08 aufstellte: www.bverfg.de/entscheidungen/rs20100302_1bvr025608.html. Solange diese EU-Richtlinie 2006/24/EG gilt, besteht eben die Verpflichtung zur Umsetzung in den 27 EU-Mitgliedstaaten. Jedenfalls solange diese wie auch immer einzuschätzende, erzwungene Vorratsdatenspeicherung samt Surfprotokollierung im avisierten Umfang nicht gestoppt wird, oder sich herausstellen sollte, dass sie evtl. mit der EU-Grundrechte-Charta nicht im Einklang steht.
Das Pro und Contra Vorratsdatenspeicherung ist medienpolitisch gewichtig, der Status quo labil und riskant. Vorläufig stellt die Smile-29-Petition nur die Written Declaration 29 dar, aber immerhin eine Erklärung des Europäischen Parlaments, keine EU-Richtline. Schon die Umsetzungsfragen der EU-Richtlinie 2006/24/EG (Vorratsdatenspeicherung) sind schwerwiegend genug. Aufgezeichnet könnte werden, wer mit wem über welche elektronische Kommunikationskanäle wann in Verbindung gestanden hat. Zahlreiche Details, Items und Kategorien zur verwickelten Vorratsdatenspeicherung bietet zum Beispiel die Wikipedia-Seite http://de.wikipedia.org/wiki/Richtlinie_2006/24/EG_%C3%BCber_die_Vorratsspeicherung_von_Daten.
Allgemeine Verbindungsdatenaufzeichnungen und verdachtsunabhängige Protokollierungen von persönlichen Aufenthaltsorten, vertraulichen medienvermittelten Tätigkeiten, Interaktionen und Kontakten mit Journalisten, Publizisten, Beratungsstellen, Behörden, Geschäftspartnern, Rechtsanwälten, Notaren usw. usf. werden dem ständigen Risiko des Bekanntwerdens durch Datenpannen und Datenmissbrauch ausgesetzt. In vielerlei Hinsicht mag dies bequem und vielleicht sogar ganz nützlich erscheinen: in jedem Einzelfall oder generell notwendig ist es nicht. Die verlautbarte Internetdelikt-Aufklärungsrate hat sich nach derzeitigem Informationsstand damit bislang nicht steigern lassen. (Vgl.: http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/370/79/lang.de/ )
Mit der Written Declaration 29 käme zur EU-Richtlinie 2006/24/EG eine EU-weite, digitalisierte Überwachungsqualität hinzu: ein bißchen Chinesification. Alle Begriffe und Schlüsselwörter, die EU-Bürger künftig in die Browser-Suchzeilen von Google, Bing! oder Yahoo! eingeben, würden observierbar und kontrollierbar gespeichert.
Einzelne Internet-Suchmaschinen wie ixquick.com und startpage.com wehren sich mittlerweilen dagegen, zu einer Art von Regierungsspionen umfunktioniert zu werden. (Vgl. http://www.ixquick.com/eng/press/pr-ixquick-fights-data-retention-policy.html) Im Falle von ixquick ist sachdienlich zu ergänzen, dass diese Internet-Suchmaschine am 14.Juli 2008 das First European Privacy Seal vom Europäischen Datenschutzbeauftragten verliehen bekam, gerade weil sie die Privatsphäre ihrer Nutzer angemessen schützt (https://www.european-privacy-seal.eu/press-room/press-releases/20080714-europrise-press-releas).
Die avisierte Problemlage – von der Umsetzung der EU-Richtlinie 2006/24/EG über die Written Declaration 29 zur Step-by-step-Chinesification ist EU-weit konstitutionell relevant und betrifft das Selbstverständnis potenziell aller Bürger der Mitgliedstaaten. Immerhin handelt es sich um eine klassische Frage mit cachiertem Instrumentarium von Vorzensur. Wohl könnte es gelingen, den Genius malus etwas zu neutralisieren, aber höchst wahrscheinlich nicht ihn zu besiegen.
Der Beitrag fasst einen Teil des Vortrags zusammen, den der Autor am 3. Sept. 2010 auf der Kondiaf-Jahrestagung Opportunität: Theorie und Praxis des Zeitfensters in der Fernuniversität Hagen gehalten hat.