von Christoph Jünke
»Ist es nicht etwas verwegen, ein Buch anzufangen«, fragte ihn ein Freund, »während die Würfel noch in der Luft sind?« Wenn er jedoch gewartet hätte, bis sie gefallen sind, schreibt Tariq Ali im Vorwort zu seinem neuesten Buch, hätte er nie irgendetwas über Pakistan schreiben können. In der Tat kann das Buch aktueller kaum sein, denn es bietet einen bemerkenswerten Einblick in den wohl heißesten Brennpunkt der gegenwärtigen Weltpolitik: Pakistan.
Tariq Ali: Pakistan. Ein Staat zwischen Diktatur und Korruption, Kreuzlingen/München (Diederichs) 2008, 334 Seiten
Diese Aktualität ist natürlich kein Zufall, denn zum einen hat sich der britische Altlinke im letzten Jahrzehnt nachhaltig repolitisiert und ist zu einem der wichtigsten alternativ-linken Politik-Analysten und -Kommentatoren geworden – seine Artikel und Aufsätze werden weltweit beachtet und seine letzten Bücher über den östlichen wie westlichen Fundamentalismus, die Kolonialisierung des Irak und die neuen lateinamerikanischen Sozialismen à la Chavez und Bolivar sind auch in Deutschland Bestseller geworden. Zum anderen jedoch ist Ali in Pakistan geboren und aufgewachsen, bevor er in seiner neuen Heimat Großbritannien zum herausragenden ›68er‹ wurde. Er hat schließlich auch niemals seine familiären und politischen Beziehungen zum indischen Subkontinent aufgegeben und kennt all jene Personen und Verhältnisse, über die er hier schreibt, persönlich – und sie kennen ihn. Das verleiht seinem neuen Buch eine besondere Aura und ein besonderes Gewicht – irritiert jedoch auch gelegentlich, wenn er seine persönliche Rolle und Vertrautheit für meinen Geschmack zu sehr betont.
Wie immer lässt sich sein Buch locker herunterlesen. Doch mehr als sonst stellt er hier den gewohnten westlichen Blick in Frage. Während die westlichen Medien dem Militärdiktator Musharraf als vermeintlichem Garanten der demokratischen Stabilität Pakistans noch bei seinem endlich erzwungenen Rücktritt viele Tränen nachweinten, nicht zuletzt in Deutschland, schildert ihn Ali als widerwärtigen Auswuchs einer zutiefst autokratischen und korrupten Gesellschaft, der die gesellschaftspolitische Krise nur vertiefen konnte. Während die westlichen Medien mit der Ermordung der »Oppositions«politikerin Benazir Bhutto vor einem Jahr die Hoffnung auf Demokratisierung betrauerten, schildert sie Ali als schon lange politisch gebrochene »Tochter des Westens«, die auf Weisung Washingtons den Pakt mit dem pakistanischen Beelzebub suchte und dabei umkam. Und während der neue Ministerpräsident Asif Zardari sein Amt mit dem wohlwollenden Desinteresse westlicher Medien aufgenommen hat, verdeutlicht Ali den sich in ihm verkörpernden politischen Skandal: Während der Regierungszeit seiner Frau Benazir Bhutto durch politische Korruption zum zweitreichsten Mann Pakistans geworden, ist er per Testament derselben nun auch zum politischen Führer Pakistans aufgestiegen.
Alis Buch verdeutlicht jedoch vor allem, dass Pakistans Misere tiefe historische und strukturelle Ursachen hat. Entstanden als Produkt der imperialen Teilung des indischen Subkontinents, war Pakistan von Beginn an ein historisch prekärer, kaum lebensfähiger Staat, der schnell zur Beute einer kleinen, vom Westen abhängigen Grundbesitzerkaste wurde. Und diese Herrschaftselite, so Ali, »hat die vergangenen sechzig Jahre damit verbracht, ihren unrechtmäßig erworbenen Reichtum und ihre Privilegien zu verteidigen und der oberste Staatsführer (ob uniformiert oder nicht) wurde und wird unweigerlich durch ihre Schmeicheleien vergiftet.«
Es ist spannend und lehrreich, wie Ali den Weg und die Probleme Pakistans schildert; wie er die krassen sozialen und gesellschaftlichen Ungleichheiten und das herrschende Bündnis von Geldmacht und Militärmacht, die pakistanische Mischung aus Holzpflug und Kernreaktor darstellt; wie er aufzeigt, dass die »Islamisierung« der letzten Jahrzehnte von Beginn an ein Mittel der Herrschenden war, den Emanzipationstendenzen des Volkes zu begegnen; wie er verdeutlicht, dass das pakistanische Volk in den wenigen Momenten seiner demokratischen Selbstartikulation – vor allem in den Jahren 1968/69 – ein zutiefst säkulares und anti-imperialistisches Volk war und geblieben zu sein scheint, das mit Religion nur wenig, mit Fundamentalismus noch weniger zu tun hat; und wie er schildert, wie der unsystematische und inkonsequente Reformismus des Hoffnungsträgers der 70er Jahre, Zulfiqar Ali Bhutto (dem Vater von Benazir), an den undemokratisch-autoritären Politikformen zerschellte.
