von Herbert Ammon

Wenn ein Mensch im Alter von 93 Jahren stirbt, kann man schwerlich von einem überraschenden Tod sprechen. Bei Egon Bahr verhält es sich anders. Zwar war dem Gesicht das hohe Alter abzulesen, doch wenn er bei einer Veranstaltung des Politikbetriebs das Wort ergriff, war von Altersmüdigkeit nichts zu erkennen.

War er zu einer der gemeinhin ungenießbaren Talkshows geladen, so bestach er durch die Präzision seiner Aussagen, durch ein eigenes, moralischer Entrüstung abholdes Urteil.

Egon Bahr, der Weggefährte und Freund Willy Brandts, war ein homo politicus, der die beiden Kriterien erfüllte, die Max Weber für die Politik als Beruf zugrundelegte: Leidenschaft und Augenmaß. Lange ehe er in Bonn unter Brandt als Bundeskanzler in ein offizielles Staatsamt gelangte, waren der Inhalt und Wortlaut des Eides, das Wohl des deutschen Volkes zu mehren, für ihn innere Verpflichtung. Ihn zeichnete das aus, was der – heute in der gründeutschen Landschaft verdächtige und/oder ironisierte – Begriff des ›Patriotismus‹ bedeutet: Verantwortung für die patria, für das Land, das ihn unter dem Nazi-Regime in jungen Jahren gedemütigt hatte. Er dachte und handelte – ohne die heute in öffentlicher Rede allenthalben demonstrierten Schuldgefühle – als geschichtsbewusster Deutscher in deutschem Interesse. Die Bußgeste Brandts vor dem Denkmal des Warschauer Ghettos deutete er auch in politisch befreiendem Sinne.

Internationale Politik war nach Bahrs Verständnis weder der Wettstreit um die Durchsetzung universeller Moral noch eine bloße Abfolge brutaler Machtkonflikte, sondern ein durch legitime – und exzessive – Interessen bestimmtes Handeln von Staaten und Mächten. Sein theoretisches Grundkonzept, empirisch erwachsen aus der Berliner Erfahrung des 17. Juni 1953 sowie des Mauerbaus am 13. August 1961, macht ihn zu einem Protagonisten der realistischen Denkschule, die zu hohen, allzu hehren Prinzipien im Raum des Politischen kritische Distanz hält.

In dieser Hinsicht erscheint Bahr als Geistesverwandter des von den Nationalsozialisten aus Deutschland vertriebenen Henry Kissinger. Als Sicherheitsberater, sodann (1973-1977) als US-Außenminister verfolgte Kissinger die nach dem ›Machtwechsel‹ 1969 eingeleitete ›neue Ostpolitik‹ Egon Bahrs und Willy Brandts mit Skepsis, sowohl ob ihrer geheimdiplomatischen Modalitäten als auch wegen des implizit und – als Annex zum Moskauer Vertrag 1970 im ›Brief zur deutschen Einheit‹ – explizit bekundeten Fernziels.

In seinem distanzierten Nachruf auf den ›großen Außenpolitik-Veteranen‹ zitiert der FAZ-Redakteur Rainer Blasius das wenig freundliche Urteil aus Kissingers 1979 veröffentlichten Erinnerungen, das mit den Worten schließt: »Bahr gehörte zwar zur Linken, aber ich hielt ihn für einen deutschen Nationalisten, der Deutschlands zentrale Lage ausnutzen wollte, um mit beiden Seiten zu feilschen.« Ein unbeaufsichtigter ›Wandel durch Annäherung‹ an die Sowjetunion, in deren Händen der Schlüssel zur deutschen Einheit lag, war ehedem so unerwünscht wie heute eine Beilegung des neuen Ost-West-Konflikts.

Dass Bahr nahezu ausschließlich in Begriffen der Sicherheit dachte und argumentierte, Bewegungen ›von unten‹ nur als Störfaktor wahrnahm, mag als Defizit seines politischen Denkens erscheinen. Umgekehrt grenzt es heute bereits wieder an ›Verrat an der westlichen Wertegemeinschaft‹, wenn man die Ostausdehnung der NATO in der Ära Jelzin als Missachtung russischer Sicherheitsinteresssen bezeichnet.

Im Rückblick hat Bahr die Phase, in der er die in den 1980er Jahren in der Tat marginale Oppositonsbewegung in der DDR zugunsten der Gesprächs- und Verhandlungspartner in der SED ignorierte, als politischen Fehler bezeichnet. Derlei Fähigkeit zur Selbstkritik unterscheidet ihn, von Gegnern oft der Überheblichkeit geziehen, von der aufgetragenen Arroganz – und vielfach mit moralischem Gestus verdeckten Ignoranz – der Zeitgenossen, die den heutigen Politikstil prägen.

