Ulrich Siebgeber - ©LG
Ulrich Siebgeber
Vergessen hilft. Aber nicht wirklich.
 

 

Siebgebers Kolumne entstand in den späten Jahren der Merkel-Herrschaft, die geprägt wurden durch ein Klima des politischen Konformismus und der Zuspitzung gesellschaftlicher Differenzen nach dem Motto Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich und muss aus der öffentlichen Debatte entfernt, zumindest unsanft an den Rand gedrängt werden. Gleichzeitig wurden politische Entscheidungen getroffen, deren Brisanz für jeden Einsichtigen offenlag und deren verheerende Auswirkungen das Land gegenwärtig nach und nach zu spüren beginnt.
Siebgebers Aufzeichnungen enden am 8. Mai 2020. Zusammengefasst und nach Themen geordnet lassen sie sich nachlesen in dem Buch Macht ohne Souverän. Die Demontage des Bürgers im Gesinnungsstaat, das 2019 erschien und nebenher das Pseudonym, besser, die literarische Maske des Autors aufdeckte. Im Land der Masken wirkt dergleichen Mummenschanz ohnehin wie aus der Zeit gefallen. Was nicht gegen ihn sprechen sollte.
Ulrich Schödlbauer

von Ulrich Siebgeber

Tschipek ist jeder (mehr oder weniger).

1.

Der Taschenspieler Tschipek, der später viel als Philosoph arbeitete (nicht zu verwechseln mit dem taschenspielernden Philosophen Žižek), hat als Junge zuviel Ljubljanicawasser geschluckt; das führte dazu, dass er für alle Probleme, die man ihm vorlegt, eine brachiale Lösung zu besitzen behauptet: »Der Klassenkampf«, pflegt er auszuführen, »ist der Schlüssel zu einer Sache, die weder Tür noch Schloss besitzt.« Die wahre Natur der Besitzergreifung sei daher der Einbruch. »Ich persönlich bevorzuge die direkte Aktion, aber nicht vor Einbruch der Dunkelheit. Das erleichtert das Weglaufen.« In Erwartung der Nacht, in der alle Katzen grausam sind, schrieb er ein paar Bücher, die seinen Namen um die Welt trugen, teils, weil sie Kopfschütteln erzeugten, teils, weil er ihnen auf dem Fuße folgte. »Was nützt ein Ruf, wenn nach Abzug der Spesen nichts bleibt? Wenn ich als persona non grata meine Einkünfte verdoppeln kann, dann vervierfache ich sie als persona non grata grata und verzehnfache sie als persona non grata gratissima. Das heißt den Kapitalismus mit seinen eigenen Waffen schlagen. Nun denn: ich bin der letzte freie Kommunist der westlichen Hemisphäre, der östlichen sowieso. Und jetzt kommt her, Erniedrigte und Beleidigte, damit ich euch einen Aufwärtshaken verpassen kann.«

2.

Tschipek, der weiß, dass Kleineleutephilosophie niemanden auf der Welt zu fürchten hat als die kleinen Leute, hat ein ausgeklügeltes System geschaffen, das es ihm erlaubt, sie berührungsfrei vor den Kopf zu stoßen. Das Mittel dazu ist die Psychoanalyse oder das, was in seinen mächtigen Pranken von ihr übrigbleibt: eine Reihe von Knetkugeln, vor denen instinktiv jeder zurückweicht, der noch zur Arbeit muss und sich vorher nicht mehr umziehen kann. Das eigentliche Instrument seines Philosophierens aber ist die Zwille, in die er einmal die eine, einmal die andere Knetkugel einlegt, während er sich rasch um die eigene Achse dreht und auf jeden zielt, der sich gerade zu einer Sache geäußert hat und jetzt auf Einwände wartet; es kommen aber keine. Tschipek hat es sich zur Regel gemacht, niemals auf seine Gesprächspartner einzugehen, weil er den westlichen Diskurs für Geschwätz hält, den östlichen übrigens auch. Tschipek überantwortet. Die Frage ›Wen wem?‹ hat ihn sein Leben lang beschäftigt und diese Beschäftigung hält an. Einmal hat ihn die Frage, ob er Gedankenpolizei befürworte, zu einer dialektischen Antwort verführt. Seither würde er sie gern wieder los – sein Pech, denn sie hat Geschmack an ihm gefunden. Leider kann er sich nicht mehr an sie erinnern.

