von Siegfried H. Seidl
Der in Berlin erscheinende ›Tagesspiegel‹, Teil der Holtzbrinck-Verlagsgruppe, gehört in Deutschland sicher zu den sogenannten Qualitätsmedien, also zu den hochseriösen, demokratischen Blättern, die auch in Papierform immer noch ihren Weg auf den ausgewogen gedeckten Frühstückstisch des Bildungsbürgers finden. So weit so gut. Es gehört somit gewissermaßen zur täglichen Kür, unter der Überschrift ›Politik‹ Analysen und Einschätzungen zur politischen Lage in unserem Land zu servieren.
Nehmen wir also die Ausgabe von Mittwoch, 2. Juni 2021, und konsumieren wir den vielversprechenden Vierspalter Im Dilemma. Thema: ›Die CDU hat im Osten strategische Probleme – das zeigt auch die Debatte um den Regierungsbeauftragten‹. Hintergrund dieses Artikels ist die anstehende Wahl in Sachsen-Anhalt, bei der sich nach den neuesten Umfragen die CDU und die AfD ein Kopf an Kopf Rennen liefern werden (beide im Bereich zwischen 20 und 30 Prozent). Nur in Sachsen ist die AfD mit aktuell 29 Prozent noch attraktiver für die Wählerschaft.
Der Beitrag beginnt mit den ›klaren Worten‹ des Ostbeauftragten der Bundesregierung Marco Wanderwitz (CDU), 1975 in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) geboren und seit 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages. Nach Auffassung von Wanderwitz neigten die Ostdeutschen stärker zur Wahl rechtsradikaler Parteien, weil ein Teil der Wähler »diktatursozialisiert“ sei und »auch nach dreißig Jahren nicht in der Demokratie angekommen« sei. Darüber seien insbesondere CDU-Parteifreunde im Osten nicht begeistert. Der Artikel verschweigt, dass die Äußerung von Wanderwitz das gängige Erklärungsschema der Merkel-Regierung ist. Er hat also nichts ungewöhnliches gesagt.
Aber jetzt kommen die Experten, die das einordnen sollen, und das sollte man sich genau anschauen. Der Parteienforscher Oskar Niedermayer führt den immer stärkeren Druck auf die CDU auf Kohls Versprechen der ›blühenden Landschaften‹ zurück, die viele Hoffnungen geweckt hätten, die dann nicht erfüllt worden seien. Viele Unterschiede blieben aber auch 30 Jahre nach der Wende immer noch bestehen. Auch der Soziologe Steffen Mau wird mit ähnlichen Worten zitiert: Es seien viele Fehler bei der Wiedervereinigung gemacht worden. Diese Themaverfehlung kostet zwei lange Absätze.
Als Süddeutscher, der in den 1990er Jahren in der Verwaltung der Humboldt-Universität zu Berlin und beim Landesrechnungshof Brandenburg in Potsdam gearbeitet hat, habe ich den Wiederaufbau im Osten nicht nur erlebt, sondern sogar mitgestaltet. Ich kann also dazu folgendes sagen: Der Vorwurf, dass in den Neuen Bundesländern ab 1990 einiges schief gelaufen ist, mag stimmen, dazu hat unter anderem Helmut Schmidt im Jahr 1993 mit seinem Buch Handeln für Deutschland. Wege aus der Krise den großen Zeigefinger erhoben. Und ja, auch ich habe weniger verdient, obwohl ich im ›Westen‹ gelebt und im ›Osten‹ gearbeitet habe.
Wirklich ärgerlich ist bis heute, dass aus diesem Mythos der strukturellen Benachteiligung die SED-PDS, heute ›Die Linke‹, den meisten politischen Mehrwert gezogen und dies sogar ihr langfristiges Überleben gesichert hat, weil sie immer wieder den Finger in dieses Märchen gelegt hat. Die Geschichte ist längst darüber hinweg gegangen. Richtig bleibt, dass im Osten buchstäblich jeder Pflasterstein neu verlegt werden musste und dass im wesentlichen der westdeutsche Arbeitnehmer dafür die Steuern und Abgaben aufbringen musste.
