von Helmut Roewer

Man kann sicher sagen, dass es nicht gerade auf der Hand liegt, an einem nasskalten Samstag mit dem Auto die 400 Kilometer von Schilda nach Schwedt an der Oder zu fahren. Doch es gab zwei Gründe: Zum einen wollte ich diese Stadt einmal aus der Nähe sehen, die letztes Jahr zum ersten Mal in mein Bewusstsein vordrang, als ich mir über die Konsequenzen des Russland-Boykotts mainstream-freie Gedanken machte. Zum andern: Bei Einlesen in die Stadt-Annalen fiel mir im Veranstaltungskalender ein Ulrich Tukur-Konzert ins Auge. Das gab dann den Ausschlag. Für alle Miesepeter, die es gottlob unter meinen zwei bis drei Lesern nicht gibt, sei der Hinweis erlaubt, dass ich die Kombination von Wissensgewinn und Kunstgenuss für zulässig erachte: Das schwer Verdauliche rutscht so unter Umständen besser.

Zunächst war unübersehbar, dass die Stadt an der Oder keinen einigermaßen akzeptablen Autobahnanschluss besitzt. Aus Richtung Berlin auf der Stettiner Autobahn A 11 kommend, biegt der Automobilist frühzeitig nach Nordosten ab, so dass er gezwungen ist, mehr als 40 Kilometer über brandenburgische Landstraßen zu rumpeln – mit Geschwindigkeitsbegrenzungen, die alle 500 Meter wechseln. Die schlechte Erreichbarkeit ist insofern nicht ohne Witz, als die Raffinerie von Schwedt und ihr Betrieb die unabdingbare Voraussetzung dafür sind, dass man in Deutschland östlich der Elbe überhaupt mit dem Auto fahren kann.

Ein untrügliches Zeichen, dass man sich dem angepeilten Ort nähert, sind schließlich die Rauchwolken am Himmel, die rund 8 Kilometer vor dem Ziel aus den Nadelwäldern emporwachsen. Kommt man näher, sieht man die ewige Gasflamme über dem Komplex tänzeln. Sie gehören zur Erdöl-Raffinerie PCK, der, wie eingangs gesagt, meine Neugierde seit einiger Zeit gilt. Wenn man also vom Westen kommend nach Schwedt mit dem Auto vordringt, passiert man zunächst die unerwartet weitläufigen Industrieanlagen, bevor man in die eigentlichen Stadt eindringt. Schwedt hat keine Plattenbausiedlung, sondern es ist eine. Sie ist in der Mitte durch die Ost-West-Verkehrsachse geteilt. In dieser Stadt kann man sich dank der denkbar unkomplizierten geraden und breiten Straßen kaum verfahren.

Rückblick 1: Die auffällige Verkehrsschneise, die bis zu den Oder-Auen reicht, verdankten die Plattenbauten errichtenden Aufbauhelfer des Sozialismus dem Stadtbrand von 1681. Damals war Schwedt ein unbedeutendes Städtchen, dass seine Existenz einem befestigten Oderübergang verdankte, der im Mittelalter zwischen den diversen Herrscherfamilien Pommerns und Brandenburgs eine Rolle spielte. Mal war der Flecken mit Stadtrechten ausstaffiert, mal war er es nicht.

Schlimme Verheerungen richteten die Schweden im Dreißigjährigen Krieg (1618-48) an. Danach hatte die Stadt noch 130 Einwohner, aber man bekrabbelte sich. Dann folgte der Großbrand, der 1681 die mittelalterliche Bebauung vollends vernichtete. Beim Wiederaufbau waren die Stadtväter klug und durchsetzungsfähig genug, auf gerade breite Straßen zu setzen, die der beste Schutz gegen das Übergreifen von Bränden sind. Das neuzeitliche Schwedt wurde sodann mit barocken Häusern bebaut.

Von dieser neugebauten Stadt kann man kaum viel Sensationelles sagen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten hier um die 9000 Einwohner. Es gab einen Bahnhof und ein Amtsgericht. Bemerkenswert immerhin war ein Gewerbezweig, der etliche der Bürger zu ernähren vermochte: Man baute Tabak an und verarbeitete ihn sodann.

Die einschlägige Kunst war von hugenottischen Einwanderern mitgebracht worden, deren Zuzug nach Preußen durch den Großen Kurfürsten 1685 nach dem Edikt von Potsdam genehmigt und alsbald gefördert worden war, denn sie brachten aus Frankreich, von wo sie dank katholischer Intoleranz im 17. Jahrhundert vertrieben worden waren, Gedanken und Fertigkeiten mit, die man im rückständigen und bevölkerungsarmen Preußen brauchen konnte – auch ein wenig Lebensart. Die Tabakindustrie von Schwedt hielt sich bis 1990. Dann wurde sie, wie man damals roh formulierte, abgewickelt. Auf das Problem werden wir gleich noch einmal zu sprechen kommen müssen.