3.

Wenn Tschipek die Zeitung liest, hält die Welt den Atem an und verzichtet auf Sport: die einzige Sparte, in der er niemals brilliert. Seit er einen Redakteur mit dem Ruf »Ich will keine Abzeichen, ich will Anzeichen« überraschte, wartet die Welt bei ihm auf erste Anzeichen von Schwäche. Sie teilt sich die Zeit mit der Zeit, die heimlich von der taz zukauft, nachdem sie beschlossen hat, dem New Yorker den Vortritt zu lassen, wenn es soweit ist. Einer wie Tschipek hat mächtige Gönner und man kann nie wissen, woran man ist. Woran sollte man schon sein? Tschipek ist Tschipek, wer ihn von hinten sah, kennt ihn von vorn. Nur durch und durch kennt ihn niemand, er auch nicht, und damit hat es auch sein Bewenden. »Wenn Sie wissen, was Sie von mir zu halten haben, wollen Sie es dann noch?« So eine Frage ist nicht von der Hand zu weisen. Man hat Tschipek gesehen, wie er Redaktionsräume verließ, in denen noch stundenlang das Aufräumkommando wütete. Denn: Wut ist sein Markenzeichen. »Die Wut der anderen«, räumt er lachend ein, »ist gerade die Woge, die mich trägt. Wie sollte ich ihr gram sein? Fassungslosigkeit ist mein Lebenselixier, am liebsten würde ich meine Brille fassungslos tragen, aber das geht nicht, denn wie der Rosenmund sagt: Die Brille ist der Mann. Wenn einer im Raum die Fassung behält, dann bin ich das.«

4.

Tschipek kommt stets von Hölzchen auf Stöckchen, weil er weiß, dass dort, wo alles mit allem zusammenhängt, alles auseinanderfällt. »Warum soll meine Rede konsistenter sein als die Wirklichkeit? Das wäre ein Fehler.« Die Wirklichkeit erlaubt ihm, immer wieder auf den Punkt zu kommen. »Die Wirklichkeit ist der Klassenkampf, alles andere tut nur so. Nichts ist wirklicher als das, was wirklich vorgeht. Erst wenn wir das festhalten, wissen wir wirklich Bescheid. Glaubt mir, Freunde: Für den, der nicht Bescheid weiß, ist alles wirklich. Das ist absurd.« Mancher schloss daraus, Tschipek wisse, wo es langgeht. »Ich weiß nichts. Ich existiere gar nicht, es sei denn als Mittelfigur und jede Mitte ist falsch. Lebe dein Extrem. Ich kann das sagen, denn es kann mich mal. Mein Extrem ist dein Extrem. In Wahrheit ist es niemandes Extrem und das ist der Kommunismus.« Dann lächeln die Wissenden und die Unwissenden schweigen, denn sie wissen: Es hat keinen Zweck. Das ist es, was Tschipek zu vermitteln versucht. »Ein Mittel, das einem Zweck dient, übt schon Verrat. Ich bin das Mittel, das nichts verrät.« Natürlich ist das nicht die ganze Wahrheit, auch nicht die halbe, es ist die ausbuchstabierte Wahrheit, soll heißen das Ergebnis einer Lektüre, die in Wahrheit, das heißt angesichts der Zeitung, nichts anderes ist als Hader: Zeige mir ein bedrucktes Stück Papier und ich zeige dir, was darin schief läuft. Über das bedruckte Papier ist Tschipek nicht hinausgekommen. Er war sehr beruhigt, als er erfuhr, was im Netz alles schief läuft. Seither kennt er sich wieder aus.

5.

