von Gunter Weißgerber

Es häufen sich die Meldungen, wonach viele der russischen Soldaten nicht wissen, dass sie sich nicht im Manöver an der ukrainischen Grenze befinden, sondern Teilnehmer eines mörderischen Überfalls auf ihr Nachbarland sind.

Wäre das nicht schon 1968 beim sowjetischen Einmarsch in die CSSR genauso gewesen, damals wurde der ›Prager Frühling‹ ermordet so wie heute die demokratische Ukraine in ein faschismusähnliches Konstrukt zurück gebombt werden soll, könnten solche Meldungen auch als Kriegspropaganda des westlichen NATO- und Ukraine-Imperialismus abgetan werden. Was jedoch unmöglich ist. Die jungen und sicher überwiegend ängstlichen und traditionell schlecht versorgten Soldaten wussten beim Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 ganz sicher nicht, dass sie zum Morden losziehen und gleichzeitig Kanonenfutter sind.

Der russische Muschik muss schon immer für alles herhalten. Egal ob unter ›Iwan dem Schrecklichen‹, Lenin, Stalin, Breschnew oder Putin.

Interessanterweise führt der Internetblog ›Wortbedeutung.info‹ vier Deutungen für Muschik auf (https://www.wortbedeutung.info/Muschik/):
Bedeutung/Definition
1) ein einfacher russischer Bauer im zaristischen Russland
2) salopp: ein russischer Mann oder Alter (bei der Anrede)
3) scherzhaft: ein russischer Soldat
4) Jargon: ein Häftling im Hochsicherheitstrakt eines russischen Gefängnisses.

Bei Alexander Solschenizyn und vielen anderen russischen Denkern ist das alles auch sehr gut nachlesbar. Das macht nicht einmal viel Mühe. Man sollte es nur wissen wollen.

Unser Vater

Kurt Weißgerber geriet als Infanteriefunker am 1. Februar 1945 19jährig in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Die schwer wiederzugebenden Umstände seiner Gefangennahme erspare ich mir an dieser Stelle. Krieg ist immer furchtbar. Er hatte überlebt. Das war wichtig. Seine fünfjährige Gefangenschaft war hart. Auch hier erspare ich Einzelheiten. Er überlebte zum Glück auch diese Zeit.

Mir geht es am Beispiel unseres Vaters um etwas anderes, um seinen Blick auf die ›Muschiks‹, die er als Soldaten und Bewacher kennenlernen musste.

»Wir hatten mehr zum Fressen als die armen Schweine, die uns bewachen mussten! Wir hatten ja auch einen Wert, wir mussten schwer arbeiten. Aber die armen Kerle, die taten aus Sicht ihrer Offiziere nichts. Wache schieben war keine Arbeit.« Unser Vater sprach zeitlebens von dieser prägenden Erfahrung. Für ihn waren seine Kriegsgegner »arme junge Kerle« gewesen, die dieselbe Angst durchlitten und dieselben Sehnsüchte hatten. Der Hunger gehörte zu den gemeinsamen Erfahrungen von Gefangen und ihren Bewachern für Kurt Weißgerber.

Mitte der 70er Jahre konnten sich unsere Eltern ihr erstes Auto kaufen. Den sowjetischen Saporosch gab es 1975 für einige Monate ohne Wartezeit für rund 8000 DDR-Mark. Für einen Trabant lag die Wartezeit damals bei zwölf und mehr Jahren.

Mit ›Sascha‹ fuhren unsere Eltern seitdem beinahe jährlich in ein Betriebsferienheim nach Trassenheide an der Ostsee. An der Fahrstrecke lagen oft sowjetische Krad-Soldaten an Kreuzungen, die dort meist tagelang auf ihre Kolonnen zum Wegweisen warteten. Zwanzig Jahre jung, ohne ausreichende Verpflegung. Das waren die ›Muschiks‹, die Vater erlebte. Bei ihrem Anblick hatte er immer dasselbe déjà vu. Hungrige, ängstliche, von ihren Vorgesetzten missachtete junge Männer fern der Heimat. Immer machten unsere Eltern halt, sagten den Jungs »jetzt gibt es Brot«, machten kehrt und fuhren ins nächste Dorf zurück zum Bäcker. Mit genügend Brot im großen Netz ging es zu den Soldaten, begleitet von den Worten »Hier Brot, Chleb für euch. Und bitte beim nächsten 1953 nicht mehr mit Panzern kommen!«.

