von Peter Brandt

Kritisches zum ›Einwanderungsland Deutschland‹

Das jüngst im Hamburger Verlag tredition erschienene Buch von Eckhard Stratmann-Mertens ist eine Provokation: Nicht, weil es etwa polemisch wäre, vielmehr ist dieses Plädoyer für eine deutlich restriktivere Migrationspolitik eine absolut sachlich und argumentativ gehaltene Abhandlung. Das wird den Autor, Oberstudienrat i. R. und Gründungsmitglied sowie Ex-MdB der Grünen (seit 1999 parteilos), nicht davor bewahren, dass man sein Werk mit fremdenfeindlichen Positionierungen in einen Topf werfen wird. Dabei sollte es selbstverständlich sein, dass Kritik an der Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik nicht identisch ist, jedenfalls nicht identisch sein muss, mit einer feindseligen Haltung gegenüber denen, die nach Deutschland bzw. nach Europa kommen oder kommen wollen.

Der Grundgedanke des Buches besteht darin, dass es neben den berechtigten Anliegen der inzwischen in Deutschland lebenden 21,2 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund (26 Prozent der Gesamtbevölkerung), davon rund die Hälfte ohne deutsche Staatsbürgerschaft, auch legitime Bedürfnisse und Interessen der ethnischen Deutschen gibt, deren Sicht- und Erlebniswelt von den Enthusiasten der Zuwanderung oftmals einfach ausgeblendet oder sogar diffamiert wird. Es dürften aber individuelle Menschenrechte den Gemeinschaftsrechten von Staaten und Ethnien nicht einfach übergeordnet werden; es gehe um die Austarierung beider. Wenn sich laut einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 2019 69 Prozent der befragten Ostdeutschen und 62 Prozent der Westdeutschen große oder sehr große Sorgen um den Zusammenhalt der Gesellschaft machen, 65 Prozent bzw. 57 Prozent über die Zahl der Zuwanderer, während nur 27 Prozent bzw. 30 Prozent darin in erster Linie eine Bereicherung sehen, dann kann das nicht als ein Phänomen von Hinterwäldlern und Chauvinisten abgetan und allein Rechtsgerichteten zugerechnet werden. Noch mehr als auf der materiell-sozialen ist die bundesdeutsche Gesellschaft heute auf der soziokulturellen Achse stark polarisiert, ja tief gespalten.

Es ist wissenschaftlich seit langem klar, dass die Entstehung der Völker im ethnischen Sinn – der modernen Nations- und Nationalstaatsbildung der letzten Jahrhunderte weit vorausgehend – kein rassenbiologischer, sondern ein gesellschaftlicher und kultureller Vorgang war. Es ist deshalb irreführend, wenngleich weit verbreitet, jede nicht ausschließlich negative Bezugnahme auf das ethnische Volk als ›völkisch‹ in der Bedeutung des späten 19., frühen und mittleren 20. Jahrhunderts abzutun. (Gleiches gilt für die Benennung von allem auf die Nation Bezogenem als ›nationalistisch‹ im umgangssprachlichen pejorativen Sinn.)

»Wo … die Herkunft der einheimischen Deutschen samt der Geschichte des eigenen Volkes als ›Kopfgeburt‹ desavouiert wird, wird der Entwicklung eines Wir-Gefühls der Boden entzogen« (158).

Die Formel vom ›Einwanderungsland Deutschland‹ akzeptiert Stratmann-Mertens nur als Beschreibung des faktisch Geschehenden, nicht als Leitbild namens ›postmigrantische Gesellschaft‹, wie wir sie in der üblichen Bejubelung des Vielfältigen bzw. ›Bunten‹ täglich erleben, wobei suggeriert wird, sowohl die Masse der einströmenden Menschen als auch die Anzahl der in Deutschland inzwischen rund 200 Nationalitäten ließe sich beliebig vermehren. Wenn der Autor Begriff und Realität des Volkes rehabilitieren will, dann indessen in einem inklusiven Verständnis: Die Zugewanderten, die hier dauerhaft leben, sollen nicht einfach durch erzwungene Anpassung assimiliert werden, sondern deren kulturelle Spezifika würden – bei der Größenordnung des Phänomens auch kaum anders vorstellbar – in einen intensivierten Vergemeinschaftungsprozess eingehen. In der Tat: Moderne Nationalkulturen, nicht erst der letzten Jahrzehnte, nehmen fortlaufend Neues auf, ohne in der Verflüssigung einfach zu verschwinden. Machbar sei ein Zusammenwachsen aber nur bei einer – möglichst parteiübergreifenden – Umsteuerung der Politik, wie sie sich in Nordeuropa abzeichne und in Dänemark schon weit gediehen sei.