Der russische Roman, aus dem Tschipek kommt, heißt Wir, und Tschipek kommt darin nicht vor, weil er sich rechtzeitig aus dem Staub gemacht hat. Das heißt, wenn er Wir sagt, dann meint er ›Ich plus…‹, so wie die LGBTQ-Leute einfach ein Plus an ihre Chiffre hängen, wenn sie es leid sind, so genau zu sein, wie sie es von ihren Mitmenschen verlangen. Eigentlich weiß man nicht, was Tschipek meint, wenn er Wir sagt oder schreibt, und der Verdacht steht im Raum, dass er es selbst nicht weiß. Es ist auch kein Verdacht, sondern eine Gewissheit, die nur darunter leidet, dass Tschipek immer weiß, was er sagt. Wie das? Nun, die analytische Schule, von der Tschipek herkommt wie ein anderer vom Frühstück, sieht in der misslingenden Unterwerfung unter den Anderen den wahren Ursprung des Ich, das daher nichts weiter ist als ein falscher Fuffziger, wie man damals sagte, als die Seelenklempnerei noch zum Gesellschaftsspiel taugte. Folglich ist Tschipeks Wir bloß der fortgesetzte Versuch, den falschen Fuffziger in einen echten zu tauschen … aber unauffällig, so dass nichts auffliegt. Wenn das Ich, eingezwängt zwischen dem kleinen a der Begierde und dem großen A wie Autorität, das manche als A*** buchstabieren, zu nicht mehr als einem Aha taugt, dann taugt das ewige Wir dazu, aus möglichen Gegnern Proselyten zu machen, bevor der Schwindel auffliegt und der Kredit erlischt. Denn Tschipeks Weltruhm ist, wie der Kapitalismus, auf galoppierende Kredite gebaut und gleicht einem Hütchenspiel, bei dem Tschipek auch das Aufdecken mitbesorgt, damit alles schneller geht.

6.

Sein Gefährte Le Moi-le-double hat ihm den Tipp gegeben, ein Buch über die Hoffnungslosigkeit zu schreiben und damit all denen, für die eine Tschipek-Lektüre ein hoffnungsloses Unterfangen darstellt, ein Licht aufzustecken: Erst wenn die Hoffnung erloschen ist, wird es Licht. Das erinnert an den Witz, in dem drei Bauern den Mond vom Himmel holen, weil sie finden, dass sein Licht dem Nachbarn nicht zusteht. Sie kriegen aber kein Auge mehr zu und einer sagt endlich, was Sache ist: Besser fest geschlafen als wach geträumt. Tschipek hat sich, wie billig, nicht lange bitten lassen und den Hoffnungslosen zur Hoffnung verholfen, der Schlaf der Vernunft möge in baldiger Zukunft zurückkehren und den Alb namens Tschipek von ihren Häuptern verscheuchen. »Der Kommunismus des 20. Jahrhunderts«, so schreibt er, »lehrt uns, dass wir die Kraft aufbringen müssen, die Hoffnungslosigkeit vollständig anzunehmen.« Es ist dies eine Lehre, die darin besteht, dass sich voll und ganz auf die Verhältnisse einlassen muss, wer sich mit dem Kommunismus des 20. Jahrhunderts beschäftigt und dennoch den Mut nicht sinken lassen will. Natürlich steht dahinter Tschipek und lacht sich ins Fäustchen. Wer aber glaubt, ihn an dieser Stelle packen zu können, der zielt zu kurz. Als guter Analytiker streicht Tschipek die Hoffnung gleich wieder durch, um sie durch den Trost zu ersetzen: Nur wer nicht ganz bei Trost ist, buchstabiert die große Pleite als Weg, der direkt in den Kommunismus des 21. Jahrhunderts führt. »Nordkorea kommt Shangri-la heutzutage am nächsten – in welchem Sinn?« Nun denn, in jedem. Eine trostlose Theorie ist für einen, der nicht bei Trost ist, das Tröstlichste auf der Welt. So oder ähnlich muss Tschipek beim Schreiben gedacht haben – und seine Freunde in aller Welt geben ihm recht.

7.

