von Don Albino

Die Brandmauer, das sind wir, sagte die Abgeordnete der Linken am 31. Januar 2025 im Deutschen Bundestag – und es ist was dran, es ist was dran. Die AfD hat erstaunlich lange gebraucht, um das Wort von den ›Brandmauertoten‹ zu kreieren, obwohl es so nahe lag und durch die zementierten Abstimmungsrituale den Politikern geradezu auf die Lippen geschoben wurde. Das Volk, das gewisse ›Volk‹ war da weiter – in Aufgebrachtheit und Ablehnung, in Pro und Contra, und nicht zuletzt in der Frage: Wem nützt’s? Der von der eigenen Fraktion gerade auf Normalmaß zurückgestauchte Kanzlerkandidat der Union hat es endlich geschafft, dieser Frage Zutritt zur großen Wahlkampftribüne zu verschaffen: Wem nützen die Ermordeten? Eine heikle Frage, in der Tat, man sollte die Gruppe der Täter bei der Suche nach einer Antwort nicht vom Haken lassen, aber daran zeigt vorderhand niemand Interesse. In anderen Ländern scheint man da weiter zu sein.

Wem nützen die Ermordeten? Unbedarft, wie man ist, könnte man meinen, zunächst einmal denen, die an den eingerissenen Zuständen nichts ändern wollen. Doch das Meinen, das wissen viele, ist zu einer gefährlichen Angelegenheit geworden, man weckt damit Schlangen und Tiger, man hat sie, ehe man sich’s versieht, am Hals und wehe dem, der sich ihrer nicht zu erwehren weiß. Überdies beteuern alle Seiten, gerade sie wollten und könnten die Verhältnisse ändern, ließe man ihnen nur freie Hand. Insofern leben wir in einem Land der gefesselten Hände. Ob die Fessler in Brüssel, in den Ländern oder in der Regierung sitzen, scheint dabei eine nachgeordnete Frage zu sein, die sich mit einem kräftigen Sowohl-als-auch beantworten lässt. Darauf einen Schluck aus der Flasche! Spannender wirkt da schon die durch den Verlauf der letzten Debatten aufgeworfene Frage, wer in Berlins überbordendem Politikbetrieb sich wem solidarisch verbunden weiß. Die originellste Antwort scheint darauf Herr Merz gefunden zu haben: allen. Falsch! ruft es ihm dafür aus allen Richtungen zurück, grundfalsch! Merke: Allen Menschen recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann.

Aber wer will das schon? Am allerwenigsten Herr Merz, der sich gegenwärtig in der Kunst der Entfesselung übt und dabei Angst haben muss, vom Wähler zum Hungerkünstler herabgestuft zu werden. Vielleicht ist er als Kandidat auch schon angezählt. Wer will das wissen? Wer muss das wissen? Immerhin könnte sich das Wahlvolk dafür interessieren, wen es bei seinem Urnengang eigentlich wählt. Da sind die ›etablierten‹ Parteien sich dankenswert einig: Faschisten / Antifaschisten, mehr muss der dumme Michel nicht wissen. Um alles andere kümmern uns wir. Da freut sich der Michel und sorgt sich um seine sexuelle Identität, die, wie man weiß, seit langem im Argen liegt. Und er hat Grund zur Freude, denn in der Zuwanderungsfrage ist er nicht etwa gespalten, sondern erhebt seine Stimme seit Jahren zu einem fröhlichen »Beides bitte!« Das legt den Verdacht nahe, er könnte am Wahltag alle im Bundestag vertretenen Parteien mit gleicher Inbrunst wählen – bloß der Zwang, auswählen zu müssen, ist lästig und im Grunde undemokratisch. Anders die nicht im Parlament vertretenen Parteien: Es wird schon seine Gründe haben, dass die draußen sind. Dabei wollen wir es auch belassen.

Dass die CDU jetzt Angst um die Fensterscheiben an ihren Parteizentralen haben muss, verdankt sie ihrem Verrat an der Brandmauer. Wie jeder moderne Bau spaltet auch dieser das Publikum: »Abreißen!« schallt es von der einen, »Aufstocken!« von der anderen Seite. Wer da zwischen die Fronten tritt, besitzt schlechte Karten. Wie man hört, hat auch die Baumeisterin sich aus dem Hintergrund vernehmen lassen. Wie gesagt, es ist ein Thema von Verrat und Treue. »Die Mauer in den Köpfen muss weg!« intonierten bundesdeutsche Politiker, allen voran aus der SPD, nach dem Fall des Originals. So bestätigt sich eine alte Regel: Man muss nur lange genug zusehen, um zu erfahren, dass die Verhältnisse sich in ihr Gegenteil verkehren. Nicht nur die Verhältnisse, auch die Gesinnungen. Heute verteidigen die Genossen West die Mauer in den Köpfen mit einer Verbissenheit, als hätten einst sie ihre Einrichtung besorgt. Dabei bräuchten sie kaum zehn Jahre zurückzublättern, um zu sehen, wer’s war. Psychiater werden einst vom Krankheitsbild Mauerzwang sprechen, um anzudeuten, dass ein solches Bauwerk, einmal errichtet, sich nicht einfach abreißen lässt.