Das wissen die allermeisten ›Ossis‹, wie sie damals abschätzig bezeichnet wurden, auch wenn sie soziale Nachteile durch Arbeitslosigkeit etc. erleiden mussten, wofür übrigens in erster Linie die sozialistische Misswirtschaft bis 1989 ursächlich ist. Diese Nachteile wurden aber auch gründlich sozial und finanziell abgefedert, und zwar wie in keinem ehemals von Kommunisten ruinierten Gebiet Mittel- und Osteuropas. Aber mit dem Aufkommen der AfD hat das rein gar nichts zu tun, null.
Wer sich mit der Frage beschäftigt, warum die AfD im Osten so stark geworden ist, muss nur die vielsagende ›Abrechnung‹ der ehemaligen Mitarbeiterin von Frauke Petry, Franziska Schreiber mit dem Titel Inside AfD lesen. Das Buch mit dem Untertitel »Der Bericht einer Aussteigerin« erschien 2018.
Sie schreibt auf Seite 23: »Die FDP war meine Partei... Die erste Regierung, die ich mitwählte, hat mich verraten. Der Neuanfang, den die FDP versprochen hatte, blieb aus. Stattdessen schaffte diese Koalition die Wehrpflicht ab und beschloss den Ausstieg aus der Atomkraft. Und sie riskierte zur Rettung des Euro das Geld der Steuerzahler.‹ Unter der Überschrift »Im Vollrausch: Jungmitglied in der AfD« schreibt sie weiter: »Nach der Gründung der AfD war Bernd Lucke auf allen Kanälen.... Dieser Politiker beeindruckte mich. Hier stand die wahre FDP, eine dem Staat, dem System kritisch begegnende frische Partei.«
Weiter schreibt sie: »Übersteigerte patriotische, nationale Töne waren damals in der AfD noch nicht zu hören. Bernd Lucke sah sich nie rechts der CDU, und das galt auch für Frauke Petry... Interessant für die Rechten wurde die AfD erst, weil die Medien sie national und rechts nannten. Daraus entstand eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Rechte drängten nun in die vermeintlich rechte Partei, und bald begannen sich die Mehrheiten in der Partei, nicht nur in Sachsen, langsam, aber stetig zu verschieben.«
Man könnte an dieser Stelle fragen, warum Frauke Petry von Anfang an nicht stärker dagegen vorgegangen ist. Die Antwort liefert wieder die Petry-Vertraute Schreiber: »Das erste Gebot der AfD-Bibel lautete: Alle dürfen alles sagen.« Damit ist klar, was die Funktion der AfD im Osten gewesen ist: eine Antwort auf Tendenzen des Westens zur ›politischen Korrektheit‹, die offenbar viele an das DDR-Regime erinnerten, in dem eben auch Vieles nicht gesagt werden durfte. Schreiber arbeitete somit 2018 heraus, dass aus dem Wanderwitzschen Diktum von der ›Diktatursozialisierung‹ genau andersherum ein Schuh wird: Die AfD hat wenig bis gar nichts mit den Altvorderen des SED-Regimes zu tun als vielmehr mit der 1989er Opposition gegen dieses Regime.
Aus dieser grund-demokratischen Haltung wurde dann ein Fluch. Lassen wir Franziska Schreiber wieder sprechen: »Alles durfte gesagt werden, niemand musste seine Meinung verstecken. Das Motto der Stammtische hieß Tacheles, niemand nahm ein Blatt vor den Mund, niemand achtete auch Konventionen der politischen Korrektheit, niemand genderte, niemand sprach von Dunkelhäutigen oder Maximalpigmentierten, und niemand störte sich daran, dass Vertreter der Identitären Bewegung (IB) oder anderer Rechtsaußengruppen anwesend waren.« Schreiber sah sich als Opfer der Medien: »Je härter die Medien uns angriffen, desto härter schlug ich zurück. Das hat zu meiner Radikalisierung beigetragen.« Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, noch weiter zu zitieren, nur soviel noch zu den Themen, die die AfD antrieben: Schreiber erwähnt den »fehlgeleiteten Feminismus«, die »Zuwanderungsdebatte«, die »Islamdebatte«.
