Editorial
Die Finanzkrise von 2008/09 könnte eine Epochenscheide markieren. Etwa gleichzeitig mit dem Gewahr-Werden der Gefährdung der natürlichen Umwelt war, beginnend in den 1970er Jahren, der sozialstaatlich regulierte Nachkriegskapitalismus, der in der nördlichen Hemisphäre von einer historisch einmaligen Anhebung des materiellen Lebensstandards auch der breiten Volksschichten begleitet gewesen war, von einem neuen Typ der Entwicklung des Kapitalismus abgelöst worden, der meist als »neoliberal« bezeichnet wird. Zu seinen Grundprozessen gehörten die Anwendung von High-Tech-Informations- und Kommunikationstechnologien, die »verstärkte Globalisierung« und die Dominanz der Finanzmärkte, verbunden mit der politischen Hegemonie der USA. Im neoliberalen Kapitalismus hat die Kommerzialisierung sämtlicher Lebensbereiche einschließlich der Wissenschaft und die Tendenz zur Atomisierung der Individuen eine neue Stufe erreicht. Währenddessen bleibt die Tatsache des totalen Scheiterns des »real existierenden Sozialismus« bestehen, der sich nicht als tragfähige humane Alternative erwiesen hat und schließlich in einer Kombination von Systemzusammenbruch und Massenerhebung untergegangen ist. Das Ende des kommunistischen Etatismus und die jüngste internationale Finanz- und Wirtschaftskrise, die die marktradikalen Heilslehren desavouiert hat, sollten zusammen Anlass sein, die politische sowie – im weitesten Sinne – gesellschafts- und kulturwissenschaftliche Debatte zu öffnen, die besonders in Deutschland auf irrationale Weise eingegrenzt erscheint. So wenig wie eine (auch grundsätzliche) Kapitalismuskritik verfassungs- bzw. freiheitsfeindlich ist, so wenig ist jede positive Bezugnahme auf Volk und Nation per se undemokratisch bzw. völkisch-nationalistisch zu nennen. Fragen sollten wieder Fragen sein dürfen. Versuche, Antworten zu finden, haben das Recht auf sachliche Auseinandersetzung. Mit TINA (There Is No Alternative) muss Schluss gemacht werden!
Peter Brandt
Herausgeber
Berlin, im Dezember 2009
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