Digitale Bildungstour zwecks Begriffsklärung blutiger Unordnung
von Herbert Ammon
I.
Das Publikum von Globkult ist über des Autors Quellen politischer Bildung bereits hinlänglich im Bilde. Entsprechend dem Zug der Zeit bezieht er sein Bildungsgut vornehmlich aus den Internet-Medien, ganz oben das mit seinen e-mail-Kommunkationsbedürfnissen verquickte Yahoo!.
Ungeachtet aller – von Regierung und Oppositon nunmehr einvernehmlich behobenen – Bedenken gegenüber dem durch Edward Snowden ins Gerede gekommene Unternehmen (Stammsitz in Sunnyvale, Cal.) hält der citoyen – umständehalber kaum mehr denn ein citoyen passif –, das Nachrichtenportal von Yahoo! für seinen täglichen Bedarf an news für unentbehrlich.
Yahoo! International informiert heute, 16.08.2013, 18.30 h MEZ in von links nach rechts (>) und rechts nach links (<) unendlich abrufbarer Bilderleiste: »Woman stabbed by ex finds love«; rechts daneben: »Wealthiest self-made woman dead«. Kaum Zeit für stille Trauer im global village, da blitzt schon die nächste Schreckensnachricht auf: »›Day of rage‹ begins in Egypt«. Weiter nach rechts, lockt die US-kulinarische Antwort auf den gründeutschen Veggie Day: »Best-tasting sausage brands«.
II.
Beim Anblick der Bratwürste – miesester Voyeurismus! – klickt der citoyen unverzüglich zurück auf Yahoo! Deutschland, in Erwartung der gewohnten, spätpubertär kommentierten und stets teilentblößten Porträts von meist unbekannten Schönen. Stattdessen: Eine schwarzhaarige Frau in ganzärmlig weiß-blau-rotem Trikot in Siegerpose mit aufgerissenem Mund, darunter in Arial Blue der Kommentar von Yahoo!: »Solche Worte machen fassungslos. Die Stabhochsprung-Weltmeisterin Jelena Issinbajewa sorgt bei der WM mit dieser unfassbaren Aussage für einen Eklat.« Mit welcher Aussage? Yahoo! reportiert, fassungslos: »›Wir verstehen uns als traditionelles Volk‹, sagte Issinbajewa am Rande der Leichtahletik-WM in Moskau, wo sie ihren dritten WM-Titel gewonnen hatte. ›Männer sollten Frauen lieben und umgekehrt. Dies ergibt sich aus der Geschichte. Ich hoffe, dass dieses Problem nicht die Olympischen Winterspiele in Sotschi belastet‹...« Je nun, alles Schlimme – die zarische Despotie, dann der Bolschewismus, der Ribbentrop-Molotov-Pakt, jetzt die Homophobie – alles Böse kommt seit jeher aus Russland. Gegenüber reaktionär eingewurzelter vorpetrinischer Rückständigkeit verteidigt Yahoo! westliche Werte. Immerhin, detailliertere Geschichtskenntnisse wären der Dame Issinbajewa (womöglich noch aus der Kaukasus-Region!?) zu empfehlen, ähnlich wie post-Deutschen Christen unter den gründeutschen Protestanten gewisse Grundkenntnisse der Heiligen Schrift. Was würde Jesus dazu sagen?
Noch ein kurzer Blick nach rechts oben, dort die »Trends des Tages«: 1. Ägypten-Urlaub 2. Hamburger SV 3. Tag des Zorns 4. Prinz George 5. Fitnessgeräte 6. Last Minute 7. Hitzewellen 8. Küchenmöbel 9. Delikatesse 10. Hai-Attacke
Auf der news page unten fühlt sich der Yahoo!-Bürger in seinem Gewissen – green wie der Strom auf der 25er-BahnCard der Deutsche Bahn AG, zugleich besorgt bezüglich der Altersvorsorge – unmittelbar angesprochen: »Mit Solaranlagen Geld verdienen!«
III.
Noch im Zweifel, ob er sich mit seinen dank EZB-Niedrigzinspolitik, biodynamischer EEG-Energie- und steigender Kartoffel- sowie Sojapreise dahin schmelzenden Spargroschen an der Rettung von Solar Valley Bitterfeld beteiligen soll oder nicht, setzt der citoyen seine politische Bildungstour bei Spiegel-online fort. In Kairo sieht´s schlimm aus, das war zu erwarten. Ein weiß gewandeter Mann durchquert ein abgebranntes Trümmerfeld. In der Überschrift und in der Einleitung des Berichts der Korrespondentin Ulrike Putz kommt´s noch schlimmer: »Propaganda gegen Muslimbrüder: Ägyptens liberale Elite rückt nach rechts«. Darunter: »Die Stimmung in Ägypten verändert sich dramatisch. Selbst Menschenrechtsanwälte und Oppositionelle verbreiten Hassparolen, manche sehen die Muslimbrüder gar als ›Krankheit‹. Die einst liberale Elite am Nil radikalisiert sich.«
Dass sich im blutigen Machtkampf zwischen den Muslimbrüdern und der Armee die säkularen Kräfte (»die liberale Elite«), die jungen Aktivisten des ägyptischen Frühlings, nicht zuletzt die Kopten, auf der Seite der Militärs wiederfinden würden, war vorhersehbar. Denn dass sie vom Regime der Muslimbrüder nichts Gutes zu erwarten hatten, wussten sie bereits vor den Wahlen, spätestens nach der vom gewählten Präsidenten Mursi durchgesetzten Schariah-Verfassung. Als nach dem Militärputsch die Muslimbrüder ihre »Massen« mobilisierten, die Auseinandersetzungen sich zuspitzten und zuletzt in das Blutbad in Nasser City mündeten, blieb den Säkularen kaum eine andere Wahl. Sie entschieden sich für das kleinere Übel, was immer sich daraus noch ergeben mag.
