von Ulrich Siebgeber

Seit Norbert Elias gilt Zivilisation nicht als Zustand, sondern als Prozess. Fragt man, worin dieser Prozess besteht, dann stößt man zunächst auf relativ banale Dinge: die Ausbildung bestimmter Weisen, sich zu kleiden, zu wohnen, sich Nahrungsmittel zuzuführen und sich auszudrücken oder allgemeiner: sich zu benehmen. Aus dieser Definition erhellt bereits, dass ein Exklusionsmerkmal gegeben sein muss, um differente Prozesse auszuschließen. Schließlich entwickelt sich dergleichen überall und verteilt über die gesamte bekannte Menschheitsgeschichte, so dass man leicht zu dem kulturrelativistischen Schluss gelangt, dass alle Zivilisationen, aus dem Blickwinkel differenter Entwicklungen, auch Barbareien genannt werden können.

In der Tat: Aus der Sicht asiatischer Hochkulturen waren die als Händler oder Eroberer auftretenden Europäer vergangener Jahrhunderte zweifellos Barbaren und sind es bis heute geblieben. Es waren aber Europäer, insbesondere Westeuropäer, die im Namen der Zivilisation Kriege geführt, Kolonien erobert und ausgebeutet und ihre weltgeschichtliche Rolle glorifiziert haben, um schließlich im Zuge der durch den ökonomischen und militärischen Abstieg erzwungenen Dekolonisation deren dunkle Seite hervorzukehren und den ›Barbaren‹ Abbitte zu leisten: vornehmlich im Zuge ethnologischer und dekolonialer Studien, die schließlich in die Massenbewegung des Wokeismus mündeten.

Es verwundert daher, wenngleich nicht zu sehr, wenn zwei renommierte Autoren ein Buch mit dem Titel Verteidigung der Zivilisation auf den Markt bringen – keineswegs als Ehrenrettung des Konzepts ›Zivilisation‹ oder des ›Westens‹, der sich seit Jahrhunderten als der zivilisierte Teil des Erdballs betrachtet, vielmehr als Beschreibung eines realen Antagonismus: Israel gegen die ›islamistische Bedrohung‹ (und keineswegs gegen die ›arabische Welt‹, wie das ältere Mantra lautete). Das Buch hätte, an das aktuelle Kriegsgeschehen im Nahen Osten gehalten, zu keinem brisanteren Zeitpunkt erscheinen können. Die Lage verwandelt es nolens volens in eine Kampfschrift, die Israels Position mit Argumenten stützt, die weit über den Nahen Osten hinausgreifen. Das soll nicht heißen, dass hier Öl ins Feuer gegossen wird – dafür schreiben beide Seiten zu besonnen, um nicht zu sagen nüchtern –, wohl aber, dass es eine entschiedene Absage an alle Versuche formuliert, ›den Westen‹ in der Position des neutralen Maklers zu bestärken, der den Parteien Vorschläge zu ihrem gemeinsamen Glück unterbreitet, wobei ihn der Streit im Grunde nichts angeht. Das Buch ergreift Partei und versucht dies teils historisch, teils mit europäisch-egoistischen Motiven zu begründen.

Chaim Noll und Heinz Theisen haben zusammen ein Buch über etwas geschrieben, das es nach offizieller Lesart nicht gibt: die islamistische Bedrohung Europas. Beide sehen, mit unterschiedlicher Akzentsetzung, Israel im Kampf gegen den Islamismus als Vorposten Europas. Sie verzichten auf dramatische Akzente (»Fällt Israel, fällt Europa«), aber sie lassen keinen Zweifel aufkommen, dass sie Israels Kampf gegen den religiösen Terrorismus in der arabischen Welt als Modell betrachten, man kann auch sagen: als Vorwegnahme dessen, was Europa bevorsteht, wenn… Wie zu erwarten, beginnt hinter den Pünktchen das Feld der Beschwörungsformeln. Der Unterschied besteht darin, dass Israel gegen einen äußeren Feind kämpft, Europa, so es denn kämpft, gegen einen inneren, der sich durch Einwanderung kontinuierlich verstärkt. Entscheidend ist das Wort ›Feind‹: Die Unverrückbarkeit der Ziele des militanten Islamismus ist gleichsam das über den Gesellschaften Israels und Europas schwebende Menetekel: Die oder wir. Es gibt kein Europa, das seine zivilisatorische Größe bewahrt und gleichzeitig den Islamisten zu Willen ist.

