von Gunter Weißgerber
Wer sich den Alltagsproblemen nicht gewachsen sieht, wer keine praktischen Argumente hat, wer 2018 SPD heißt und keine Kenntnis über eigene frühere und zukünftige Wähler besitzt, der verkämpft sich auf Baustellen, an denen das Wahlvolk nicht einmal mehr mit Mitleid vorübergeht. Mitleid mit der SPD ist längst großer Gleichgültigkeit gewichen. Es ist einfach nur noch egal, was die deutsche Sozialdemokratie an Unsinn veranstaltet und mit wem sie haarsträubende Bündnisse eingehen will. Siehe SPD und Antifa. Die Probleme der Facharbeiter, Techniker, Ingenieure landauf landab und besonders in der Energie- und Kraftfahrzeugbranche sind unübersehbar, die künstlichen Strom- und Spritrechnungen der früheren SPD-Wähler fressen deren Lebenschancen auf. Und was macht die SPD? Sie will mit Thilo Sarrazin den Verkünder unangenehmer Wahrheiten ausschließen. Na, da werden sich die SPD-Wähler aber freuen.
Die SPD versucht sich also wieder mal auf vermintem Terrain, auf dem Feld von Parteisäuberungen. Nicht auf die Art und Weise Hitlers gegen Röhm oder Stalins gegen die Altbolschewiken. Nein, gestorben werden soll nicht, eingesperrt werden soll auch (noch?) nicht. Es geht (zuvörderst?) nur ums Veredeln der Partei zum Zwecke des Abschreckens innerparteilich nichtlinientreuer Mitglieder und der Besetzung des öffentlichen Prangers. Wehe, ihr denkt wie Sarrazin. Wie ihr da drinnen in den Parteien und ihr da draußen im Lande zu denken habt, das bestimmen wir, die Parteien! Bätschi.
Genau hier liegt sie sehr falsch, die älteste (bisher) demokratische Partei Deutschlands. Die Partei, die das Verbot unter dem ›Sozialistengesetz‹ Bismarcks genauso überstand wie die Vernichtung unter NSDAP und SED.
Nach Artikel 21 Grundgesetz (GG) ist den Parteien eine Aufgabe zugewiesen – die Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes. Sie sind nicht die ›personifizierte‹ Willensbildung, sie sind Teil der Willensbildung. Nicht mehr, nicht weniger.
Die Parteien können sich das gar nicht aussuchen. Es ist ihre Aufgabe, sich der Bevölkerung zu öffnen und diese damit teilhaben zu lassen. Stimmen Menschen mit den ideellen Grundlagen von Parteien überein, können sie Mitglied werden bzw. bleiben. Parteivorstände, Parteigruppierungen, einzelne Mitglieder können andere Mitglieder nicht aus der Partei werfen und über diese Art Parteijustiz den Kurs der Partei bestimmen oder ändern. Parteiausrichtungen werden durch innerparteiliche Diskurse und Parteitage bestimmt. An den Diskursen kann und soll jedes Mitglied teilhaben können. Parteilinien mittels Selektion festzulegen, liegt nicht im Sinn des GG 21 Abs. 1. Diskurse und demokratische Folgeentscheidungen bestimmen die Linien. Kaderparteien, Parteien von Berufsrevolutionären haben keinen Platz im Gefüge des Grundgesetzes. Parteien erfüllen ihre Aufgaben in der Bundesrepublik Deutschland repräsentativ. Salopp gesagt: GG 21 versus Lenins Fraktionsbildungsverbot.
Thilo Sarrazin tut gut daran, der SPD den schmerzhaften Lernprozess nicht zu ersparen. Es ist seine staatsbürgerliche Pflicht, der SPD stellvertretend für alle Parteien klarzumachen: ›Ihr seid nicht die politische Willensbildung. Ihr nehmt nur herausgehoben an der Willensbildung teil! Die Mitglieder bestimmen, wo es mit der SPD lang geht!‹
Die SPD-Spitze meint, Thilo Sarrazin verstoße gegen die Grundsätze der Partei. Das sehen sehr viele Sozialdemokraten anders. Statt den innerparteilichen Diskurs zu suchen, soll dieser verhindert werden. Da Sarrazin an keiner Stelle seiner Bücher gegen die Grundsätze der SPD oder gegen das Grundgesetz verstößt und die SPD sich seiner aus politisch zu diskutierenden Gründen entledigen will, verstößt die SPD gegen ihre grundgesetzliche Aufgabe der Ermöglichung der politischen Willensbildung. Wenn, dann gehört die SPD vor ein SPD-Gericht: wegen Verstoßes gegen die Prinzipien der politischen Willensbildung. Staat und Bevölkerung sind nicht die Beute von Parteien.
