von Christian Wipperfürth
Der Ostdeutsche Edelbert Richter hat bereits eine ganze Reihe von Büchern vorgelegt (siehe z.B. die Rezension Richters Die Linke im Epochenumbruch – www.globkult.de/politik/besprechungen/). Er ist Philosoph, Theologe und Politiker (Volkskammer, Europäisches Parlament bzw. Bundestag zwischen 1990 und 2002). Richter gehörte seit 1990 der SPD an. 2007 wechselte er zur Linkspartei. Er war lange Jahre Mitglied der ›Grundwertekommission‹ beim SPD-Parteivorstand und gehört dem ›Willy-Brandt-Kreis‹ an, dem namhafte Persönlichkeiten angehören. Richter steht also politisch links und zugleich unverkennbar in deutscher Denktradition, die er bejaht und für fruchtbar hält, eine ungewöhnliche Kombination.
Ausgangspunkt des Buchs sind die seines Erachtens großen Unterschiede zwischen Deutschland und der angelsächsischen Welt im Verhältnis zur Natur, die eine jahrhundertelange Tradition besäßen (20). Richter macht sich auf den Weg nach dessen Ursachen und Auswirkungen. Ihn bewegt die Sorge um die – theologisch ausgedrückt – Bewahrung der Schöpfung.
Er lässt die Leserinnen und Leser an seinen Gedankengängen teilhaben, stellt Fragen, äußert Zweifel. Seine Neugier und sein Wissensdurst sind unverkennbar und können anstecken. Zugleich erfordert die Lektüre ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Mitdenken.
Richter fächert die Unterschiede zwischen der ›deutschen Vernunft‹ und dem ›angelsächsischen Verstand‹ anhand theologischer, philosophischer und naturwissenschaftlicher Beispiele auf. So thematisiert er die Naturverehrung Luthers und vieler seiner deutschen Zeitgenossen, die im Gegensatz zur calvinistischen Richtung des Protestantismus stehe, die in der angelsächsischen Welt dominiert(e) (51-58). In Deutschland habe sich früh, stark und anhaltend (etwa bei Goethe) die Neigung entwickelt, Gottes Wirken in der Natur zu sehen, oder ihr gar einen quasi göttlichen Charakter zuzuschreiben. Diese Tendenz habe in den Ländern mit calvinistischer Dominanz, also etwa in England, gefehlt. Richter meint, dass diese und ähnliche »Muster des Denkens auch heute noch weiterleben, und zwar nicht nur im Denken, sondern auch im Verhalten und den Institutionen« (58).
Er erklärt und ordnet die Philosophie Platons ein, deren Deutung in Deutschland deutlich von derjenigen anderer Länder abwich, was illustriert wird (37-43). Richter kontrastiert das Denken und den Lebenslauf des englischen Denkers Francis Bacon und seines deutschen Zeitgenossen Jakob Böhme, die beide um 1600 lebten (69-74). Er sieht Differenzen, die bezeichnend für die anhaltend unterschiedlichen Ausrichtungen beider Länder seien.
Der Autor fährt später fort, die differierende Stellung des Individuums und des Verhältnisses zur Natur bei Leibniz und Locke zu beleuchten, mit deutlichen Sympathien für den deutschen Philosophen (128-35). Oder er thematisiert die Haltung Spinozas zur menschlichen Freiheit sowie dessen, wie Richter meint, für die deutsche Denkrichtung bezeichnende Deutung durch Kant und Herder. Hegel habe sich hingegen in eine andere Richtung entwickelt. Er stellt wiederholt Rückbezüge her, z.B. von Herder über Leibniz nach Spinoza (162-70). Der Autor äußert sich auch zum Zusammenhang des Siebenjährigen Kriegs mit Charakteristika der deutschen Nationalkultur, die er in Beziehung zu Spinoza stellt (155/56, bzw. 159).
Er legt die Relativitäts- und Quantentheorie ausführlich dar, diskutiert ihre Auswirkungen und stellt sie in Beziehung zur damaligen historischen Situation und politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen (200-280). Richter sieht Einsteins und Plancks bahnbrechende Arbeiten hierbei in der Fortführung jahrhundertealter durchaus spezifisch deutscher Sichtweisen.
Gegen Schluss des Buchs thematisiert er die Arbeiten Darwins (313-355). Richter weist hierbei auf die wichtige und kaum bekannte Tatsache hin, dass die Rezeption Darwins in Russland, Frankreich und Deutschland von derjenigen in Großbritannien deutlich abwich. Er führt dies auf unterschiedliche Denktraditionen und die politisch-gesellschaftliche Situation zurück (331-39).
Zusammengefasst: Einerseits zeigt Richter die wechselseitige Einflussnahme von Modi, die Welt wahrzunehmen und zu deuten mit politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen auf. Dies ist zweifellos immer wieder höchst anregend. Andererseits ist sein Buch letztlich auch ein Appell, positiv-eigene Tendenzen der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte wahrzunehmen und zu würdigen. Richters Buch ist eine Einladung, die Kraft und die Wurzeln zu finden, um der Vernichtung der natürlichen Lebensbedingungen Einhalt zu gebieten. Hierbei werden die Leserinnen und Leser mit einem beeindruckend breiten kultur- und geistesgeschichtlichen Panorama bekannt gemacht. Der Duktus ist zwar komprimiert-inhaltsreich, zugleich aber anschaulich und illustriert.
Richters Ton ist hierbei engagiert, aber abwägend. Er bezieht Stellung, möchte unaufgeregt überzeugen, nicht missionieren. Sein Buch ist ungewöhnlich, aus der Zeit gefallen. Ebenso wie der Autor? Das Werk ist eine Fundgrube für Anregungen – oder auch für Fragen und Widerspruch.