Es ist unerlässlich zu betonen: Der Autor stellt das grundgesetzlich garantierte individuelle Recht auf politisches Asyl ebenso wenig in Frage wie den Schutz von Flüchtlingen gemäß der diesbezüglichen Genfer Konvention. Dass die Mehrzahl der angeblichen Flüchtlinge faktisch Armuts- bzw. Arbeitsmigranten sind, ist offensichtlich, ebenso, dass die Allerärmsten und Elendsten dieser Erde gar nicht imstande sind, nach Europa zu gelangen. Deshalb sind die Befürworter ungehinderter Einwanderung bzw. offener Grenzen stets bestrebt, die Unterschiede der Kategorien zu verwischen.

Das vorzustellende Buch beginnt mit der Skizzierung unterschiedlicher Ebenen des Volksbegriffs – in den Worten des Rezensenten vereinfacht als ethnisches, politisch-rechtliches und soziales Volk – im historischen Ablauf und der Abgrenzung vom ›Völkischen‹ in biologistischer und essentialistischer Denktradition, gipfelnd im NS-Faschismus. Jüngeren ist kaum noch geläufig, dass die Begriffe ›Volk‹ und ›Nation‹ im 19. Jahrhundert auch in Deutschland einen hauptsächlich emanzipatorischen Gehalt hatten, jedenfalls bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts (in unterschiedlicher Akzentuierung) über das gesamte politische Spektrum hinweg als wesentliche, beinahe selbstverständliche Kategorien benutzt wurden. Gegenüber einer nachträglichen Umdeutung ist festzuhalten, dass die Gründerväter und -mütter der Bundesrepublik im Grundgesetz (wie die der DDR in ihren Äußerungen) durchaus die ethnisch-kulturelle Dimension der Staatsbürgerschaft mit im Auge hatten.

Der Autor zeichnet – mit eigener Interpretation der offiziellen Statistik – die Entwicklung Westdeutschlands zum Einwanderungsland empirisch nach, beginnend in den 1950ern mit der Anwerbung der ›Gastarbeiter‹, kulminierend in den Jahren ab 2012. Dabei geht es letztlich um die positiven oder negativen Wirkungen der Zuwanderung auf die Identität der einheimischen Deutschen und auf den Einfluss des Ausmaßes der Migration auf die Integrationsfähigkeit bzw. -bereitschaft der einheimischen Deutschen wie der Migranten. In diesen Kernfragen wirft Stratmann-Mertens nicht nur den ›Neuen Deutschen-Organisationen‹ Eingewanderter, sondern auch etlichen einschlägigen Wissenschaftlern, öffentlichen Gremien wie dem Sachverständigenrat der Bundesregierung für Migration und Integration sowie großen Teilen der Publizistik vor, einem Wunschdenken zu folgen und auch da, wo die Probleme benannt werden, unbegründeten Optimismus zu verbreiten.

Die Jahre von 2012 bis 2019 zeigen den höchsten Anstieg der Ausländerzahlen seit Bestehen der Bundesrepublik, wobei sowohl die Arbeitnehmerfreizügigkeit zugunsten der ostmitteleuropäischen und südosteuropäischen EU-Beitrittsstaaten zu Buche schlug als auch die Bürgerkriege im Gefolge des ›Arabischen Frühlings‹, insbesondere in Syrien und im Irak. Die Tendenz zur Konzentration von Ausländern in bestimmten Großstädten, an der Spitze Offenbach am Main mit 2019 36,6 Prozent (Migrationshintergrund: 63 Prozent) und in bestimmten Stadtteilen, wozu die sogenannten Brennpunktschulen mit einem teilweise erdrückenden Übergewicht von Schülern mit Migrationshintergrund gehören, hält schon Jahrzehnte länger an. Als Beispiel für die Entstehung von teil-autarken Parallelgesellschaften umreißt Stratmann-Mertens nüchtern, doch ernüchternd beispielhaft die Verhältnisse in Duisburg-Marxloh, einem »Paradebeispiel für das Scheitern von Integration und die Last der Vielfalt« (321). In Marxloh nahm seit 2012 die Zahl der Deutschen (einschließlich derer mit Migrationshintergrund) deutlich ab, während die der Ausländer etwa zweieinhalbmal stärker zunahm. Dabei traten neben die inzwischen alteingesessenen Türken die zusammen zahlenmäßig überlegenen Gruppen der Bulgaren und Rumänen, großenteils Roma, die dort mehrheitlich keiner regulären Erwerbsarbeit nachgehen, ferner als weitere Gruppierung anerkannte Flüchtlinge nach Auslaufen der Wohnsitzauflage. Wie schon von den türkischen Migranten bekannt, wirken in der Nähe wohnende Verwandte und Bekannte über den Familiennachwuchs hinaus als Anziehungsfaktor. Die neu hinzugekommenen Migranten werden von den Unternehmen unter Unterminierung des Tarifwesens als Lohndrücker genutzt.

