von Ulrich Schödlbauer
Zweifellos zählt Merkels Grenzöffnung vom 4. September 2015 zu den Wendemarken der deutschen, der europäischen und wohl auch der Geschichte des Westens insgesamt – mit Fernwirkungen weit ins Gefüge nichtwestlicher Gesellschaften hinein. Wie bei symbolischen Daten üblich, wirkt sie wie ein Brennglas für Ereignisse und Ereignisfolgen, die bereits unterwegs waren, so wie sie selbst Grund und Folge solcher Ereignisse war: am 23. Juni 2016 stimmten 51,89 Prozent der britischen Wähler angesichts der als chaotisch wahrgenommenen ›Flüchtlingswoge‹ für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union, der dann am am 29. März 2017 durch eine schriftliche Mitteilung seitens der Regierung May an den Europäischen Rat rechtlich wirksam in die Wege geleitet wurde. Im Oktober 2015 begann mit der Entsendung polnischer Grenzbeamter nach Ungarn die gemeinsame Grenzpolitik der Visegrád-Gruppe, die zu weitergehenden Zerwürfnissen innerhalb der EU führte, am 8. November 2016 wurde Donald Trump zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt.
Wie der Angriff auf die New Yorker Twin Towers am 11. September 2001 das Ende der Pax americana im Nahen und Mittleren Osten einleitete, so steht die von interessierten Kreisen beklatschte deutsche Grenzöffnung für das Ende Europas, wie man es bis dahin kannte: als progressiver Zusammenschluss einiger der ökonomisch und kulturell dominanten Staaten der Erde mit einer langen, alle Höhen und Tiefen durchmessenden, durch Christentum und Aufklärung determinierten gemeinsamen Vorgeschichte. Im Jahre 2018 präsentiert sich die EU als zerrüttete, handlungsschwache und über den gemeinsamen Weg in die Zukunft uneinige Ländergruppe mit fragwürdigen Institutionen. Die hemdsärmelige Entscheidung einer deutschen Kanzlerin, die EU-Aufnahmeregelungen für Migranten und ›Flüchtlinge‹ (Dublin III) tendenziell außer Kraft zu setzen, überschritt die unsichtbare Grenze zwischen der bis dahin praktizierten Vorreiterrolle Deutschlands bei der Integration und Ausgestaltung der europäischen Währungs- und Wirtschaftspolitik und einer als gleichermaßen tyrannisch und chaotisch wahrgenommenen europawirksamen Politik der einsamen Hand. Zurück meldete sich das unstete, die Nachbarn in den Sog seiner geschichtsbedingten und ideologisch motivierten Katastrophen ziehende ›Täusche-Land‹ (Nietzsche), von dessen innerer Verfassung das bundesrepublikanische Bewusstsein sich einst verabschiedet hatte.
Im Oktober vergangenen Jahres veröffentlichten zwei Sozialdemokraten und eine ehemalige Europa-Abgeordnete der Grünen in der Welt ihre 10 Thesen für ein weltoffenes Deutschland (Globkult, 18.10.2017). In ihnen forderten sie von der Bundesregierung, vor allem jedoch von ihren eigenen Parteien Respekt für die deutsche und europäische Rechtslage mit ihren klaren Unterscheidungen zwischen Flüchtlingen, Asylsuchenden und Migranten unterschiedlicher Motivation sowie einen realistischen Blick auf die ökonomischen, lebensgeschichtlichen und kulturellen Problemzonen und Grenzen von Masseneinwanderung insbesondere aus traditionell muslimisch geprägten Gesellschaften. Vor allem warnten sie vor den politischen Verwerfungen, die sich im Ergebnis der Wahlen zum 19. Deutschen Bundestag vom 24. September 2017 bereits eindrucksvoll bekundeten und seither durch die fortschreitende Erosion der Volksparteien, vor allem der SPD, weiter an Dramatik gewonnen haben, und verlangten Remedur.
