von Lutz Götze
Die sintflutartigen Regenfälle rund um das Osterfest haben Frankreich erschüttert. Besonders an Yonne, Loire und Saone gab es Überschwemmungen von seit Jahrzehnten nicht bekanntem Ausmaß, mussten Hunderte von Menschen evakuiert werden, standen Zigtausende von Häusern und Wohnungen unter Wasser. Der materielle Schaden ist immens, weit schwerer aber wiegt das Leid der Betroffenen, die oft erst nach Stunden oder Tagen gerettet wurden. Feuerwehr und Hilfsdienste waren überfordert, strukturelle Mängel wurden allerorten erkennbar; hinzu kam eine gigantische Bürokratie. Das Vertrauen vieler Franzosen in den Staat sank beträchtlich.
Die von Menschen erzeugten Klimaschäden – Hauptursache der Unwetterkatastrophe – sind freilich nur eine Seite der Medaille. Auf der Gegenseite ist eine nahezu alle Schichten der französischen Gesellschaft erfassende negative Sicht auf Staat und Gesellschaft zu konstatieren, die bisweilen panikartige Züge aufweist. Die letzte Umfrage des ›Fiducial/Odoxa-Instituts‹ im Auftrage des konservativen Le Figaro vom März 2024 ergab, dass 72 Prozent der Befragten der Regierung kein Vertrauen mehr schenken, sie zu schützen: ›Neun von zehn Franzosen sehen die Unsicherheit im öffentlichen Raum anwachsen‹, titelt das Blatt am 2. April 2024. Überfälle, Gewalttaten und Diebstähle seien an der Tagesordnung, sechs von zehn Franzosen hätten ihre Wohnungen oder Häuser durch Alarmanlagen gesichert, ein Drittel trage Waffen. Von zwei Befragten sei bereits einer Opfer dieses Aufflammens von Gewalt geworden.
Lediglich Panikmache?
Wohl kaum. Wie auch in Deutschland ist hierzulande der Abstand zwischen Regierenden und Regierten enorm gewachsen, häufen sich Streiks und gewaltsame Bauernproteste, begehren Klimaaktivisten gegen Gesetze und Verordnungen auf. In Frankreich aber, zumal im Süden, kommt ein landestypisches Problem der Migration hinzu. Zwar gibt es, prozentual gemessen, weniger Flüchtlinge und Asylbegehrende aus dem Orient, der Türkei und der Ukraine, doch desto mehr Einwanderer oder im Lande Geborene aus den maghrebinischen Staaten Marokko, Tunesien und Algerien. Sie erwerben, gemäß dem ius soli, im Falle der Geburt im Lande, automatisch die französische Staatsbürgerschaft oder erlangen diese auf relativ einfache Weise. Obwohl sie, im Regelfall, die Landessprache beherrschen, ist der prozentuale Anteil der Arbeitslosen unter ihnen besonders hoch: Also erhalten Männer wie Frauen Sozialunterstützung, von der sie einen nicht unbeträchtlichen Teil ›nach Hause‹, also in den Maghreb, überweisen. Junge Muslime werden in auffallendem Maß gewalttätig, weil sie sich bei der Berufssuche und in der Ausbildung – oft zu Recht – diskriminiert fühlen und sich auf diese Weise das ihnen, ihrer Meinung nach, Zustehende sichern. Sie sind obendrein offen für islamistische und rassistische Parolen, verachten und misshandeln Frauen und Mädchen. Vom Ideal einer, aus dem vergangenen Jahrhundert stammenden, multikulturellen Gesellschaft sind sie weiter entfernt denn je. Ihre ›Kultur‹ ist der Hass, ihre Methode lautet Gewalt. Exceptio confirmat regulam.
