von Christoph Jünke

Es hatte etwas von einem »Medien-Tsunami« (so einer der Beobachter), als im letzten Viertel des vergangenen Jahres ausgiebigst dem hundertsten Geburtstag des einstigen Reform-Kanzlers Willy Brandt gedacht wurde.

Gleich mehrere TV-Dokumentationen auf diversen Sendern liefen in Dauerschleife und auch keine der einschlägigen TV-Talkshows wollte sich lumpen lassen. Keine Zeitung oder Zeitschrift, in der nicht ein ausführliches Dossier, eine mehrteilige Serie oder gar ein Sonderheft erschienen ist. Auch Theaterstücke und Lesungen, Audio-CD’s und Ausstellungen, Vorträge und Zeitzeugengespräche gehörten zum Begleitprogramm und wurden unterfüttert von über zwei Dutzend dicker wie dünner Buchveröffentlichungen – darunter sogar zwei Comic-Biografien.

Ohne Zweifel wurde hier eine Staatsideologie (»Versöhnen statt spalten«) medienindustriell abgefeiert. Und doch wurde dieser Hype ebenso sichtbar begleitet von dem halb nostalgischen, halb subversiven Publikumsinteresse an einem Politikertypus, den es heute so wohl nicht mehr gibt.

Nicht ganz zu Unrecht wird er nun eine sozialdemokratische Jahrhundertgestalt genannt, da sich in seinem Leben und Werk der Schicksalsweg der deutschen Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert spiegelt. Und doch ist es ein alles andere als gerader, widerspruchsfreier und unproblematischer Weg, wie die meisten der nun vorliegenden biografischen Werke verdeutlichen. Die berühmt-berüchtigte Melancholie Brandts hatte vor diesem Hintergrund etwas objektives, geradezu geschichtsphilosophisches, und die in ihr aufscheinende Dialektik von Mensch und Politiker ist eine offensichtlich schwierige.

In der neuen (hier nur ansatzweise besprochenen) Literatur wird diese immanente Spannung vor allem als »die Frage nach dem Menschen Willy Brandt« (Bernd Faulenbach) abgehandelt. Und manche lösen diese Spannung zugunsten des Staatsmannes auf, indem sie den arbeiterbewegten Brandt zum Auslaufmodell und die von ihm repräsentierte Arbeiterbewegungstradition zum bloßen Vorläufer unserer liberalen Demokratie verklären – so beispielsweise das grausliche Buch Faulenbachs (dem konservativen Frontmann der sozialdemokratischen Historikerzunft), der abschätzig von den sozialistischen »Wirrnissen« des jungen Brandt und der »Fundamentalpolitisierung« der 68er schreibt und davon, dass streikende Gewerkschaften in den 1970er Jahren die Gesellschaft »in Geiselhaft« nahmen.

Andere wiederum vergessen über das Lob des Menschen Brandt allzu schnell die problematischen Seiten des Politikers und/oder sehen in ihm gar ein »brandt aktuelles« Modell gegen den Neoliberalismus – wie der zornige Publizist und einstige Brandt-Berater Albrecht Müller –, obwohl sie gleichzeitig aufzeigen, dass und wie selbst ein solch pragmatischer Reformer mit den vereinten Kräften vom medialen, politischen und ökonomischen Establishment aus seinem Kanzleramt gemobbt wurde.

Peter Brandts Buch dagegen ist erfrischend nüchtern und unideologisch, in lässig-elegantem Stil und mit viel politischem und historischem Einfühlungsvermögen geschrieben. Er hält die Balance zwischen dem Politiker und dem Privatmann gekonnt in der Schwebe. Wer aufmerksam liest, wird die nicht unkritischen Zwischen- und Untertöne nicht überlesen, mit denen sich der linkssozialdemokratische Historiker seinem Vater nähert. Auch wenn er sich eigener Urteile explizit enthält, ist er dem jungen Radikalen und dem sich für die Probleme weltweiter Armut einsetzenden Elder Statesman offensichtlich näher als dem Parteipolitiker.

Willy Brandt »behandelte Menschen wie Menschen und war sicherlich ein Menschenfreund. Dass er Mitarbeiter aus Lust oder nur aus schlechter Laune getriezt oder geduckt hätte, kann man sich schlechterdings nicht vorstellen.« Das kann zwar dessen politische Widersprüche nicht glätten, beschreibt aber sehr gut, warum ihm gerade heute so viele nachtrauern.

Die Printfassung dieses Beitrages erschien in der Zeitschrift Marx 21 1/2014 (Februar/März).

Bernd Faulenbach: Willy Brandt, München (C.H. Beck) 2013, 129 Seiten, 8,95 Euro
Albrecht Müller: Brandt Aktuell. Treibjagd auf einen Hoffnungsträger, Frankfurt/M. (Westend) 2013, 158 Seiten, 12,99 Euro
Peter Brandt: Mit anderen Augen. Versuch über den Politiker und Privatmann Willy Brandt, Bonn (Dietz) 2013, 279 Seiten, 24,90 Euro.

Foto: M.Horn

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