Inzwischen dämmert es den politischen Akteuren, dass hier nicht eine der mit den üblichen Mitteln beizulegenden Krisen im politischen System ihren Lauf nimmt, sondern das System selbst seinen Aggregatzustand ändert. Richard Schröder und Gunter Weißgerber, zusammen mit Eva Quistorp die Verfasser jener mittlerweile zur Buchform angewachsenen zehn Thesen, haben das politische Handwerk in der Umbruchzeit der DDR und in der frühen parlamentarischen Arbeit des wiedervereinigten Deutschland gelernt. Ihren Beiträgen ist das unübersehbar eingeschrieben: Sie machen nicht nur keinen Hehl daraus, sondern erinnern eindringlich daran, dass Freiheits- und Rechtsbewusstsein zusammen die Bedingungen für die Schleifung machtfixierter ideologischer Barrieren schufen und den Weg in den gemeinsamen Staat bereiteten. In einem Land, dessen Kanzlerin Grenzkontrollen zeitweise in den Bereich des nicht Machbaren verwies und in dem eine frenetische Minderheit innerhalb wie außerhalb der Parteien nach wie vor der bedingungslosen Aufnahme von pauschal als ›Flüchtlinge‹ oder ›Flüchtende‹ apostrophierten Zeitgenossen das Wort redet, kann dergleichen nicht als selbstverständlich angesehen werden. Auch dürfte, wer zu den Organisatoren des Abgangs eines Staates von der historischen Bühne zählte, ein wacheres Bewusstsein für die Grundlagen von Staatlichkeit und ihre Gefährdungen mitbringen als Politiker, die, wie mittlerweile üblich, wenig mehr durchlaufen haben als ein geisteswissenschaftliches Schmalspurstudium mit anschließender oder parallel verlaufender Parteikarriere.
Dies vorausgeschickt, wirken die Zehn Thesen deutlich durchdachter als das, was via Koalitionspapier und Verlautbarungen aus den Parteizentralen gegenwärtig die Öffentlichkeit erreicht. Das gilt für die Obergrenzen-Dauerdebatte mit ihren ebenso abenteuerlichen wie absurd-lächerlichen Zügen, in der religiös-moralische, utopische, menschenrechtliche, verwaltungsrechtliche, ökonomische, bevölkerungspolitische, sozialstaatliche, sicherheitspolitische und kulturelle Argumente in schöner Regelmäßigkeit aufeinanderprallen, als habe sich die Realität dem Diktat der Einfälle zu unterwerfen und ansonsten nichts weiter zu melden. Vor allem Richard Schröders Beiträge sind dem Verlangen geschuldet, diesen Dschungel zu lichten und sowohl moralisch als auch juristisch brauchbare Unterscheidungen zu treffen. Darunter fällt die durch UN-Menschenrechtskonvention und EU-Recht geregelte Verpflichtung der Staaten zu Aufnahme von Asylsuchenden und Flüchtlingen ebenso wie ihre rechtlich-pragmatische Ausgestaltung, die konsequenten und massenhaften Missbrauch einigermaßen zuverlässig verhindern sollte. Rechtssicherheit und systematische, durch die Praxis von Staatsorganen honorierte Täuschung und Fehlverrechnung, so die These, schließen einander aus.
Der Theologe Schröder schreibt:
Wenn suggeriert wird, die Aufnahme der Flüchtlinge würde sich für uns lohnen, ist das eine schäbige, unwürdige Haltung, die sich nicht an der Menschenwürde der Flüchtlinge orientiert. Denn wenn es sich nicht lohnen würde, was dann? ... Die vielen ehrenamtlichen Helfer, die sich für die Ankommenden engagieren, denken dabei mit Sicherheit nicht an die Sicherung ihrer Rente. Sie fragen nicht, ob sich ihr Engagement für sie selbst lohnt, sondern wollen Menschen in Not oder doch in Schwierigkeiten helfen. Sie sind moralisch jenen Nützlichkeitsrechnern weit überlegen. Den Bedarf an Arbeitskräften durch Flüchtlingsströme statt durch regulierte Einwanderung regeln zu wollen, ist moralisch verwerflich. (42)
Das stützt die andernorts geäußerte Auffassung des Rezensenten: Einwanderungspolitik, als Asylpolitik maskiert, bei der Flüchtlinge mit der Aussicht auf rechtliche Anerkennung in der Minderheit bleiben, schürt sozialen Unfrieden und schadet der Integration nicht nur kurzfristig, sondern auf mittlere und vermutlich auch lange Sicht, sofern sich der Eindruck erschlichener Rechte verfestigt. Im nachhinein scheint das freundlich formuliert – der Unfriede ist längst kein bloß sozialer mehr, sondern einer, der das staatlich verfasste Selbstverständnis des Landes in Frage zu stellen droht. Was moralisch verwerflich ist, darf nicht von staatlicher Seite erzwungen werden.