Die Probleme mit der Integration sind weitgehend bekannt. Stratmann-Mertens begnügt sich aber nicht damit zu wiederholen, was man überall beobachten und nachlesen kann. Er bietet – auch für diejenigen, die anderer Meinung sind als er – einen komplexen und differenzierten Analyseaufriss. Da fehlt es an nichts. Die einschlägige Forschungsliteratur, nicht nur die in eine ähnliche Richtung tendierende, wird präsentiert und diskutiert, ebenso die offiziellen und offiziösen Berichte und Positionspapiere der diesbezüglichen öffentlichen und nichtöffentlichen Institutionen bzw. Gremien. Begriffliche bzw. terminologische Fragen werden ebenso behandelt wie die Empirie. Dazu gehört, dass nach inzwischen üblicher und gesetzlich begünstigter Praxis in Deutschland über 95 Prozent derjenigen, die einen Asylantrag stellen, Aussicht auf ein langjähriges Bleiberecht haben, auch diejenigen, deren Begehren nicht grundgesetzlich geschützt ist. Irreguläre Migration wird in dem Buch ebenso thematisiert wie die spezifischen Varianten von kriminellem Verhalten, namentlich von Gewaltkriminalität, die im Zuge der Zuwanderung vermehrt bzw. überproportional auftreten.

Ohne Ressentiment, doch auch ohne Scheu anzuecken, diskutiert der Autor ferner die die Integration bremsende Wirkung der Zugehörigkeit zum Islam mit ca. 5,5 Millionen Menschen, davon rund die Hälfte deutsche Staatsbürger. Das Hindernis sieht er weniger in der religiösen Zugehörigkeit als einer solchen als in der national-kulturellen Distanz, die in den Moscheen, großenteils abhängig vom islamisch geprägten Ausland, bewusst kultiviert werde – durch Geistliche, die in überwältigender Mehrzahl nicht in Deutschland sozialisiert sind. Die Übernahme der Kontrolle des islamischen Religionsunterrichts durch den deutschen Staat und die Durchsetzung des deutschsprachigen Gottesdienstes (sofern nicht in bestimmen Teilen religiös anders vorgeschrieben), perspektivisch erteilt von hierzulande zu rekrutierenden Lehrern, sei unabdingbar.

Eines der gängigen Argumente, Einwanderung noch zu forcieren, ist der vermeintliche Fachkräftemangel. Dabei liegt es auf der Hand, dass dieses Motiv, das mit humanitären Erwägungen nichts zu tun hat, aus der Sicht der betroffenen europäischen wie außereuropäischen Länder äußerst bedenklich ist: Im Zuge eines massiven brain drain werden jenen, die die hohen Ausbildungskosten tragen, wertvolle menschliche Ressourcen, nicht zuletzt im medizinischen Bereich, entzogen, Stratmann-Mertens zufolge eine Art ›neokolonialer‹ Ausbeutung, kombiniert mit einer Haltung von ›Wohlstandschauvinismus‹. Anstelle des gepriesenen internationalen Wettbewerbs um die fähigsten und klügsten Köpfe verlangt der Autor, solche Abwerbung zu unterbinden. Die damit verbundene Praxis sieht er plausiblerweise als Teilaspekt der forcierten Globalisierung, wie sie sich seit den späten 1970er Jahren in Gestalt der vom Finanzmarkt getriebenen Variante des Kapitalismus durchgesetzt hat. Wo der hausgemachte Fachkräftemangel tatsächlich bestehe – und angesichts einer zu niedrigen Geburtenrate in Deutschland –, müsse die Antwort in einer besseren Familien- und Bevölkerungspolitik und einer Umorientierung der Bildungspolitik hin zu stärkerer Förderung handwerklicher Berufe bestehen. Auch ein soziales Pflichtjahr für Jungen und Mädchen könne hilfreich sein. Wenig Begeisterung, namentlich bei Gewerkschaftern, dürfte die Anregung finden, den Renteneintritt über 67 hinaus nach hinten zu verschieben.