Tschipek wäre nicht Tschipek, wäre er nicht auch der Spatz, der von den Dächern pfeift, wie man’s macht, wenn man Tschipek heißt und nichts zu verlieren hat außer vielleicht dem Ruf, nichts zu verlieren zu haben (es sei denn den Ruf, berechenbar unberechenbar zu sein). Treibe die Unberechenbarkeit auf den Punkt, an dem sie als Wiederholungszwang auftritt, um ultimativ zu wirken! »Das darf doch nicht wahr sein!« entfährt es dem Leser und mit Kennergeste setzt Tschipek hinzu: Gerade deshalb ist es wahr. Das verwirrt den Leser, weil sein Ausruf keiner Sache galt, sondern Tschipeks verzweifeltem Manöver, sie von sich fernzuhalten. ›Vielleicht ist ja doch etwas dran‹, denkt er resigniert und um seinen Geisteszustand besorgt, und Tschipek setzt hinzu: »Was soll schon dran sein, du Analphabet! Du bist dran.« Denn Tschipeks Leser ist stets das Salz in der Suppe, sein Jüngstes Gericht, nachdem die älteren aufgebraucht sind und der Verdacht aufscheint, dass sich’s nach Tisch wieder anders lesen wird. Tschipeks Welt ist ein Kartenhaus. Fällt es zusammen, steht er lachend auf und sagt: »Siehst du!« Er verlangt aber vom Leser, dass er sitzen bleibt und es weiter versucht: »Du wirst es schaffen! Klar schaffst du es! Bleib dran, damit du es schaffst!« Das schafft den Leser.

8.

Als der Kapitalismus noch Zwiesprache mit den Menschen hielt, kam er einmal zu Tschipek und unterbreitete ihm ein Angebot. Worin dieses bestand, weiß niemand, aber es muss umfassend gewesen sein. Seither weiß Tschipek alles, sofern es den Kapitalismus berührt, folglich alles. Mit diesem supranaturalen Zustand ist nicht immer gut Kirschen essen, weshalb Tschipek den Kapitalismus auch gern als Hölle beschreibt. Gerade in solchen Momenten ist er ganz er selbst und ganz außer sich. »Geht’s euch gut? Geht’s euch gut?« fragt er die Leser, »Das ist die Hölle.« Da der Kapitalismus, wie Tschipek weiß, jedem irgendwann ein Angebot macht, wundert es ihn nicht, wenn andere dagegenhalten. Darunter Neunmalkluge, die, gestützt auf Statistiken, vorgeben, in der besten aller bisherigen Welten zu leben: »Globale Krise? Welche Krise? Die Menschheit stürmt voran. Also hinterher!« Tschipek widerspricht ihnen nicht, er findet nur, sie hätten sich teurer verkaufen sollen: »Mit vielen Einschränkungen kann man grob die Daten akzeptieren, auf die sich diese ›Rationalisten‹ beziehen.« Man sieht, er kann schmallippig sein. Er ist schon ein Genie. Warum, das erfährt man gleich hinterher: »In der Tat leben wir heute eindeutig besser als unsere Vorfahren vor 10 000 Jahren, und selbst ein durchschnittlicher Häftling in Dachau (dem Nazi-Arbeitslager, nicht Auschwitz, dem Todeslager) lebte wenigstens etwas besser als wahrscheinlich ein Sklave der Mongolen.« Das werden sich die 41 500 Toten des KZ Dachau auch gedacht haben (von denen, die nach Auschwitz weiterdeportiert wurden, einmal abgesehen), ›wir‹ wissen nicht, welche Formen des ökonomischen Realismus sich im Zeichen der Vernichtung durch Arbeit entwickeln, selbst ein Tschipek hält sich da zurück, aber nur mühsam. Seine wahre Hölle hingegen ist der Schreibtisch.

9.