Den Positionswechsel – von der Ablehnung des alten Militärregimes unter Mubarak zur Hinwendung zum neuen Militärregime unter dem starken Mann Sisi – deutet die Korrespondentin (oder die Spiegel-online-Redaktion) als »Ruck nach rechts«. Der Leser greift sich an den Kopf. Was besagt das hierzulande als für alles Böse gebräuchliche Schibboleth zur Definition eines mit ›westlichen‹ Begriffen nicht fassbaren gewaltsamen Zustandes?
Wenn die im »arabischen Frühling« erblühten Hoffnungen längst verdorrt, die Rebellionen in Ägypten – nicht anders als in Syrien, auch in Tunesien oder Libyen – in Blut und Schrecken mündeten, so hat dies mit einer Bewegung von ›links‹ nach ›rechts‹ nicht das geringste zu tun, selbst dann nicht, wenn man den Begriffen Zwang antut. Im weitesten Sinne wäre noch Säkularismus jeglicher Art mit ›links‹ zu assoziieren, stünde dem historisch nicht der säkulare Nationalismus eines Nasser – in Ägypten lässt sich Sisi bereits als Nachfolger Nassers titulieren – oder der einstigen Baathisten im Irak und Syrien entgegen. Der 2011 vertriebene tunesischer Machthaber Ben Ali gehörte mit seiner Parteitruppe zur »Sozialistischen Internationale«, wäre demnach ›links‹ gewesen. Was die vom ›rechten‹ – im Westen noch immer als ›demokratischer‹ EU-Kandidat gehätschelten – Erdogan gestürzten säkularen Kemalisten in der Türkei betrifft, so handelt es sich nichtsdestoweniger um Protagonisten eines türkischen Nationalismus. Waren/sind die Kemalisten, war ein Bülent Ecevit – er okkupierte anno 1974 Nord-Zypern –, ist die CHP nicht zugleich so ›rechts‹ wie ›links‹?
Wo sind begrifflich die Saudis hinzustecken, die mit den ägyptischen Muslimbrüdern überkreuz sind, die ehedem die Mujaheddin in Afghanistan gegen die gottlosen Sowjets ausstatteten, danach die »Afghanen« zur Unterstützung des vermeintlich ›westlichen‹ Freiheitskämpfers Izetbegovic auf den Balkan schickten, die in Syrien von Anbeginn die sunnitischen Aufständischen – mutmaßlich mit Ausnahme der auch ihnen gefährlichen Djihadisten – unterstützt haben, die den Moscheenbau und den Vormarsch der Fundamentalisten in der Türkei, die Ausdehnung des Islam in ganz Europa vorantreiben? Wo sortieren wir den Emir von Qatar ein, der wiederum – aus welchen Gründen immer – die Muslimbrüder unterstützt? Wie halten wir´s mit dem Aufbegehren der schiitischen Mehrheit auf Bahrein? Allesamt Islam-Faschisten, gemäß der Apperzeption eines Francis Fukayama? Last but not least: Haben wir´s hierzulande in den »Kulturvereinen« von Milli Görüs etwa mit ›linken‹ Vorkämpfern einer multikulturellen, ›pluralistischen‹, postchristlichen Zivilgesellschaft zu tun? Existiert in Deutschland noch ein intellektuelles Klima, das geeignet ist, über schwierige historisch-kulturelle und akute politische Fragen eine unbefangene, rationale Debatte zu führen, frei von Begriffsschablonen ?
IV.
Die Spiegel-Überschrift kommt nicht von ungefähr. Anstelle tiefgreifender Analyse der komplexen Ursachen und nüchterner Beschreibung der blutigen Konflikte in Ägypten, Syrien, Irak und anderswo behilft man sich mit einem simplen Koordinatensystem. Es kann offen bleiben, ob aus Naivität, aus gedanklicher Hilflosigkeit oder geistiger Bequemlichkeit. Mit dem Werturteil ›rechts‹ wird eine am Nil in die Defensive gedrängte Bewegung eingeordnet (und begrifflich diskreditiert), die das genaue Gegenteil dessen repräsentiert, was hierzulande als ›rechts‹ verdammt wird: Es ist der gemäßigte, säkulare, auf individuelle Rechte zielende, Minderheiten respektierende Teil des ägyptischen Volkes, der von den radikalisierten »Massen« unter Führung der integristischen, antimodernistischen – und antiwestlichen – Muslimbrüder überwältigt zu werden droht.
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