Frankreich ist zunehmend ratlos, wie dem zu begegnen sei, die Regierung voran. Im Elysée-Palast, im Palais Matignon und in der Assemblée Nationale dominiert Aktionismus statt besonnener Politik, entlässt der Präsident reihenweise Minister und bestellt unerfahrene Jünglinge wie zuletzt Premierminister Gabriel Attal, dessen Projekt einer ›Arbeitslosenversicherung‹ (assurance-chomage) gerade im Parlament zu scheitern droht: an den eigenen Leuten! Macronisten der ersten Stunde werfen dem Premier vor, sein Plan bedeute keineswegs mehr Beschäftigung, sondern fördere Arbeitslosigkeit. Macrons Chancen, die zweite Hälfte seines letzten Mandats zu überleben – er darf 2027, bei der nächsten Präsidentenwahl nicht mehr kandidieren – stehen schlecht. Er hofft auf die zwei Großereignisse in diesem Jahre: Im Sommer gibt es die Olympischen Spiele in Paris, im Herbst soll Notre Dame wieder in alter Pracht erstrahlen. Trügt seine Hoffnung?
Die Rechte setzt auf traditionelle Werte: Der heutigen Politikerkaste seien jene Tugenden abhandengekommen, die – für sie – Altpräsident Georges Pompidou verkörperte, dessen 50. Todestag sich am 2. April jährte: Aus einfacher Familie hervorgegangen, stehe er für Pflichtbewusstsein, Solidität, Klarheit in Zielen und Sprache, Beharrlichkeit und Verlässlichkeit. Dies gelte es zurückzugewinnen, damit Frankreich in Europa und der Welt zu alter Stärke zurückkehre. Richtungweisend seine Worte aus der Rede an der Haute Ecole des Sciences Politiques: »Rien, je l´avoue, ne m´est plus pénible que les appels à la médiocrité, à l´abaissement qu´on baptise la sagesse!«
Reicht das heute aus, in Zeiten völlig anderer Herausforderungen und Bedrohungen? Eher nicht, zumal nicht durch die Beschwörung ehemals vermeintlicher nationaler Größe. Frankreich allein kann heute weder die nationalen noch die internationalen Probleme bewältigen.
Probleme im Innern
Frankreich ist hochverschuldet, müsste, wenn es das gäbe, Staatsbankrott anmelden. Stattdessen wird in Paris unverändert mehr Geld ausgegeben als eingenommen. ›Kreative Schulden‹, nennt das Finanzminister Le Maire. Irgendjemand aber wird irgendwann die Zeche bezahlen müssen. Die junge Generation muckt gegen diese Politik auf, immer häufiger auch gewalttätig. Doch ist bei ihr auch viel Egoismus und Eigenliebe zu beobachten, stattdessen wenig Beharrlichkeit, Zukunftsperspektive und Verantwortung für das Gemeinwesen. ›Persévérance‹ lautet daher der Vorwurf der Älteren: ›Durchhaltevermögen‹ auch dann, wenn der Wind von vorn bläst. Daran ist viel Wahres: Frankreichs junge Generation, ähnlich ihren Altersgenossen in den westlichen Industriestaaten, liebt das Leben im Wohlstand, den sie nicht erarbeitet hat: Partys, Drogenkonsum, Karriere. Dagegen stehen der Abbruch von Studien oder beruflicher Ausbildung, Gelegenheitsjobs und, zunehmend, Gewalt, um an Reichtum ohne eigene Arbeit zu gelangen.
Gewalttätigkeit erlebt der Fremde keineswegs nur bei Protestmärschen oder Bankeinbrüchen, sondern ganz alltäglich im Straßenverkehr: Franzosen sind gemeinhin friedfertig und dialogbereit. Doch wehe, wenn sie am Steuer eines Autos oder Motorrads sitzen: Sie werden augenblicklich zu Berserkern!
Die Landeskinder, zumal im Süden Frankreichs, sind seit Jahrzehnten dafür bekannt, gern zu rasen, Verkehrsregeln zu missachten und andere Teilnehmer zu bedrängen. Bedrängen? Eher ein Euphemismus!