Was verbindet die Erschossenen, Gehenkten, zu Tode Geprügelten, die Verhungerten, Gefolterten, Vergewaltigten, Entwürdigten, Versklavten, Dekapitierten, Dehumanisierten außerhalb der Regionen dieser Erde, über die Stalin und Mao ihre schirmende Riesenfaust hielten, mit den Reichen, den Satten, den Zufriedenen, den Konsumidioten, den Korrespondenten und Kritikern in ihren akklimatisierten Büros? Richtig: der Kapitalismus. Der Kapitalismus, findet Tschipek, ist der große Gleichmacher auf Erden. Wer glaubt, es könnte einen guten und einen bösen Kapitalismus geben, der liegt radikal schief –: der böse, kapiert es endlich, ist nichts als die Kehrseite des guten, seine dunkle Unterseite. Als Postkartenmotiv macht sich das nicht schlecht. Dabei weiß Tschipek, dass mit solchen Fabeleien kein Blumentopf zu gewinnen ist. Ihre Zahl ist Legion und jeder Sozialarbeiter war bereits weiter. Im Grunde findet Tschipek, es sei besser, den Kapitalismus für sich sprechen zu lassen. Das meint natürlich, dass er, Tschipek, als Sprachrohr mit gutem Beispiel vorangeht und dekretiert: Gesundheit im Kapitalismus ist Scheingesundheit.

10.

Tschipek hat ein loses Mundwerk, doch er will nicht, dass ein Handwerker kommt und es festschraubt. Das heißt, er scheut die Ausgabe, weil in der Krise, wie er sagt – er denkt dabei natürlich an die von 2008ff. –, sich der Wert nicht im Produkt, sondern im Geld konzentriert. »Bedeutet das nicht, dass sich der Fetischismus in diesem Moment, anstatt sich aufzulösen, in seinem direkten Wahn durchsetzt?« Irgendwie schon, denkt Tschipek, das lose Reden erzeugt eine Abwärtsspirale, aus der zu entkommen schwierig, wenn nicht unmöglich erscheint, denkt man an Griechenland oder an Zypern, um nur zwei Länder zu nennen, die er leidlich zu kennen glaubt. Aber wenn der direkte Wahn sich durchsetzt, so ist das dem Kapitalismus gesetzmäßig inhärent und deshalb zwingend. Also erscheint Tschipek alles, was er gerade erzählt, gesetzmäßig inhärent und zwingend. Er selbst muss sich nicht zwingen, er steht unter Kontrakt und der Kapitalismus erledigt die Sache im Handumdrehen. Aus dieser Sicht erscheint ihm der Kapitalismus als Witz, aber als einer, der, wie er selbst, alles ernst meint. Da wir schon bei der Finanzkrise sind, meint Tschipek, sollten wir auch den Stier bei den Hörnern packen, um uns theoretisch selbst umzurennen. Finanzkrisen sind ein Fall für das Wir, ganz klar, denn jeder hat Schulden und kein Schwein kennt sich damit aus. Frage: wer ist schuld? Richtig: der Kapitalismus. Was folgert Tschipek messerscharf? »Tatsache: dass etwas faul ist mit einem System, in dem unkontrollierte Bankgeschäfte den Bankrott eines ganzen Landes verursachen können.« Wäre es da nicht besser, kontrollierte Bankgeschäfte würden Tschipeks Bankrott oder den eines ganzen Landes verursachen? Im Prinzip schon, aber es müsste auch einer da sein, der kontrolliert. Woher nehmen, wenn das ganze System korrupt ist? Die Demonstration, dass mit einem korrupten System etwas faul ist, gehört zu den Glanznummern Tschipekscher Dialektik. Doch da sein ganzer Systembegriff faul ist, das heißt, sich niemals bewegt, entgeht ihm dessen eigener Witz, das heißt, sein Korruptsein. Nie würde sich Tschipek der Frage stellen, wie zum Beispiel das Geldsystem funktioniert oder wer in Griechenland ökonomisch die Strippen zieht oder was Zyperns Bankensystem mit der Auflösung des staatssozialistischen Ostens zu tun hat. Sobald er vom ›System‹ redet, ist immer alles irgendwie inbegriffen und geht mit allem einher wie ein misstrauischer Obdachloser, auf den der lateinische Merksatz zutrifft: Omnia mea mecum porto. »Welches Porto?« könnte Tschipek fragen, »Ich kenne nur Portwein.«

11.