Amüsant in diesem Exzess ist die Rolle der zweifachen Bundespräsidentenmöchterin Gesine Schwan. 1984 (interessante Assoziation zu Orwell) warf Peter Glotz als damaliger Bundesgeschäftsführer der SPD die damalig noch ›Parteirechte‹ Schwan aus der SPD-Grundwertekommission. Sie stand zu Helmut Schmidt und dessen ›Doppelter Nullösung‹. Damals sorgte sie sich noch um den ›Lebensnerv der SPD, die Freiheit‹. Heute, vierunddreißig Jahre später habe ich Zweifel. Meinte sie damals doch nur ihre eigene Freiheit, in der SPD zu sagen und zu denken? Ich für meinen Teil sehe mich jedenfalls nachhaltig bestätigt. In beiden Bundesversammlungen (2004, 2009) verwehrte ich der inzwischen Partei-Linken Frau Schwan meine Stimme. Mir schwante nichts Gutes für die res publica. Ihr Ziel scheint der übergriffige, erzieherische Parteienstaat und nicht eine Republik inklusive Parteien zu sein. Der Vorgang beweist im Übrigen, auch einzelne Abgeordnete können das Gemeinwesen vor Schaden bewahren.
Die SPD sammelte bereits betrübliche Erfahrungen mit Säuberungsversuchen. Ein solcher in seinen Langzeitfolgen völlig misslungener Versuch war 2008 das Parteiordnungsverfahren gegen Wolfgang Clement. Zwar ging der dann kopfschüttelnd von sich aus, doch fehlt es der SPD seitdem erheblich an öffentlich zugemessener Wirtschaftskompetenz. Man schaue auf den seit zehn Jahren andauernden Rutsch Richtung Fünf-Prozenthürde. Auch das schafft sie noch, die SPD. Wo ein Wille ist, da ist immer ein Weg.
Clements Abgang vorausgegangen war ein Artikel, in dem er die hessische SPD-Energiepolitik infrage stellte. Eine Position, die von ihm länger bekannt war und mit der er in der SPD viele Jahre den Diskurs mitbestimmte. Die FAZ schrieb am 25.11. 2008 »›Deshalb wäge und wähle genau, wer Verantwortung für das Land zu vergeben hat, wem er sie anvertrauen kann – und wem nicht.‹ Diese Äußerungen wurden in der SPD – je nach politischem Geschmack – als indirekter oder direkter Aufruf Clements bewertet, in Hessen nicht die SPD zu wählen. Clements Ortsverein Bochum, wo er 1970 in die SPD eingetreten war, leitete ein Ausschlussverfahren gegen den früheren Ministerpräsidenten, stellvertretenden Parteivorsitzenden und Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit ein. Andere Untergliederungen schlossen sich dem an.«
Genussvoll füge ich meine damalige Presseerklärung als MdB vom 31.07.2008 an:
Sollte Clement tatsächlich aus der SPD ausgeschlossen werden, werde auch ich die Partei verlassen. Die Ypsilantis dieser Partei haben die Regierung Schröder weitgehend auf dem Gewissen. Als parteiinterne Kronzeugen für eine angeblich unsoziale Politik besaßen sie bis 2005 eine weit größere Bedeutung in den öffentlichen Diskussionen um die AGENDA 2010 als die kritischen Stimmen aus den Reihen der politischen Konkurrenz. Ihren damaligen unsolidarischen Äußerungen und Kampagnen (Mitgliederbegehren etc.) gegen die eigene Bundesregierung (es ging nicht um eine popelige Landtagswahl!) standen zu Recht keine Parteiordnungsverfahren gegenüber.
Wolfgang Clement hatte sich vor der hessischen Landtagswahl in der Tat – obwohl in der Sache richtig – mit seinem gewählten Zeitpunkt unsolidarisch verhalten. Dies verdient eine Rüge, jedoch niemals einen Rauswurf! Hier hätten Ypsilanti & Co., die eine eigene Bundesregierung im Fundament zerbrachen, wohl eher den Ausschluss verdient – was jedoch aus guten Gründen niemand forderte. So etwas muß eine demokratische Partei eben ganz einfach aushalten können!
›Klein, aber fein‹ – so könnte der zukünftige Wahlspruch der SPD lauten, sollte Wolfgang Clement die Partei verlassen müssen. Auch sollte sich meine Partei überlegen, ob sie fürderhin überhaupt noch zu Bundestagswahlen antreten soll. Denn: im Falle eines Erfolges steht wieder die leidige Verantwortung auf Bundesebene an... . Eine Verantwortung, mit der sie bereits unter Helmut Schmidt nicht klarkam.
Das jetzige Fremdeln mit Schröders Reformpolitik ist anscheinend nur der Widergang des ›SPD-Konflikts‹, wonach sich SPD und Bundesverantwortung im Grunde fremd sein könnten. Ich wünsche der Bundesschiedskommission, die in der nächsten Instanz befasst sein wird, eine abwägendere Sicht.
(Anmerkung 2018: Da Wolfgang Clement von sich aus die SPD verließ und nicht rausgeworfen wurde, musste ich mein Gelübde, die SPD mit ihm zu verlassen, nicht einlösen.)