Schröder wie Weißgerber zeichnen polemisch den Begriff der Grenze nach, der in den emotionalisierten Diskursen der Öffentlichkeit oft nur als Zerrbegriff aufscheint, als stehe er für die Versagungen des heimischen Systems ebenso wie für das Unrechtsregime überhaupt, mit dem Reichen-Egoismus und Ethnozentrismus die Welt überziehen. Sie bleiben nicht bei dem mittlerweile im Mainstream angekommenen Argument stehen, dass der grundgesetzlich verankerte Sozialstaat ein funktionierendes Grenzregime voraussetzt, weil im anderen Fall die Kosten dem Leistungsvermögen des Staates, in letzter Instanz also seiner Bürger davonlaufen. Es gehört zu den primären Staatsnotwendigkeiten – zu seiner Raison d'être –, innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten: der Wegfall von Grenzkontrollen an den europäischen Binnengrenzen löst das Problem nicht in Luft auf, sondern verlagert es an die europäischen Außengrenzen. Weißgerber schreibt dazu:
Eine kollektiv erlebte Sicherheit und ein damit in Zusammenhang stehender gemeinsam erlebter Schutz werden hoffentlich der Beförderung einer europäischen Identität bei Wahrung der eigenen Wurzeln förderlich sein. (63)
Doch auch das Umgekehrte gilt:
Untrennbar verbunden mit der Erweiterung der Europäischen Union war immer die Zusicherung der EU-Außengrenzsicherung durch die jeweiligen neuen Mitgliedsstaaten. Mitglied konnte nur werden, wer auch diese Aufgabe wahrnehmen wollte. Dieses nicht genügend kontrolliert zu haben, das ist eines der schwereren Vergehen der Brüsseler Wohlfühl-Organisatoren. 2015 und in den Folgejahren wäre uns diese Unterlassung beinahe zum Verhängnis geworden. (ebd.)
Anlässlich der Rede von denen, die schon länger hier wohnen, war es wohl nötig, darüber hinaus daran zu erinnern, dass auch die zweite, durch die Staatsbürgerschaft gezogene Grenze für die Geltung von Recht und Gesetz unabdingbar ist. Welch heillose Verwirrung bei diesem Thema inzwischen in den Köpfen herrscht, darüber gibt der öffentliche Zank über staatlich alimentierte Polygamie in Deutschland dem Interessierten hinreichend Auskunft.
Kein Mensch ist illegal. Schröder zitiert den Satz, um hinzuzusetzen:
Zweifellos können Menschen, die nicht illegal sind, Illegales tun und sich auch irgendwo illegal aufhalten, als Einbrecher etwa. Der illegale Grenzübertritt ist auch dann illegal, wenn dort nur Schilder stehen und kein Zaun oder gar eine Mauer mit Stacheldraht. (24)
Dass über Rechte erst dort sinnvoll verhandelt werden kann, wo Rechtsverhältnisse sich Respekt verschaffen und respektiert werden, ist eines der stehenden Themen dieses Buches. Ein anderes, nicht minder bedeutsames, ist die kulturelle Prägung der Zuwanderer, soweit sie gerade nicht als Asylberechtigte und Flüchtlinge einen zeitlich begrenzten Aufenthalt – und einen entsprechenden Status – anstreben: neben der beruflichen Qualifikation und dem individuellen Zufall ist vor allem sie es, die über Erfolg oder Misserfolg von Integration entscheidet – falls sie überhaupt gewünscht wird. Unterschiedliche kulturelle Muster können zueinander passen oder auch nicht. Deutlich ausgesprochen werden Vorbehalte gegenüber muslimisch geprägten Herkunftsregionen und dem in ihnen anzutreffenden religiös-kulturellen Mix, auch wenn die Autoren sich gegen den Vorwurf der ›Islamophobie‹ zu wappnen versuchen – kein leichtes Vorhaben angesichts eines Kampfbegriffs, der geeignet scheint, jede sachliche Unterscheidung in Grund und Boden zu reden. Der Leser ist Eva Quistorp dankbar, wenn sie als Flüchtlingshelferin über den Fall des von ihr betreuten afghanischen Flüchtlingskindes Modina berichtet:
Modina war fröhlich und lernbegierig geworden, hatte wunderbar Deutsch und Singen bei mir gelernt, suchte meine Nähe. Das zerstörte den Männerstolz des Vaters, dem sein Ansehen in seinem Clan wichtiger war. Es ist fatal, wenn diese Haltungen von Sozialarbeitern und der Schulleiterin unterstützt werden. Es fehlen Väter- und Mütterkurse, in denen demokratische Erziehungskultur vermittelt wird. Wir sollten die weltoffene, europäische Kindererziehung Migranten nahebringen, statt ihnen diese vorzuenthalten durch faule Toleranz des sogenannten ›Anderen‹. (113f.)