Rückblick 2: Im April 1945 trat die Rote Armee zum Sturm auf die Reichshauptstadt an. Hierzu überschritt sie die Oder beiderseits Frankfurts. Der Fluss war das letzte vor Berlin liegende natürliche Hindernis. Eine der Übergangsstellen lag im Raum Schwedt. Die Offensive wurde – so wie bei den Russen seit Jahren üblich – durch ein stundenlanges, sehr dichtes Artilleriefeuer eingeleitet, das in Schwedt buchstäblich keinen Stein auf dem anderen ließ. Das Tagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht bemerkt hierzu am 16. April 1945: »...trat der Feind zum Großangriff an der Oder an, 3:50-6:30 [Uhr] Art[illerie]-Feuer und Bomben und dann Antreten des Gegners und zwar südlich und nördlich Frankfurt, wo er mehrere Kilometer vorankam...«. Und am 18. April 1945 lesen wir einen »Nachtrag: Am 1. Tag waren gegen die 9. Armee eingesetzt 2500 Rohre, die 450 000 Schuss abgaben.«

Dieser Eintrag weckt den Gedanken, dass sich an der russischen Angriffs-Methodik bis zum heutigen Tag nichts geändert hat.

Abschweifung 1: Die Meldungen aus dem Ukrainekonflikt lassen wenig Zweifel aufkommen, dass die russische Armee sich, wenn sie auf Widerstand stößt, vor jedem weiteren Vorrücken den Weg durch massives Artilleriefeuer freischießt. Die schiere Masse der vorhandenen Kanonen und Raketenwerfer und die Menge der verschossenen Munition haben heutzutage alle sogenannten Experten in Staunen versetzt und immer wieder zu der fehlerhaften Behauptung geführt, die Russen müssten allmählich unter Munitionsmangel leiden. Doch das ist nicht der Fall, und es zeigt, wie lange die russischen Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg nachwirken.

Rückblick 3: Das sowjetische Tun hinterließ an den Durchmarschstraßen eine Schneise der Verheerung. Neben den eigentlichen Kriegsschäden infolge des Kampfgeschehens kamen Verwüstungen durch randalierende Soldateska hinzu, die für ihre Brandstiftungen und Morde durch die sowjetische Propaganda ausdrücklich ermuntert worden waren. Unter den Schreibtischtätern stach der viel gefeierte Schriftsteller Ilja Ehrenburg hervor.

Ehrenburgs Worte fielen auf fruchtbaren Boden. Kirchen, Herrensitze, große Gehöfte und Schlösser standen im Mittelpunkt der Zerstörungswut, die sich im April 1945 auf deutschem Boden austobte. Von der Stadt Schwedt war anschließend nichts mehr übrig, was der Erwähnung wert gewesen wäre. Aus der alten Bausubstanz hatten vielleicht zwei Dutzend Häuser überlebt, von den barocken Gebäuden genau eines (in Worten: eins).

Ende der 1950er Jahre kam erneut Leben in die Wüstenei. Die Wirtschaftsfunktionäre des Comecon, der Wirtschaftsplan-Organisation des Ostblocks, hatten beschlossen, eine Öl-Pipeline aus den Erdölgebieten der Sowjetunion nach Westen zu bauen, aus der die Vasallen, einschließlich der DDR, versorgt werden sollten. So nahm das Projekt Drushba (Дружба – Freundschaft) seinen Lauf.

Die DDR-Führung machte Nägel mit Köpfen, indem sie anordnete, dass gleich hinter dem Oderübergang der Pipeline bei Schwedt eine Raffinerie zu errichten sei. So entstand das Großprojekt PCK. Die Erzählungen, die ich mir hierüber angehört habe, schwankten zwischen Stolz auf das Erreichte und Ärger über die Entbehrungen, denn zunächst gab es an Ort und Stelle nichts, was lebenswert gewesen wäre. Lediglich an Parolen und Ruinen herrschte kein Mangel. Die weitgehend Zwangsrekrutierten arbeiteten unter wenig erbaulichen Bedingungen. Das Leben fand auf der Baustelle und in Barackenunterkünften statt.