Alle Untugenden, die man mit dem Auto oder Motorrad erleben kann, sind täglich zu konstatieren: Geschwindigkeitsbegrenzungen werden – trotz drakonischer Strafen – souverän missachtet, Sicherheitsabstände ignoriert, vorausfahrende Autofahrer werden aus der Spur gedrängelt, dem Anderen obszöne Fingerzeichen gesendet, Autos fahren in Zweierreihen in Kreisverkehre ein und vieles mehr.
A propos Kreisverkehr: Frankreich hat davon unzählige und mindestens zehntausend zu viel. Sie dienen keineswegs, wie behauptet wird, der Verkehrsberuhigung oder Geschwindigkeitsbegrenzung, sondern schaffen – wenn zusätzlich mit einem Ampelsystem verbunden – immense Verkehrsstaus und fördern Aggressionen.
Nächstes Problem des Straßenverkehrs: die Mautstellen. Frankreich hat davon jede Menge, errichtet mit Milliardenkosten. Viel weniger aufwändig und entsprechend kostensparend wäre ein ›Wapperl‹-System wie in Österreich. Aber niemand im Lande rüttelt an dem landesweiten Unsinn, ärgert sich allenfalls über Mautautomaten, die, immer erneut, die eingegebene Kreditkarte nicht akzeptieren oder überzähliges Bargeld nicht zurückgeben.
Frankreich ist zentralisiert, überbürokratisiert und entsprechend immobil!
Bildung und Erziehung
Frankreich ist, seit Jahrhunderten, stolz auf sein Bildungssystem, zumal die Eliteschulen: Haute Ecole Nationale de l´Administration (ENA) oder Haute Ecole des Sciences Politiques (Sciences Po), Académie Francaise, Collège de France und mehr davon. Doch sie bilden kaum noch Eliten aus, sondern befördern allenfalls berufliche Karrieren. Frankreich bringt seit Jahren nur wenige Nobelpreisträger hervor. Die Verlagerung mancher ›Eliteschulen‹ aus Paris in die Provinz hat diesen Prozess des Hervorbringens wissenschaftlichen Mittelmaßes eher beschleunigt.
Woran liegt das? Zu wenige Anforderungen, zu wenig Leistung, zu wenig Disziplin! So lauten die Antworten. Sie sind nicht einmal falsch.
Migration und Antisemitismus
Frankreich hat ein immenses Problem der Einwanderung: nicht nur, aber zumal im Süden. Das alte Prinzip des ius soli beschert dem Land immer häufiger problematische Konsequenzen: Wer in Frankreich geboren wird, ist Franzose. Das rächt sich. Zugleich wächst hier der Antisemitismus. Davon profitiert die Rechte. Die Auguren erwarten bereits bei den Europawahlen 2024, dass Rechts die meisten Stimmen erhält, und halten Marine Le Pen für die aussichtsreichste Kandidatin bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahre.
Aussichten
Präsident Macron hat anlässlich seiner Rede in der Sorbonne Ende April Frankreichs Stärke beschworen, sein militärisches Engagement in der Ukraine massiv bekräftigt und Frankreichs Platz in Europa betont. Die Strategie ist richtig, doch müssen ihr Taten folgen. Dabei kommt zuerst der Nachbar östlich des Rheins ins Blickfeld: Deutschland. Doch von dort drangen eher leise Töne an die Seine, war eher Zurückhaltung zu vernehmen. Dabei ist offenkundig, dass einzig eine enge Bindung Frankreich-Deutschland die Grundlage eines starken Europas bilden kann: ökonomisch, ökologisch, bildungs-und forschungstheoretisch, finanziell und militärisch.
Vor allem aber können nur diese beiden großen Kulturnationen dem Kontinent das geistige Rückgrat verleihen, das es braucht, um in der Welt zu bestehen: Erben der Aufklärung, der Klarheit des Gedankens und der Sprache, widerstandsfähig gegen alle populistischen und nationalistischen Ideologien, wie sie gerade jetzt weltweit in der Relativierung des Holocaust oder der russischen völkerrechtswidrigen Eroberung der Ukraine deutlich werden. Die Zeit drängt. Europas Zukunft steht auf dem Spiel.