Im Grunde geht es den Deutschen mit ihrer Mauer wie den Berlinern mit ihrem Stadtschloss: Als die einen dachten, sie wären es endgültig los, sannen die anderen bereits auf seine Wiedererrichtung. Und so kam es dann auch – zugegeben, mit leicht verschobenen Fronten. Aber das ist bei der Mauer, diesem alldeutschen Gesamtkunstwerk, auch nicht anders. Genauer gesagt: Die gestern die Mauer in den Köpfen abreißen wollten, befinden sich heute auf ihrer anderen Seite. Bloß die Partei, die ursächlich mit der Wiederaufrichtung befasst war, kam dabei, wie sich heute herausstellt, vom Regen in die Traufe. Zwar zählt sie, wie die Türkei zur Nato, offiziell, wenigstens bis vor drei Tagen, zu den nominell Guten, doch inoffiziell nützt es ihr gar nichts, dass sie einen guten Teil ihrer Anhänger auf der anderen Seite zurückließ, der dort dann den ›gärigen Haufen‹ bildete, wie einer der Abtrünnigen das ausdrückte. Heute steht sie mit heruntergelassenen Hosen da und schämt sich in der einen wie in der anderen Richtung. Wer Gesamtkunstwerk will, der gehe nach Bayreuth – dort, hinter den sieben Hügeln, bei den sieben Zwergen, brennt Walhall in beinahe jeder Saison. Warum nicht von den Profis lernen? Was spricht dagegen? Nur die Stimmen klingen in Bayreuth prächtiger als in Berlin. Auch wirken die alten Texte überzeugender, solange man sie nicht dem Bann der Musik entzieht.

Voilà, das Morden geht weiter. Mittlerweile trifft es selbst Politiker aus den eigenen Reihen und man beerdigt sie schweigend. Ehrlich gesagt, loyalitätsstärkend wirkt das nicht. Wir sollen nicht wissen, wer, wir sollen nicht wissen, wen. Sind das Lenins heutige Jünger? Man müsste die Antifa fragen, aber die will nur Faust, nicht Gehirn der Partei sein. Ein Blick auf die britischen Nachbarn bringt da inzwischen weiter. Dort hat der Premierminister vor kurzem eine Rede gehalten, in der er unumwunden bekannte: Die Massenmigration nach Europa war und ist nichts, was einfach geschieht, sie war und ist von den Eliten geplant und gewollt. Hierzulande wurde diese Rede, wir wissen schon… Aber irgendetwas sickert ja doch immer durch. ›Brisant‹ ist das Wort: Einfach brisant! So brisant, dass die Website der britischen Regierung bloß eine purgierte Version der Rede verbreitet, aus der das Wort ›Eliten‹ verschwunden ist. Dieselbe Rede, von einem hiesigen Kanzler vorgetragen, bestünde wahrscheinlich aus lauter Pünktchen. Was nur zeigt, wie hoch die Verschwörungstheoretiker im Spiel um die Macht inzwischen geklettert sind. Wehret den Anfängen!

Die Brandmauer, das sind wir. Man sollte den Satz nicht so einfach in der Versenkung verschwinden lassen, man sollte ihn um- und umwenden und eingehend von allen Seiten unter die Lupe nehmen. Wer sind wir? Das ist, unter anderem, eine Frage an die Nation. Für viele dürfte das Grund genug sein, sich im Kriechgang um sie herum zu bewegen, schon aus der german angst davor, von der Antifa erwischt und an den Pranger gespießt zu werden. Das andere Wir, das ist nicht die untergegangene DDR. Eher sind es die Kräfte, die sie gezeugt hat. Aber auch das ist zu einem guten Teil Spekulation. Vergessen wir nicht, es ist der Westen der Republik, der an seiner Brandmauer hängt, als konkurriere sie mit dem schiefen Turm von Pisa. Vielleicht auch mit dem Turm zu Babel, wir wollen in diesem Punkt nicht zu pingelig sein. Was habe ich da gerade geschrieben? Wir? So schnell kann es gehen.