von Herbert Ammon
Die Wahlunterlagen sind eingetroffen, an den Bäumen und Laternen hängen die Wahlplakate, auf denen sich die Parteien im Wettbewerb um das beim Wahlvolk vermutete niedrigste Niveau geistig übertreffen. Zum 12. Februar 2023 sind wir Bürger (sc. -innen, m/w/d) des Landes Berlin, Hauptstadt der Bundesrepublik, aufgerufen zu wählen. Wir dürfen oder sollen wieder wählen, nachdem das Verfassungsgericht des Landes nahezu einstimmig das Prozedere der zurückliegenden Wahl am Tag des weltpolitisch bedeutsamen Berlin-Marathons am 26. September 2021 sowie den Modus der Stimmenauszählung als gravierende Verletzung demokratischer Prinzipien befand.
Das war einigermaßen peinlich für den regierenden Senat, will aber nicht viel heißen. Denn nüchtern betrachtet, sind Wahlen im Bundesland Berlin von minderer Bedeutung. Eine Umfrage vom 9. Januar besagt zwar, dass die ›konservative‹ CDU mit 22,5 Prozent rechnen darf und 2,5 Prozent vor den Grünen liegt, gar 3 Prozent vor der SPD. Das Ergebnis der Wahl ist gleichwohl – wenn nicht noch ein Wunder geschehen sollte – locker vorherzusagen: Es wird sich in der Hauptstadt nichts ändern, selbst wenn sich die Komponenten der Formel R2G leicht ändern sollten.
Das gänzlich auszuschließende Wunder bestünde darin, dass der CDU-Chef Kai Wegner als Regierender Bürgermeister mit der bisher regierenden SPD und der FDP eine ›Deutschland-Koalition‹ eingeht. An eine wundersame, politisch wirksame Rochade – von R2G hin zu CDU-SPD-FDP – ist indes aus zweierlei Gründen nicht zu denken. Zum einen fiele die FDP – laut genannter Umfrage bei 4 Prozent – als Koalitionspartner aus, zum anderen stieße eine ›rechte‹ Koalition in der SPD an der ›Basis‹ auf vehementen Widerspruch. Das mindere, von der CDU erhoffte Wunder einer schwarz-grünen Koalition – mit oder ohne SPD-Annex – wird von den Grünen ausgeschlossen, nachdem die CDU eine Vornamensforschung zur Aufklärung des Neuköllner Silvesterfeuerwerks ins Spiel gebracht hat. Derlei Statistik verstößt gegen die Skala grüner Grundwerte. Dass die AfD dank der Silvesternacht ein paar Prozent hinzugewinnen wird, verschafft umgekehrt dem Kampf gegen rechts noch mehr Überzeugungskraft.
Neue Wahlen hin oder her – Berlin bleibt Berlin. Etwas ändern will Bettina Jarasch, Senatorin für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz des Landes Berlin, Spitzenkandidatin der Grünen und Konkurrentin von Franziska Giffey für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin. Ihrer Vorstellung nach soll durch Zentralisierung auf Senatsebene die kostenaufwändige Bürokratie in den Bezirken abgebaut und Ausgaben eingespart werden. Man muss nicht mit Weissagung begabt sein, um vorherzusagen: daraus wird nichts. In allen Bezirken hängen die nach Parteiproporz berufenen Stadträte an ihren Ämtern, nicht nur die ›Linken‹ auf ihren Erbhöfen in Lichtenberg und Pankow, sondern auch all die anderen Vertreter der politischen Farbenlehre. Und wie die Bürokratie in den Bezirksämtern, wo Anträge auf Ausweis und/oder Reisepass, Baugenehmigung etc. oft monatelanger Bearbeitung bedürfen, zu höherer Leistungsfähigkeit zu motivieren sei, wissen nicht einmal ihre Kritiker.
Natürlich wird sich auch am Zustand der Straßen in der Stadt wenig ändern, außer dass noch mehr Verkehrswege – nach dem pilot project der ökologisch verödeten Friedrichstraße – radler(-innen)gerecht umgemodelt und/oder Straßenschilder dekolonial umbenannt werden. Vergeblich sperrt sich dagegen die CDU mit dem als anspruchsvoll alternatives Verkehrskonzept gedachten Wahlappell »Wir lassen uns das Auto nicht nehmen«. Noch weniger ändern wird sich am Leistungsniveau zahlreicher Berliner Schulen sowie insbesondere an den Zuständen in den Schulen der ›Problembezirke‹. Daran wird sich kaum etwas ändern, auch wenn der Senat seit kurzem mit der Verbeamtung der Grundschullehrer/innen samt Besoldung nach A 13 hinreichend nervenstarke Pädagogen gewinnen will.
Wahlen sind die Stunde des Souveräns, so einer der Kernsätze demokratischer Theorie. Durch Wahlen werde ermittelt, ob die Regierung ihren auf Zeit vergebenen Herrschaftsauftrag zum Nutzen aller gut oder zumindest hinreichend erfüllt hat. Der Souverän hat die Chance – oder Pflicht –, die bessere Alternative zu wählen. Soweit die Theorie. Die Theorie der Praxis hat Gaetano Mosca schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf den Begriff gebracht: Es herrscht – ungeachtet aller demokratischen Proklamationen – die classe politica, welche die Macht ausübt und gemäß nüchternem Kalkül hungrige Aspiranten oder fügsame Diener der bestehenden Machtverhältnise kooptiert.
Im Bundesland Berlin handelt es sich – historisch bedingt und öffentlich bedienstet – um eine politische Klasse sui generis. Wir können daher jetzt schon prognostizieren: Auch nach dem 12. Februar regiert die etablierte classe politica nach dem Bewegungsprinzip des politischen Leerlaufs. Angetrieben von edlen Motiven und geölt mit Ideologie.
P.S. Die im Hinblick auf die Rolle der Partei Die Linke im Bundestag politisch bedeutsamere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Modalitäten der gleichfalls zu wiederholenden Bundestagswahl steht noch aus.