Ein letztes Beispiel des Niedergangs einer großen Partei, spielt ebenfalls im SPD-Schicksalsjahr 2008. Die SPD Hessen wollte in Hessen unbedingt regieren, der Solarpapst Scheer hatte sich sogar noch vor unlauteren Koalitionsverhandlungen mit Linksaußen und Grünen sein mögliches Arbeitszimmer im hessischen Wirtschaftsministerium angeschaut. Unlauter deshalb, weil das Versprechen vor der Wahl auf Nichtkoalition mit Linksaußen lautete. Sei es drum, Hermann Scheer konnte sein Wasser nicht halten, sah sich bereits als göttlich inspirierter Wirtschaftsminister und war sehr wütend auf die Darmstädter SPD-Direktwahlkreisgewinnerin Dagmar Metzger, die sich gemeinsam mit drei weiteren SPD-Landtagsabgeordneten der Vor-Wahlzusage verpflichtet fühlte, keine Koalition mit Linksaußen in Hessen einzugehen. Alle vier standen bei ihren Wählern im Wort und hielten sich staatsbürgerlich daran. Die Diskussionen wogten damals hoch. Hermann Scheer schoss dabei den Vogel ab. Dagmar Metzger und die anderen sollten ihr Mandat zurückgeben und als Abgeordnete ausscheiden! Auch in der SPD-Bundestagsfraktion wurde das alles sehr heiß diskutiert. Den entscheidenden Teil meiner Wortmeldung gäbe ich hier der guten Unterhaltung halber gern wider: »… Hermann Scheer fordert die Direktwahlsiegerin Dagmar Metzger zum Mandatsverzicht auf? Das fordert ein Bundestagsabgeordneter, der das Wort ›Direktwahlsieg‹ nur aus der Literatur kennt?…«. Das Echo in der Fraktion war geteilt. Nur den Direktgewählten rang ich ein Schmunzeln ab. Normalerweise spielte ich nie die Karte ›Direktwahlsieg‹, weil es praktisch sehr viele Zusammenhänge gibt, warum Kandidaten direkt oder nicht direkt im Wahlkreis zum Zuge kommen. Sehr oft haben sie keine Chance, besser als ihre Partei abzuschneiden. Und im täglichen Parlamentsbetrieb spielt es gar keine Rolle. Abgeordnete/r ist Abgeordnete/r und nur sich und seinem Gewissen verpflichtet (lt. GG). Im Falle des überheblichen Herrn Scheers allerdings musste ich den Sachverhalt unter dessen Riechorgan reiben.
Der Casus Metzger-Scheer war zwar kein Beispiel für den Umgang mit Parteiauschlussgelüsten, in Anbetracht des Formats ›Mandatsabgabeforderung‹ aber noch dramatischer. Ist das ein Missbrauch innerparteilicher Regulatorien im Widerspruch zum Grundgesetz, so ist das andere eine offen grundgesetzwidrige Anmaßung, ein verbaler Verfassungsbruch. Schon damals wandelte die SPD auf Wegen, die sie seit 2015 und der Merkelschen Institutionenmissachtung breit auswalzt.
Thilo Sarrazin wird aktuell geraten, die SPD von sich aus zu verlassen. Emotional nachvollziehbar wäre das schon. Staatsbürgerlich wäre es eine Fehlleistung. Sarrazins herkulische Aufgabe ist es, der SPD und damit allen Parteien eine Lektion zu erteilen. Nach dem Grundgesetz gilt »Demokratie lebt vom Mitmachen. Wer sich nicht einbringt, macht anderen Platz und muss die Folgen der Entscheidungen, die ohne seine Mitwirkung getroffen werden, widerspruchslos akzeptieren. Er/sie hat sich ja nicht beteiligt«. Im Umkehrschluss müssen Parteien die Mitwirkung zulassen. Sonst stellen sie sich neben die Demokratie. Dort aber ist kein Ehrenplatz.
Mein Rat an Thilo Sarrazin: Lassen Sie den Rechtsstaat arbeiten und eventuelle Ausschlussverfahren über sich ergehen. Am Ende steht nach den Parteigerichten die weltliche Gerichtsbarkeit in Form eines Prozesses vor einem ordentlichen Gericht. Wetten, dass die SPD hier wieder eine lange Nase ziehen darf? Außerdem will die gesamte Öffentlichkeit an ihrem Beispiel wissen, was Parteien dürfen und was sie nicht dürfen. Und das lohnt den Schweiß der Edlen allemal.
Für die SPD wird es eine Chance, sich wieder demütig in die Normative des Grundgesetzes einzureihen.
(2) Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig.
(3) Parteien, die nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgerichtet sind, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind von staatlicher Finanzierung ausgeschlossen. Wird der Ausschluss festgestellt, so entfällt auch eine steuerliche Begünstigung dieser Parteien und von Zuwendungen an diese Parteien.
(4) Über die Frage der Verfassungswidrigkeit nach Absatz 2 sowie über den Ausschluss von staatlicher Finanzierung nach Absatz 3 entscheidet das Bundesverfassungsgericht.
(5) Das Nähere regeln Bundesgesetze.