Dieser alte pakistanische Kreislauf – »Militärführer, die Reformen versprechen, verkommen zu Tyrannen; Politiker, die dem Volk soziale Errungenschaften versprechen, verkommen zu Oligarchen« – scheint sich in den 80er und 90er Jahren, mit dem Scheitern der ersten Ministerpräsidentschaft Benazir Bhuttos, endgültig zugunsten der ewigen Oligarchie aufgelöst zu haben. Pakistan ist ein Staat nicht »zwischen Diktatur und Korruption«, wie der deutsche Verlag des Buch fälschlicherweise neu untertitelt hat, er ist eine von Korruption strukturell getragene Militärdiktatur.
Der englische Originaltitel The Duel: Pakistan on the Flight Path of American Power (»Das Duell. Pakistan auf der Flugroute der amerikanischen Macht«) will vor allem verdeutlichen, dass Pakistan ein zutiefst gespaltenes Land mit einem »tiefe(n) Graben zwischen der Mehrheit des pakistanischen Volkes und seinen korrupten, kaltschnäuzigen Führern« ist: »Dieses Duell wird oft ohne Waffen und manchmal nur in den Köpfen ausgefochten, aber es hört niemals auf.« Auch wenn Ali manches beibringt zur Untermauerung seiner These, dass die pakistanische Bevölkerung in ihrer Mehrheit progressiv aufgeklärt, anti-imperialistisch und anti-religiös ist (ausführlich geht er bspw. auf die Reformbewegung der Juristen ein), so bleibt hier doch ein Fragezeichen, denn er schaut, wie er selbst eingesteht, unter die Oberfläche eines weithin im politischen Dämmerschlaf befindlichen Volkes, in dem die Menschen »das Gefühl haben, alles versucht zu haben und doch gescheitert zu sein«.
Schlüssig und mit ebensoviel Verve zeigt er dagegen auf – und dies verdeutlicht der originale Untertitel –, dass das Schicksal Pakistans seit nun dreißig Jahren aufs Engste mit der Weltpolitik verknüpft ist. Es war der erste Afghanistankrieg, der das pakistanische Nachbarland seit Anfang der 1980er Jahre zum geheimen Brennpunkt des so genannten Zweiten Kalten Krieges werden ließ. Es war der pakistanische Geheimdienst ISI, der zur weltpolitischen Drehscheibe der USA wurde, sich immer einflussreicher entfaltete und jene selbsternannten Gotteskrieger erst groß machte, die sich nun auch zunehmend gegen Pakistan selbst wenden. Und es war der zweite Afghanistankrieg, der auch Nordwestpakistan seit 2001 zunehmend destabilisierte und im Angesicht des als gescheitert anzusehenden afghanischen Nationenbildungsprojektes immer tiefer in die Spirale des Krieges hineinzieht.
Auch hier fordert Ali den westlichen Blick überzeugend heraus. Deren ewige Warnungen vor dem möglichen fundamentalistischen Finger an der pakistanischen Atombombe bezeichnet er als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Dschihadistische Gruppen könnten »nur dann die pakistanischen Nukleareinrichtungen betreten, wenn die Armee es ihnen gestatten würde. Das wiederum ist de facto ausgeschlossen, solange es keine Spaltungen innerhalb des Militärs gibt. Diese Möglichkeit wäre nur gegeben, wenn die Vereinigten Staaten auf die Idee kämen, den Afghanistankrieg dadurch auszudehnen, dass sie Teile Pakistans besetzten oder paschtunische Dörfer bombardierten, die man verdächtigt, ›Terroristen‹ zu beherbergen.«
Diese Zeilen waren bereits geschrieben und wurden gerade gedruckt, als US-Präsident Bush (fleißig unterstützt dabei von Barack Obama) im vergangenen Juli die Order erteilte, den »Krieg gegen den Terror« auch auf nordwestpakistanisches Territorium auszuweiten, ohne sich um die Meinung selbst der pakistanischen Regierung groß zu kümmern. Und einmal mehr folgten die westlichen Medienmacher und beschworen die islamistische Bedrohung der freien Welt.
Tariq Alis Buch entzieht dieser Ideologie einen Gutteil seiner Glaubwürdigkeit. Und es verdeutlicht nicht nur die Logiken traditioneller Cliquen- und Stammesherrschaft, sondern mehr noch die geo- und weltpolitischen Zusammenhänge des Problems. In gewissem Sinne wird Pakistan nun zum Kollateralschaden des »Krieges gegen den Terror«. Denn die militärische Aggression gegen den pakistanischen Nachbarn Afghanistan hat zu einer gescheiterten »Nationenbildung« geführt, die »bisher nur einen Marionettenpräsidenten, der für sein Überleben auf ausländische Söldner angewiesen ist, eine korrupte und zu Übergriffen neigende Polizei, eine ›nicht funktionierende‹ Justiz und eine ständig schlimmer werdende soziale und wirtschaftliche Krise hervorgebracht« hat. Und diese – von deutschem Militär und deutscher Polizei weidlich getragene und abgesicherte – afghanische Instabilität sickert nun über die Grenze nach Pakistan ein.