Wer, gerade wieder in Syrien, zusieht, wie gleisnerisch der Westen seine Gegner aussucht und seine Sympathien nach strategischem, manchmal auch taktischem Bedarf wechselt, mag sich fragen, von welchem Europa hier eigentlich die Rede ist. Die Definition von Zivilisation, wie sie die Einleitung skizziert, klingt in diesem Zusammenhang eher defätistisch:

»Unter ›Zivilisation‹ fassen wir jene Gesellschaften zusammen, zu denen – unabhängig von den jeweiligen eher ideell motivierten Kulturen – ein Minimum an humaner, struktureller und auch technischer Entwicklung gegeben ist.« (9)

Was ist ein Minimum? Was wäre das Minimum? Skeptiker würden an dieser Stelle argumentieren, dass es, gleichgültig, auf welchem Stand sich eine Zivilisation befindet, immer ein ›höher‹ und ›tiefer‹ gibt. Der Islam hat seine Zivilisation hervorgebracht wie der Westen die seine. Sie mag in einigen Ländern nicht auf dem neuesten Stand sein, in anderen, auf der reichen Seite des Halbmonds, ist sie dabei, Europa zu überflügeln, jedenfalls dann, wenn man die Parameter entsprechend einstellt. So ist der Leser nicht überrascht, wenn er dann doch auf die religiöse Wurzel des Gegensatzes stößt: Es geht Noll und Theisen um die Verteidigung des Judentums wie der spät- resp. postchristlichen Gesellschaft Europas. Beide Autoren hängen der Auffassung an, dass stabile Gesellschaften ein religiöses Fundament benötigen. Dieses Fundament, das wissen beide, ist in Europa verwaschen und teilweise unkenntlich geworden, aber es existiert, weil seine ›kulturellen‹ Werte in scheinbar säkularen Wertsystemen wie Liberalismus und Sozialismus fortbestehen. Das entfernt sich von Elias’ Bild der Zivilisation, das eher Werte wie Toleranz hervorkehrt, also solche, die dem Nebeneinander unvereinbarer Überzeugungen gegen den Wahrheitsfanatismus der religiösen Bekenntnisse allmählich Raum gegeben haben. Es entfernt sich auch von der Diagnose, die Emmanuel Todd in seiner letzten Buchpublikation dem Westen gestellt hat. Todd sieht die Phase der säkularen Religion im Westen unwiderruflich überschritten zugunsten einer Null-Religion, die keinerlei Werte zu bewahren, geschweige denn zu generieren imstande ist (Der Westen im Niedergang. Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall). Katholik Theisen macht demgegenüber eine einfache Rechnung auf: Wer weiterlebt, hat stets die Wahl zwischen Anarchie und Ordnung, zwischen Selbstbehauptung und Selbstverleugnung. Selbstbehauptung ist Theisens großes Thema, das er auch in diesem Buch nicht verleugnet.

Jedermanns Feind wird leicht jedermanns Büttel – ein Schicksal, das dem religiösen Fanatismus, nicht nur auf der arabischen Halbinsel, durchaus geläufig ist. Entgegen landläufigen Auffassungen existiert unter der Sonne der Moderne kein Gottesstaat und wird voraussichtlich auch keiner existieren. Staaten, die sich ein entsprechendes Aussehen geben, funktionieren nach denselben Regeln von Machterhalt und Kommerz wie alle anderen auch. Ein spezielles Stellenbesetzungsregime ändert daran nichts. Religiöse Toleranz, so sie denn, mangels wirklichem Liberalismus, vonnöten ist, erwächst aus pragmatischen Überlegungen, nicht aus einer fortgeschrittenen Religion. Religion hat stets die Wahl, pragmatisch zu werden und zur Ethik zu verblassen, oder die Seite hervorzukehren, die Luther so unnachahmlich ins Gedächtnis des Westens eingepflanzt hat: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Theisen, der wie Todd weiß, dass die imperiale Ordnung des Westens zerfällt, plädiert denn auch für eine pragmatische Weltordnung, die nach Lage der Dinge nur multipolar sein kann. In dieser Weltordnung sollte, so sein Begehr, Europa jenseits von Selbstüberhöhung und Selbstverachtung Europa bleiben und der Nahe Osten, dem religiösen Fundamentalismus entwachsen, der Nahe Osten. Am Ende entscheidet darüber der demographische Faktor.

Chaim Noll / Heinz Theisen: Verteidigung der Zivilisation. Israel und Europa in der islamistischen Bedrohung, Reinbek (Lau) 2024, 247 Seiten