Als Tschipek einmal originell sein wollte, erfand er, wie Brunelleschi, die Kuppel. Das heißt, er erfand sie nicht wirklich, sondern entlehnte sie einem guten Kollegen, der nie um ein Bild verlegen ist, wenn es darum geht, einen Gedanken zu applizieren, den schon andere hatten, ohne dass es auffällt. Der gute Kollege hatte den Einfall, die Globalisierung als eine Art Treibhaus für ein Viertel der Menschheit zu beschreiben, als einen künstlichen Weltinnenraum mit unsichtbaren, aber von außen praktisch unüberwindlichen Grenzen. Der Kollege wollte damit sagen, unter der Kuppel könnten keine ›richtigen‹ historischen Ereignisse (wie zum Beispiel Revolutionen) mehr eintreten, vergaß aber in seiner gewohnten, etwas zerstreuten Eile, die Zerbrechlichkeit solcher Glaskonstruktionen zu erwähnen. Tschipek hingegen – ach Tschipek! – erkannte sogleich mit geübtem dialektischem Blick die alte Zweiteilung der Welt und nahm sich ihrer in gewohnt burschikoser Weise an. Wo Rauch ist, da ist auch Feuer, wo Klassen sind, da herrscht Klassenkampf. Wenn aber die Ausgeschlossenen die neue Klasse bilden, das neue emanzipatorische Subjektsubstrat der Geschichte, dann tschüss, ihr nie wirklich funktionierender Ersatz für die abgehalfterte Arbeiterklasse – FeministInnen, Schwule, Lesben, Gastarbeiter, Farbige, Abgehängte. Objektiv reaktionär, wie ihr unausweichlich von jetzt an seid, habt ihr keine andere Chance, der ziellosen Idiotie des Privatlebens zu entkommen als die, euren Kampf mit dem der vom globalen Kapitalismus wahrhaft Exkludierten zu verbinden. Was wird den Exkludierten verweigert? Inklusion. Was verlangen die Exkludierten? Inklusion. Was ist Kapitalismus? Inklusion durch Exklusion. Wie zerbricht man Exklusion? Man zerbricht Grenzen.

12.

An dieser Stelle muss Tschipek den Kopf aus dem Sand gezogen und nachgedacht haben. Jedenfalls redet er seither mit gespaltener Zunge. Im Grunde seines Herzens kann er sich nicht entscheiden, ob er das Elend der Ungleichheit dem Elend der Gleichheit vorzieht oder umgekehrt. Sobald er den einen Elendszug passieren lässt, setzt er auch den anderen in Bewegung, offenbar in der Hoffnung, an ihrem Kreuzungspunkt müsse zweckmäßigerweise eine Art Himmelfahrt stattfinden. Jedenfalls lässt er sich nie an ihm blicken, er zeigt nur flüchtig in seine Richtung. Das Schicksal der radikalen Gleichheit trifft die Kuppelbewohner als Schock. Zwar gleichen sie als Warenfetischisten ihren Bessergestellten schon immer wie ein Krokant-Ei dem anderen, doch gerade der consumismo verrät die Ungleichen. Gleicher ist, wer mehr konsumiert. Wenn aber die radikal Ungleichen die Hölle stürmen, dann ist sie wirklich das Paradies, als das sie den Ausgeschlossenen fälschlich erscheint, allerdings nur für den kurzen historischen Moment, bevor es unter dem Ansturm der Ausgeschlossenen zerbirst. Es kommt aber darauf an, die Hölle zu verteidigen, mit allen Finten und Finessen des Diamat, der jetzt als Galimathias firmiert, um nicht aufzufallen, da es allenthalben heißt, er sei tot. Wie Tschipek das macht, ist schon lesenswert. »Bleibt, wo der Pfeffer wächst, und revolutioniert euch redlich«, steckt er den Wanderlustigen, die irgendwann entdeckt haben, dass die Kuppel nur eine Zirkuskuppel ist und untenherum voller Löcher, »im übrigen: Seid willkommen!« Er könnte auch schreiben: »Wir lieben euch doch alle: gebongt«, aber dann käme er sich schäbig vor wie die Vorsichtigen, die schon länger so reden und die er verachtet, wenngleich nicht wirklich. Ein bisschen Schäbigkeit muss halt sein, denkt er sich und tritt im Vorbeigehen nach dem Sack mit der Aufschrift ›Xenophobie‹: »Das Wimmern da drin ist ja nicht zum Aushalten.«

13.