Was Bahr auszeichnete, war sein machtpolitischer Realismus, seine Gedankenschärfe und seine Zielstrebigkeit im Verfolgen deutscher Interessen. Anders als viele seiner Kritiker, denen die deutsche Einheit allenfalls noch rhetorisch am Herzen lag, anders auch als die Fischer-Truppe bei den Grünen sowie jene SPD-Genossen, welche aus unterschiedlichen Motiven – von der Toscana-Fraktion bis zu den protestantischen Protagonisten deutscher Schuld – die deutsche Teilung für unveränderlich, ja historisch verdient und politisch notwendig erklärten, nie aus den Augen verloren. Seine Zielvorstellung brachte er 1988 in dem Essay Eine Anwort an Gorbatschow zum Ausdruck. Er nahm die Friedensbereitschaft und Reformkonzepte Gorbatschows beim Wort, indem er für Friedensverträge mit den beiden deutschen Staaten und ein gesamteuropäisches Sicherheitheitssystem plädierte. Ausdrücklich begründete er dieses friedenspolitische Konzept mit dem Insistieren auf deutscher Souveränität.

Mit derlei Überlegungen war Egon Bahr nicht weit von den Vorstellungen entfernt, die Theodor Schweisfurth und ich – auch im Austausch mit anderen Mitstreitern – anno 1985 im Nachhall der großen Protestbewegung gegen die ›Nachrüstung‹ vorgelegt hatten. Wie bereits in der Frühphase der damaligen Friedensbewegung fehlte ungeachtet des Machtantritts Gorbatschows damals noch der Adressat. Es ging bei unserer ›Denkschrift‹ indes um eine ›realistische‹ Programmatik anstelle der im friedensbewegten Lager vorherrschenden Emotionalität und/oder Konzeptlosigkeit. Das Manuskript sandte ich auch an Egon Bahr zur Begutachtung. In seinem Antwortbrief schrieb Bahr, es handle sich von allen Projekten und Verlautbarungen aus den friedensbewegten Kreisen um das durchdachteste Konzept, sah aber naturgemäß wenig Chancen zu dessen Realisierung. Bahrs Brief gehört bis heute zu meinen sorgsam gehüteten Pretiosen.

In den spannungsreichen Monaten und Wochen vor dem Mauerfall war ich über Bahrs Status-quo-Bekenntnisse irritiert, ja verärgert. Nach dem Zusammenbruch der DDR, mit dem ich seit der Grenzöffnung in Ungarn und der einsetzenden Massenflucht gerechnet hatte, erwies sich der von vielen DDR-Bürgerrechtlern ungeliebte Bahr als der Mann, der er in seiner politischen Laufbahn stets gewesen war: Protagonist der deutschen Einheit, Realist, Verfechter einer Friedensordnung für Europa nach Aufhebung der Militärblöcke. Nicht zufällig trat er unlängst, vier Wochen vor seinem Tod, zusammen mit Michail Gorbatschow mit einem Appell an die Merkel-Regierung heran: Deutschland müsse auf Russland (und Putin) zugehen, um die blutige, sinnlose, für alle Seiten verhängnisvolle Auseinandersetzung in der Ost-Ukraine zu beenden.

Mit einem solchen – als Illoyalität gegenüber der transatlantischen Wertgemeinschaft bewerteten – Appell an die Vernunft wird Egon Bahr bei seinen Gegnern post mortem erneut in Verruf geraten. Ihn würde das nicht weiter stören. Vor Jahren, als sich nicht nur in seiner Partei Empörung breit machte, weil er sich über das Tabu, der als ›rechts‹ verschrieenen Jungen Freiheit kein Interview zu geben, hinweggesetzt hatte, ließ die Aufregung ihn kalt. Im Gegenteil: Er verteidigte die Zeitung als dasjenige Organ in der deutschen Presselandschaft, in dem das Andenken an den 20. Juli in hervorragender Weise gepflegt werde. Zuletzt schrieb er selbst noch einen Beitrag für diese Wochenzeitung.

Das Wirken Egon Bahrs als Politiker und Staatsmann fällt ins 20. Jahrhundert. Inmitten der Krisen, Konflikte und Gefahren, mit Blick auf die erkennbar wenig erfreuliche Zukunft unseres vermeintlich zum ›Hegemon‹ Europas (Herfried Münkler) beförderten Landes werden selbständig denkende und handelnde Persönlichkeiten wie Egon Bahr fehlen.