Meine Erfahrungen

Anfang der 70er Jahre war meine Klasse zu Gast in einer sowjetischen Kaserne. Einiges wurde uns gezeigt, darunter auch ein Schlafsaal für vielleicht hundert oder mehr Soldaten. Ein riesiger Raum ohne die Spur von Intimsphäre der hier drin Hausenden in Friedenszeiten. Bett an Bett, dazwischen kleine offene Regale für die Siebensachen der Soldaten. Bei diesem Anblick war ich beim Bild meines Vaters über die rechtlosen grauen Mäuse, ›Muschiks‹ genannt. »Das soll die Armee des Weltfriedens sein? Diese zusammengepferchten ihrer Privatheit beraubten Jungs sollen der Fortschritt sein?«, so meine Gedanken damals. Diese Armee stand für vieles, für Humanität nicht. Wer so mit seinen eigenen Leuten umgeht, dem ist nicht zu trauen.

Ostdeutsche Putin-Unterstützer

Was in aller Welt ist mit den vielen Ostdeutschen geschehen, die mit Putins Überfall auf die Ukraine und dessen wehrmachtsähnlicher Kampfführung wenig oder gar keine Probleme haben? Die meisten Ostdeutschen wussten bis 1989, wie die Sowjetarmee mit ihren Soldaten umging, wie wenig diese jungen Männer galten.

Hielt es ein 20jähriger Sowjetsoldat nicht mehr aus und flüchtete aus der Kaserne, wurde er durch die ganze DDR gejagt und überlebte er das Verprügeln, flog er schwerverletzt wie ein Kartoffelsack auf die Ladefläche des Jagdfahrzeugs und verschwand für immer. Für Ostdeutsche war klar, ›die bringen den um‹.

Und was ist heute? In Putins Armee herrscht noch immer derselbe menschenfeindliche Geist. Der ›Muschik‹ gilt nichts, überhaupt nichts. Verreckt er, ist er selber schuld, hat sich ja erwischen lassen. So hielt das schon ›Väterchen Stalin‹ mit den Sowjetsoldaten vieler Nationen, die die Dreistigkeit besaßen, die Hölle der deutschen Kriegsgefangenschaft zu überleben. Statt sich auf ihre Befreiung zu freuen, hatten sie Angst vor dem Gulag. Diese armen Seelen wussten, nach Hitlers Niederlage würden sie in den stalinschen Lagern verschwinden.

Chauvinismus

Aber vielleicht hat das ja etwas mit Chauvinismus zu tun? Weil es ›nur‹ um Slawen geht? Zu DDR-Zeiten wurden solche Vorgänge gleichgültig hingenommen. "Die Russen machen das mit ihren Leuten schon immer so" und ähnliche zynische Bemerkungen gab es von DDR-Offizieren, von großen und kleinen Vertretern der führenden Klasse. Ich habe das nie eingesehen.

Staatsbürger in Uniform

Zur selben Zeit als die sowjetische Untertanenarmee die CSSR überfiel war die Bundeswehr schon längst eine Armee mit dem Leitbild vom ›Staatsbürger in Uniform‹. Der Begriff wurde 1952 vom damaligen wehrpolitischen Berater der SPD Friedrich Beermann geprägt und in der Folge vom Amt Blank, das die Wiederbewaffnung vorbereitete, übernommen. (Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Staatsb%C3%BCrger_in_Uniform).

Gegensätzlicher können Armeen nicht aufgestellt sein. Auch wenn nie alles Gold sein kann, was glänzt. Aber wieso im Westen der Republik Sozialisierte Putin und seiner Armee Sympathien entgegenzubringen vermögen, das ist ohne psychologische Hilfe nicht erklärbar.

Das Glück der Mutigen

Wladimir Putin beweist der Welt gerade, wie richtig sich die Ostdeutschen 1990 entschieden haben. Die Einheit in der Freiheit und in der Sicherheit der NATO war damals nötig, das historische Zeitfenster war knapp bemessen gewesen. Bereits im August 1991 sollte es mit dem Moskauer Putsch geschlossen werden. Hätten die Putschisten obsiegt, wäre die kurz vorher reformierte DDR so sonderoperiert worden wie es 2022 der Ukraine widerfährt. Blut, sehr viel Blut wäre geflossen.

Deshalb haben die anderen ehemaligen Baracken des östlichen Lagers, nicht nur die ›lustigste Baracke‹ – Ungarn, folgerichtig ihre Anträge auf Mitgliedschaft in der NATO gestellt.

Mir war schon 1990 zu Zeiten des offenen Fensters völlig klar, Moskau wird wieder kommen und wenn das geschieht, wird es so ablaufen, wie es seit 2014 in der Ukraine wütet.

Wladimir Putin beweist der Welt gerade, wie sehr die in die NATO Geschlüpften Recht hatten. Unterm Schirm ist besser leben als daneben.

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