Ist der clash of cultures, der Zusammenprall der Kulturen, wie er hier beschrieben wird, durch mehr ›Kurse‹ abzuwenden? Zweifel sind erlaubt. Das liegt nicht allein an ›fauler Toleranz‹ seitens der Aufnehmenden, es liegt an den Besonderheiten kultureller Prägung selbst, über die ebenso viele Missverständnisse kursieren, wie sozialwissenschaftliche Ansätze um die Gunst des Publikums buhlen. Man wundert sich, warum an den Universitäten dieses Landes noch Kulturwissenschaften gelehrt werden, ihr Beitrag zu dieser Debatte tendiert gegen Null. Wer Kultur für etwas Angelerntes hält, das man durch (möglichst lebenslanges) Lernen gegen eine andere eintauschen kann, der hat nicht verstanden, dass es die Kulturen selbst sind, also umfassende Lernkollektive, die das lernende Individuum erst hervorbringen und seine Lernmöglichkeiten nicht determinieren (welch hässliches Wort!), sondern vorbereiten, so wie jedes Urteil ein Vor-Urteil weiterträgt oder modifiziert, selbst wenn es ihm entsagt. Ob eine Gesellschaft ihre Zuwanderer assimiliert, ob sie durch Zuwanderung ›bunter‹ wird oder ob sich ihr Grundcharakter verschiebt, liegt neben den bloßen Quantitäten auch daran, welche kulturellen Schnittmengen gegeben sind und ob es der Gesellschaft gelingt, beiderseits der Linie, die Einheimische und Zuwanderer voneinander trennt, ein effizientes Prämiensystem für gesellschaftlich erwünschtes Verhalten zu etablieren.
Wie deutsch ist dieses europäische Deutschland zwischen den Epochen? Wie europäisch, wie deutsch soll es künftig in ihm zugehen? Einig sind sich die Autoren im Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit, zur republikanisch-demokratischen Ordnung, zur Freiheit der Individuen und zur Gleichheit der Geschlechter. Sie sollen auch in Zukunft unabdingbar sein, wobei Eva Quistorp die aktivistisch-emanzipatorische, internationalistische, nicht zuletzt frauenemanzipatorische Karte zieht: Überall da, wo Menschen redlichen Gemüts sich zusammenfinden, kann der Westen samt seinen Idealen nicht weit sein. In der Tat: Was wären die Menschenrechte wert, beanspruchten sie keine universelle Geltung? Umso ungemütlicher nimmt sich die gegenläufige Vorstellung aus:
Die Destabilisierung Deutschlands und der EU kann in direkter Linie auf das Datum im September 2015 zurückgeführt werden. Unsere Enkelkinder – und hier speziell die Mädchen unter ihnen – werden um ihre Rechte streiten müssen. Das zu schreiben ist nicht Angstmache, es liegt in der Logik der plötzlichen Massenzuwanderung einer vorwiegend patriarchalischen und sehr männlich geprägten Kultur statt einer über Jahrzehnte und Jahrhunderte umfassenden konfliktfreieren Einwanderung. (Weißgerber, 98f.)
Das Überraschende daran ist: Beide Tendenzen widersprechen einander nicht. Wie und warum sie sogar zusammengehören, dies zu erläutern erforderte ein weiteres Buch. Quistorp, Schröder und Weißgerber beschränken sich auf das hier und heute Erreichbare – und das ist gut so.
Zahlen, Begriffe und Fakten zur Situation von Migrant_innen in Deutschland (Stand: 19. Februar 2018, PDF)
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