Der Verfasser äußert also nicht nur fundamentale Kritik an der bisherigen Migrations- und Flüchtlingspolitik; er macht auch eine Reihe konkreter Vorschläge. Die vorgeschlagenen positiven Maßnahmen, so die Einführung eines islamischen Feiertags als nationalem Gedenktag und die Errichtung eines Denkmals für die über die Jahrzehnte zugewanderten und zum deutschen Volk hin zugekommenen Arbeiter, in erster Linie indessen weiter verbesserte Sprach- und Bildungsförderung, deren bisherige Resultate anerkannt werden, sind gedacht als Teile eines Umsteuerns, das sich in vieler Hinsicht am Vorbild der dänischen Regierung von Mette Frederiksen orientiert (restriktive Einwanderungs- bzw. Integrationspolitik, linke Wirtschafts- und Sozialpolitik).

Die wohl am wenigsten konsensuale Richtlinie von Stratmann-Mertens: Um die nationale (ethnisch-kulturelle) Identität der Deutschen zu schützen – deren Bewahrung wie die der anderen Völker übrigens zu den programmatischen Zielen der EU gehört –, und zugleich um die längerfristige sanfte Einschmelzung der Eingewanderten, in der Bundesrepublik dauerhaft leben Wollenden zu ermöglichen, müsse eine weitere Netto-Zuwanderung unterbunden werden. Das würde, da es stets eine jährliche Abwanderung von beträchtlichem Ausmaß gibt, die Begrenzung der Zuwanderung auf das Maß der jährlichen Abwanderung erfordern, wobei ein Ausgleich über mehrere Jahre erforderlich sein werde. Zum Vergleich: Im Jahrzehnt 2000-2009 lag der durchschnittliche Wanderungssaldo pro Jahr bei gut 89 000 Personen. Die – zeitlich befristete – Aufnahme von Schutzsuchenden (Asylsuchende und Flüchtlinge) habe absoluten Vorrang vor anderen Zuwanderergruppen. Aber auch bei ihnen erscheine eine jährliche Obergrenze von 100 000 Personen als Richtgröße angemessen und humanitär vertretbar (332). In der Tat ist eine Kontingentierung der Flüchtlinge gemäß der Genfer Konvention von 1951, so der Kriegsflüchtlinge, rechtlich möglich, anders als bei individuellen Asylanträgen; deren Anerkennung mache indessen nur etwa 1 Prozent der Schutzsuchenden aus.

Ob ein solcher Schritt, der von einer Abschottung zu unterscheiden wäre, politisch wünschenswert und, falls ja, durchsetzbar ist, mag bezweifelt werden. Wesentlich scheint mir indessen die Botschaft, dass es durchaus Gestaltungsmöglichkeiten gibt. Erst wenn der Zuwanderungsdruck entscheidend reduziert werde, sei eine schrittweise Lösung der Integrationsprobleme möglich. Die reale Entwicklung als eine Art Naturereignis resignativ hinzunehmen und allenfalls behutsam zu reagieren, ist unserer bundesdeutschen Demokratie, die untrennbar auf der Souveränität des Demos, des Volkes, beruht, in der Tat unwürdig. Gleiches gilt für den Verbund europäischer Demokratien, der die EU sein will. Es gibt keinen Grund, das heutige Deutschland und das heutige Europa als den Gipfel des Möglichen anzusehen, aber im globalen Vergleich ist das europäische Zivilisationsmodell, und dazu gehört der demokratische, europäisch integrierte Nationalstaat mit mehr oder weniger avanciertem Wohlfahrtsstaat, verteidigungswert. Der Menschheit ist nicht geholfen, wenn das hiesige Gemeinwesen aus den Fugen gerät. Die Gründe der einzelnen Armuts- oder Wirtschaftsflüchtlinge mögen überwiegend vollkommen verständlich sein, doch die Übersiedlung vorrangig der Jüngeren und Stärkeren ist weder für die Aufnahmeländer, welche nicht die globalen Probleme auf ihrem Territorium lösen können, noch für die Abgabeländer eine Lösung. Leider wird auch die Verbesserung der sozialen und rechtsstaatlichen Situation im globalen Süden nur langfristig die Bevölkerungsexplosion stoppen und den Auswanderungsdruck bremsen. Im Hinblick auf die Migration ist zunächst sogar das Gegenteil zu erwarten, weil mehr Menschen in die Lage kommen werden, den Weg in den Norden zu beschreiten. Eine internationale rechtliche und prozedurale Regulierung durch die UNO ist anzustreben. So lange sie nicht existiert, müssen die Staaten in dieser wie in anderer Hinsicht handlungsfähig bleiben bzw. wieder werden.

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