Allmählich entstand die Stadt aus der Retorte, die man auch heute noch besichtigen kann – eine Betonstadt, deren rauer Charme von der Weitläufigkeit der Wohnanlagen herrührt. Die Platten brauchen Abstände, sonst ist das Ghetto da, ehe man es sich versieht. Hier in Schwedt kommt neben der günstigen planerischen Grundbedingung hinzu, dass die Platten offenbar gründlich und soweit wie möglich freundlich saniert wurden. Das wurde nur möglich, da im Jahre 1990 nicht das Licht ausgemacht wurde. Die PCK nahm ihren Weg in die Moderne.

Rückblick 4: Anders als bei der Tabak-Industrie war für die Ölraffinerie von Schwedt nicht das große Aus auf dem Plan der Wende-Heroen. Ich weiß nicht genau, ob ich hier eine Kriminalgeschichte oder eine solche von gigantischer Inkompetenz erzählen sollte. Zunächst einmal schien im Verlauf der 1990er Jahre für die DDR-Erdöl-Industrie der Wandel in die Jetzt-Zeit geglückt. Die sogenannte Umstrukturierung betraf – miteinander zusammenhängend – sowohl die Raffinerie in Schwedt, wie auch das Chemie-Dreieck von Halle-Bitterfeld, und, nicht zu vergessen, das DDR-Tankstellennetz von Minol.

Hier gab es einiges Gerangel, denn das Vorhandene versprach – nach Beseitigung der Hinterlassenschaften einer maroden Wirtschaft, die jahrelang auf Teufel komm raus aus der Substanz gezehrt hatte – wieder zu einer respektablen Größe wachsen zu können. Hier war ein Industriezweig, dessen Produkte in einem 16-Millonen-Land unverzichtbar waren: Sprit für die Autos, Heizöl für die Heizungen und Öl als chemisches Grundprodukt für alles Mögliche. Es war, um das zu wiederholen, zunächst viel Geld in die einschlägigen Anlagen zu pumpen, um sie auf Vordermann zu bringen.

Doch die Entscheidung, die man in der Bundesregierung und ihrer Treuhandanstalt traf, den Kern der ostdeutschen petrochemischen Industrie nach Frankreich zu verscherbeln, wirkt in der Rückschau geradezu laienhaft naiv – falls nicht kriminelle Energie am Platze war. Ich mag mich nicht zum literarischen Ankläger aufschwingen, der schon immer alles besser gewusst haben will, aber ein wenig kratzen sollte man an den getroffenen Entscheidungen schon.

Die Energieversorgung war für das Industrieland Deutschland seit dem Beginn seiner ernsthaften Industrialisierung das Zentralproblem von wahrhaft nationaler Tragweite. Das galt zunächst einmal für die Beschaffung von Energieträgern, von denen Deutschland nur bei der Kohle bemerkenswerte eigene Reserven hatte. Schon beim Öl war dies anders. Deutschland war von Lieferanten zu einhundert Prozent abhängig. Deswegen war deutsche Wirtschaftspolitik sich lange Zeit über einig darin, dass die Verarbeitung des Öls im eigenen Lande stattzufinden habe, um nicht weitere, nicht unbedingt notwendige Auslands-Abhängigkeit zu schaffen.

Gegen diesen Grundsatz wurde im Taumel des Wiedervereinigungs-Prozesses leichtfertig verstoßen. Den Zuschlag der Öl-verarbeitenden Industrie und die zugehörigen Handelsketten an ein französisches Öl-Konsortium, die Elf-Aquitaine (heute: TotalEnergies) zu erteilen, war nach den gerade erwähnten wirtschaftspolitischen Grundsätzen eine Fehlentscheidung. Bei der französischen Großindustrie muss man stets die Tatsache im Hinterkopf mit erwägen, dass der französische Staat in nahezu allen Sparten eine Eigentümer-ähnliche Stellung behauptet, also stets das letzte Wort hat.

Man mag meiner Kritik entgegenhalten, dass man die Öl-Entscheidung im Licht der deutsch-französischen Freundschaft damals hätte beurteilen dürfen. Doch genau zu demselben Zeitpunkt hatte sich gezeigt, was diese Freundschaft wert war: nichts, denn ebendiese französischen Freunde versuchten mit allen gebotenen Mitteln die deutsche Einheit zu verhindern.