Kommen wir zurück zur Tagesspiegel-Analyse: Vor dem Hintergrund der erstklassigen Quelle der AfD-Aussteigerin Franziska Schreiber müssen die weiteren ›Experten‹-Meinungen schon als Frechheit anmuten: So wird der Göttinger Parteienforscher Michael Lühmann damit zitiert, dass die CDU an der politischen Kultur im Osten mitverantwortlich sei, indem man Rechtsextremismus klein geredet und den »sogenannten Linksextremismus vehement bekämpft« habe, »während Pegida oder Querdenkern Dialogangebote gemacht wurden«. So wird Merkels Welt also zurecht gerückt. Aber im Ernst: Wo wurde etwa ›Pegida‹ ein ›Dialogangebot‹ gemacht?
Selbst der sonst nicht berührungssensible Ex-SPD-Politiker Sigmar Gabriel bezeichnete diese Gruppierung unverhohlen als »Pack«. Von Stunde eins an wurden diese Leute kriminalisiert und mit dem Verfassungsschutz bedroht. Söder zog vor nicht allzu langer Zeit sogar eine Linie von Querdenkern zum Terrorismus. Beim Umgang mit dem Linksextremismus kann man das nicht gerade sagen, im Gegenteil. So nahmen an ›antifaschistischen‹ Veranstaltungen häufig genug gewaltverherrlichende Linksextreme teil, was zum Teil sogar von der Regierung gesponsert wurde.
Bei diesem Befund muss man sich mit dem Rest des Artikels kaum mehr befassen, er bringt nicht viel Neues, auch bei der Frage, wie man mit dem Ganzen heute umgehen soll. Richtig ist die grundsätzliche Aussage, dass derjenige, der AfD-Positionen übernimmt, diese legitimiert und das Original stärkt. Und da ist man tatsächlich »im Dilemma«, wie der Artikel überschrieben ist. Aber damit ist noch keine Aussage über die Inhalte und Programme von Parteien ausgesagt, also zu der Frage, wer näher am Menschen ist.
Darüber hinaus bleibt es bei der Anomalie, dass die Medien der AfD weiterhin Null Unterstützung zukommen lassen werden, was ein fundamentaler Unterschied zu den Grünen ist, die nicht nur von den anderen Parteien fleißig kopiert wuden und dadurch immer mehr wachsen konnten, sondern eben auch die volle Unterstützung der Medien haben. Dass diese Theorie des sogenannten Annäherungstrugschlusses deshalb im Falle der AfD nicht gilt, bestätigt im letzten Absatz auch die Empfehlung des Parteienforschers Oskar Niedermayer, der es für sinnvoll hält, wenn die CDU im Osten ihre »konservative Haltung im Osten stärker herausstellt«.
Aus diesem Dilemma nun abzuleiten, dass die CDU dort besonders stark sei, wo sie ihr Heil in der Mitte suche, wie es der bereits zitierte Parteienforscher Michael Lühmann tut, beantwortet noch nicht die Frage, wie man damit die ›AfD‹ von ihrem hohen Niveau wieder herunter holt. Diese Taktik führt eher dazu, dass andere Parteien ›der Mitte‹, ein inzwischen übrigens vollkommen beliebiger Begriff, ihre Sympathisanten und Anhänger als Leihwähler an die CDU abgeben, während die potenziellen AfD-Wähler dadurch wohl kaum angelockt werden, was das strategische Problem also nicht löst, sondern nur zu einem Wähleraustausch im sogenannten demokratischen Lager führt.
Um auf den Ausgangspunkt, die angeblich verunglückte Aussage des Ostbeauftragten, zurück zu kommen, bleibt insgesamt festzuhalten: In Merkels Welten liegen die Ursachen für den Erfolg der AfD im alten DDR-System. Merkel wurde in der DDR sozialisiert und gilt als ehemalige Reisekader, zusammen mit ihrem Ehemann, dem bestens im Osten vernetzten Herrn Sauer, so dass in dieser Grundannahme ironischerweise sogar ein Körnchen Wahrheit liegt. Aber es geht nicht um diktaturhörige, unverbesserliche ›Ossies‹, sondern um ihre Politik und ihre Methoden der Staatsführung, die manche offenbar sehr an die DDR erinnern. Dass der ›Tagesspiegel‹ dazu nichts zu sagen hat bzw. nichts sagen will, erklärt einmal mehr, auf welcher Seite die sogenannte ›Vierte Gewalt‹ heute – leider – steht.