Der entscheidende Passus des von Steffen Dietzsch und Gerd Theile herausgegebenen Briefwechsels findet sich auf Seite 29:
»Ich mache Ihnen, werte gnädige Frau, den Vorschlag, mir das alleinige Übertragungsrecht ins Englische der sämmtlichen Nietzscheschen Werke, auch der noch zu erscheinenden, ebenso wie der von Ihnen geschriebenen Einleitungen für dreitausend Mark zu überlassen. Sie überlassen damit mir gleichzeitig das Anrecht auf die bei Fisher-Unwin erschienenen Bände, deren rechtlichen Besitz ich ihm und Mr. L. Simons auf eigene Kosten zu bestreiten unternehme.«
Einige Seiten später folgt dann der Übersetzungs- und Verlagsvertrag. Der weitere Briefwechsel zwischen dem in England ansässigen Nietzsche-Herausgeber und ‑Verbreiter sowie der Herrin des Weimarer Nietzsche-Archivs ist Herausgeber-Smalltalk vor zeitgeschichtlicher Kulisse, zu der auch Nietzsches wachsender Ruhm und seine propagandistische Ausschlachtung im positiven wie negativen Sinn zunächst in der Kriegspublizistik des Ersten Weltkriegs, später von den ideologischen Prätendenten des europäischen Totalitarismus gerechnet werden muss. Die persönliche und weltanschauliche Konstellation wird im Nachwort der Herausgeber ausgiebig behandelt.
Wer einen intensiven Gedankenaustausch zwischen den beiden ebenso profilierten wie antagonistischen Briefpartnern erwartet, der wird enttäuscht. Der Ton ist auf Sachinteresse gestimmt und die Sache besteht in der Verbreitung und Vermarktung von Nietzsches Ideen, sprich: Werken. Einmal blitzt so etwas wie genuiner Nietzsche-Eifer bei Jünger Levy auf, wenn er über die britische Dämonisierung des Denkers zu Kriegszeiten zu bedenken gibt:
»Sie können vielleicht sich denken, welche(n) Spaß ihrem englischen Vertreter die ganze Sache machte, denn dieser hat maliziöserweise nichts lieber, als wenn sich die Gesellschaft von heute recht gründlich blossstellt: umso schneller nähern wir uns dann der Umwertung aller Werte.«
Dies geschieht in einem ausführlichen Brief (28. Dezember 1915, S. 171ff.), in dem Levy vorsichtig den Patriotismus der Schwester umschifft, um sie gegen die ›nationalen Derwische‹ zu vereinnahmen, immerhin mit dem Erfolg, dass das Band bis in die Nachkriegsjahre hinein stabil bleibt. Später trocknet der Kontakt aus und die Herausgeber füllen die Lücken mit Äußerungen der beiden übereinander aus anderen Korrespondenzen. Auch der Ton ändert sich und 1929 schreibt Levy einen Offenen Brief an Elisabeth Förster-Nietzsche, nachdem diese in einem Brief an den italienischen Botschafter in Berlin Mussolini zum Lateranvertrag vom Februar des gleichen Jahres gratuliert hat, der rechtlichen Fundierung des Vatikanstaats bis heute – offensichtlich hält Levy gerade diese Geste für unvereinbar mit der antichristlichen Lehre des großen Toten:
»Ich verstehe also die Sympathie, die Sie für Mussolini empfinden, aber diese einleuchtende Sympathie wurde gerade bei mir durch jenes Ereignis getrübt, zu dem sie ihm heute gratulieren: zu seiner Aussöhnung mit dem Papste.«
Und er fährt fort:
»Mussolini selber hat vor Jahren einst das wichtige Wort gesprochen: ›Die lateinische Kultur ist einst durch zwei Visionäre zugrunde gerichtet worden, die beide Hebräer waren: Jesus Christus und Karl Marx.‹ Ich für meine Person schätze den Mussolini, der dieses Wort gegen die beiden jüdischen Christen gesprochen, ich rücke ab von jenem, der jetzt einen Kompromiß mit einer Kirche schließt, die den einen dieser degenerierten Hebräer als Gott und König verehrt.« (11. Mai 1929, Seite 242)
Für einen heutigen Leser ist die schillernde Begrifflichkeit des Briefes kommentarbedürftig. Die ›degenerierten Hebräer‹gelten dem Verfasser, wie andere Schriften Levys bezeugen, in mehr als einem Sinn als religiöse Renegaten. Die Sympathie des Nietzsche-Herausgebers für Mussolini, bei heftigem Abscheu gegen Hitler und den Nationalsozialismus, ist, vorsichtig gesprochen, Nietzsche-grundiert. Man sollte seine Sätze mit der abwehrenden Reaktion der Angesprochenen, die sich ebenfalls auf das intellektuelle Erbe ihres Bruder beruft, vor allem aber mit den Ausführungen des Defensor Fidei (Levys Pseudonym seit 1933) zusammenlesen – und sich auf der Zunge zergehen lassen –, der nach ihrem Tod 1935 nicht ansteht, ihren »Instinkt für das Falsche und die Falschen« für die Nähe zum Nationalsozialismus verantwortlich zu machen:
»Man kann nicht behaupten, sie wäre immer mit dem schmutzigen Strome geschwommen, sie hat sich nur treiben lassen… Von Förster bis Hitler hat sich Elisabeth in allen Männern geirrt, mit denen sie in Berührung gekommen war. Den größten Irrtum hat sie gegen ihren Bruder begangen… Dank ihr existieren heute in Deutschland Nietzsche-bücher, die nationalsozialistisch adaptiert sind… So hat diese brave Gattin und gute Hausfrau viel Böses gestiftet, nur weil sie, à la Emma Bovary, über sich hinauswollte.« (Seite 269ff.)
Die Gesammelten Schriften und Briefe Oscar Levys sind um einen editions- und zeitgeschichtlich bedeutsamen Band reicher geworden. Man wünscht ihm die Leserschaft, die er verdient.
von Jobst Landgrebe
Das Interesse an den drei großen dystopischen Romanen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wir von Jewgeni Samjatin (1920), Schöne neue Welt von Aldous Huxley (1932) und Neunzehnhundertvierundachtzig (i.F. 1984) von George Orwell (1948) war immer lebhaft. Das wichtigste Motiv dafür war zunächst die Auseinandersetzung mit dem Zeitalter des Totalitarismus, und später, im Jahre 1984, gab es wegen des Titels von Orwells Buch noch einmal ein lebhaftes Interesse daran. Ich las es damals als vierzehnjähriger mit großem Erschaudern und wenig Verständnis ebenfalls. Doch für mich und sicherlich auch die meisten meiner damaligen reiferen Zeitgenossen war es wie der Blick in eine Dystopie der Vergangenheit, die sich im Westen nicht eingestellt hatte und die nach dem Tod Stalins noch nicht einmal im Ostblock wieder erreicht worden war.
von Ulrich Siebgeber
1. Die einfachste Weise, Brecht zu verwechseln, besteht darin, seine Stücke auf die Bühne zu bringen. Nicht, dass sie nicht auf die Bühne gehörten, aber diese Bühne ist längst vergangen und war ohnehin nicht mehr als ein Zipfel der großen Weltbühne, die sich seither gründlich gewandelt hat. Trotzdem werden immerfort die alten Stücke gegeben, Stück für Stück, ohne dass man irgendwo den Groschen fallen hörte. Auch der Nachwuchs nimmt sich ihrer gelegentlich an, wie gerade wieder vom Berliner Ensemble demonstriert.
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