Die Fehlentscheidung von Schwedt schien 30 Jahre lang keine Folgen zu haben, doch im Frühjahr 2022 wurde alles anders. Russlands militärisches Eingreifen im Donbass löste nach US-amerikanischer Aufforderung eine Orgie von Wirtschaftssanktionen aus, an denen sich fast alle europäischen Staaten beteiligten. Über die mit Russen-Öl betriebene Raffinerie in Schwedt äußerte sich bereits im Frühjahr 2022 die französische Firmenleitung des Haupteigentümers Elf-Aquitaine (TotalEnergies). Ich rücke an dieser Stelle die Notizen aus meinem Sudelbuch ein. Sie zeigen, nicht nur, was passierte, sondern auch wie die für Deutschland katastrophale Entwicklung Stück um Stück in mein Bewusstsein vordrang.

26. März 2022
Der französische Energiekonzern Elf-Aquitaine kündigt an, die russische Öl-Pipeline, an deren deutschem Spundloch er sitzt, zum Jahresende dicht zu machen. Das dürfte das Aus für das Chemiedreieck Leuna bedeuten. Hier wird eine Krise mit der Brechstange herbeigeführt.

Leuna (2): Der Anhaltinische Ministerpräsident, ein Herr Haseloff, sieht – falls die Postillen das richtig wiedergeben – hierdurch die Versorgung der Bevölkerung nicht gefährdet. Produktion und Arbeitsplätze spielen im Lande Wünsch-dir-was offensichtlich keine Rolle. Soviel Stuss hätte auch Erich Honecker von sich geben können.

Leuna (3): Jetzt haben wir es den Russen aber gegeben. Kriegen ihr Öl nicht mehr los bei uns.

Leuna (4): Am besten gefällt mir der Vorschlag, dass, wenn wir wirklich Öl brauchen sollten, wir dieses statt durch die Pipeline durch Tanker, die in Danzig gelöscht werden sollen, beziehen mögen. Dass zu einem Wirtschaftsstandort auch dessen Wirtschaftlichkeit gehört, entzieht sich den Vertretern der Plapperökonomie.

11. Mai 2022
Der Klimatiker Robert H. versucht in Schwedt an der Oder die aufgebrachten Leute wegen der russischen Ölpipeline, deren deutsches Endstück von den französischen Eigentümern am Jahresende dicht gemacht werden soll, zu beschwichtigen. Woran denkt der Mann aus Berlin? Zwangsverwaltung? Enteignung zugunsten des Bundes? Übung hat er ja mittlerweile mit der deutschen Gazprom-Tochter Germania.

18. September 2022
Ölhahn zu: Die Bundesregierung dreht weiter an der Energieschraube. Jetzt ist ihr die Treuhandverwaltung (sprich Enteignung) des russischen Ölkonzerns Rosneft eingefallen. Dieser ist Miteigentümer der bedeutenden Raffinerien in Deutschland. Man darf nun stündlich erwarten, dass Russland die Ölzufuhr über die Pipeline Drushba nach Schwedt an der Oder beendet.

Ölhahn zu (2): Deutsche Windstrom-Barone wollen die Raffinerie-Anteile von Schwedt erwerben, um, wie sie verkünden, den Menschen der Region eine Perspektive zu eröffnen (vermutlich durch den Aufbau von Hamsterrädern zu Stromerzeugung). Gleichzeitig spricht der Klimaminister von der günstigen CO2-Bilanz. Zynischer geht es kaum.

Ölhahn zu – Nebenkriegsschauplatz: Polen will die Anlage von Schwedt übernehmen, aber nur, wenn Deutschland dem russischen Öl abschwört. Man könne, das benötigte Öl aus Danzig und Rostock anliefern. Wusste gar nicht, dass dort bedeutende Ölfunde angefallen sind. Es fällt schwer, nicht an die auftrumpfende polnische Politik der Jahre 1938/39 erinnert zu werden.

6. Oktober 2022
Die Idee [des Ölpreisdeckels] ist älter als der gestrige EU-Beschluss. Sie mündete in die Entscheidung der französischen Elf Aquitaine ein, den Russen ab dem kommenden Jahreswechsel kein Öl, das durch die Pipeline Drushba nach Schwedt an der Oder gepumpt wird, mehr abzunehmen. Einer unüberprüfbaren Internetmeldung entnehme ich, dass die hiervon abhängige Leuna begonnen hat, ihren Betrieb runterzufahren. Ich lasse das mal im Raum stehen, denn es ist einen eigenen Aufsatz wert.

Aufprall in der Gegenwart: Es sieht ganz so aus, als sei das Spundloch der Pipeline Drushba am 1. Januar 2023 dichtgemacht worden. Erneut gebe ich meine Sudelbuch-Notate wider:

12. Januar 2023
Die Mineralölraffinerie Oberrhein (MiRO) in Karlsruhe ist die größte ihrer Art in Deutschland. Sie reduziert seit Jahresbeginn wegen des nicht mehr angelieferten Russenöls ihre Produktion. Offenbar drastisch. Das ist gut und schlecht zugleich. Schlecht ist, dass jetzt Benzin und Heizöl nicht mehr ausreichend produziert werden, um den gewohnten Bedarf zu decken. Gut ist, dass die Konsequenzen des Wirtschaftskriegs gegen Russland jetzt auch den Wohlstandsbürger im Westen Deutschlands erreichen, den es bislang nicht gejuckt hat, dass seit Monaten aus Schwedt an der Oder, dem zweiten großen Raffinerie-Standort in D, eindringliche Warnrufe laut wurden. – Schwedt, wo ist das denn? Dort wurde pünktlich zum Jahreswechsel, ganz so als sei das ein unabwendbares Naturereignis, die Pipeline Drushba abgeklemmt.

Wirtschaftskrieg (2): Selbstverstümmelung wird bei allen kriegführenden Nationen drastisch bestraft. Doch neu ist, wenn der Kriegführende selbst zu solchen Maßnahmen greift. Das geht mir durch den Kopf, als ich die Siegesmeldung des Bundespresseamtes vom 6. Januar lese: »Gute Nachrichten gibt es auch beim Thema Energie. Seit dem 1. 1. 2023 bezieht Deutschland kein russisches Öl mehr per Pipeline – ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer krisensicheren Energieversorgung!«

21. Januar 2023
Die Skyline der PCK-Raffinerie bei Schwedt an der Oder taucht plötzlich aus dem Morgennebel über dem Nadelwald auf. Die Schlote rauchen noch und eine Gasflamme tänzelt über der Szenerie. Der Ort hingegen wirkt wie ausgestorben, Samstagmittag im Oderbruch.

2. Abschweifung: Abends besuche ich das Konzert von Ulrich Tukur. Das Konzert findet in der Uckermärkischen Bühne statt. Das ist ein Gebäudekomplex des Neuen Menschen. Die Innenwände bemalt mit demselben in der Manier des ausschweifenden sozialistischen Minimal-Realismus.

Das Theater-Café hat geöffnet. Nach dem Konzert ist es bereits dunkel. Dazwischen liegen zwei Stunden formidable Schlager-Musik aus den 1930/40er Jahren nebst mimischen Grotesken. Die Zwischentexte spricht Tukur. Vieles davon scheint improvisiert. Auf jeden Fall ist es saukomisch. Ich habe mich unbefangen halb totgelacht. Zwei Stunden ohne Politik. Das ist beinahe politisch zu nennen.

Die heutzutage offenbar unverzichtbaren Nebelmaschinen lösen zum Schluss der Veranstaltung die Rauchmelder aus. Als ich endlich aus dem Theatergebäude heraus bin, ist die Hauptstraße durch Feuerwehrfahrzeuge verstopft. Die jedenfalls funktionieren, schließlich hat sich in das Gedächtnis der Stadt die Erfahrung mit Großbränden untilgbar eingeprägt.

Es ist halb elf am Abend, und in der Stadt gibt es nichts mehr zu essen. Beim Griechen El Greco reicht es nur noch für ein Glas Weißwein. Dass dazu wortlos zwei Gläser Ouzo auf den Tisch gestellt werden, veranlasst mich, zum Nachbartisch zu gehen, um den Schnaps dort loszuwerden. Das gibt Gelegenheit zu einem kurzen Wortwechsel. Bei Frühstück im Hotel dann dasselbe Thema am Nachbartisch, grob zusammengefasst: Die da oben tun nichts, um uns aufzufangen. Keiner spricht davon, dass die jetzige Krise mutwillig von denselben Leuten, die man jetzt des Nichtstuns bezichtigt, herbeigeführt wurde. Was soll man dazu noch sagen? Und schließlich, zum letzten Mal das Sudelbuch:

22. Januar 2023
Es schneit an der polnischen Grenze, das Land östlich der Oderbrücke von Schwedt wirkt trist. Ich mache kehrt. Mir ist nicht nach Ramschkauf, und ich bin zu faul, den Dieselpreis umzurechnen. Die A 9-Raststätte Fläming, jahrelang ein Routinehalt von und nach Berlin, wirkt verwahrlost und stinkt nach Fäkalien. Der Schweizer Betreiber Marché hat sich offenbar verpisst. Dafür ist der Toilettenpreis kräftig angehoben worden. Pecunia non olet (Geld stinkt nicht), sagten die alten Römer, die einschlägige Anlagen betrieben.

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Sie sind essenziell für den Betrieb der Seite (keine Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.