Tschipek sieht, was im Fernen Osten geschieht, mit großen Augen. Wenn die Partei sich dem Kapital ergibt, dann ergibt sich das Kapital der Partei. Bei soviel Ergebung ergibt sich für Tschipek zwingend die neue Ideologie der Region: Glaubt, was ihr glaubt, aber glaubt es fest. Am Kapitalismus gibt’s nichts zu glauben. Wer fest glaubt, glaubt auch, er sei etwas Festes, zumindest will er ihn festhalten, ganz nach Gutdünken. Für Tschipek ist das objektiv falsch, aber ansonsten ganz richtig. Denn nur wenn es richtig ist, ist es reaktionär und kann bekämpft werden. Wenn zum Beispiel richtig ist, dass der Kapitalismus die Frauen (oder Schwulen etc.) unterdrückt – und es muss richtig sein, sonst wäre ihr ohnehin zwiespältiger Kampf für die Katz –, dann ist es richtig, dass die Tradition das auch tut: Wie kämen beide sonst zusammen? Wer also im Namen der Tradition, zum Beispiel der Indigenen, den Kapitalismus bekämpft, der findet in Tschipeks Wir seinen erbittertsten Feind. An sich ist das ein alter Hut und Tschipek setzt ihn nur auf, um zu beweisen, dass er noch passt. Er nimmt ihn auch gleich wieder ab, weil sein Zartgefühl generell schlimm findet, was alles da draußen passiert. Gerade das macht die Sache so hoffnungslos. Am liebsten wäre ihm allerdings, die Unangepassten aller Länder, die Ausgeworfenen, Ausgeflippten, Zurückgebliebenen, Abgedrifteten, die Sentimentalen, die Kokser, der ganze Rest, die Herrenreiter ohne Gestüt, aber mit Vergangenheit, die Kokainbauern, Hühnerzüchter, Brieftaubenhalter, Frauendrangsalierer aus Herkunftsgründen, die religiös Musikalischen mit dem absoluten Gehör, die erfolglosen Modedesigner, die Überlieferungsfreaks, die nicht Überzeugten aus Überzeugung, die grundsätzlich Überzeugten jeder Himmels- und Farbrichtung, die »Nö« rufen, sobald das Wort ›rationale Verständigung‹ fällt, sie alle sammelten sich unter der Fahne des wahren Tschipekismus zur wahren Tat und riefen: »Passt!« Das wäre schön.

14.

Ginge es nach den üblichen Millenaristen, die gewohnt sind, das Fell des Bären zu verteilen, ohne sich an der Jagd zu beteiligen, es gäbe einen Tschipek des Nordens und einen Tschipek des Südens, daneben einen des Westens und einen des Ostens. Im Grunde ist es schade, dass nicht mehr Himmelsrichtungen zur Verfügung stehen, sonst käme die wundersame Tschipekvermehrung an kein Ende. Die Leute sind scharf auf Tschipek und jeder will seinen ungeteilt. Das liegt teils daran, dass Tschipek, sobald man ihn teilt, in lauter Bekanntes zerfällt – »Das soll Tschipek sein? So ein Quatsch! –, teils an der nicht unplausiblen Überlegung, dass jede Teilung in Klassenkampf mündet, ja ihn gewissermaßen voraussetzt. In mancher Hinsicht ist Tschipek der Null-Meridian des Klassenkampfes. Praktisch verkörpert er die Reißleine des Planeten, wer an ihr zieht, dem öffnet er sich und fliegt im Ethanolrausch davon. Daher ist es wichtig, ob oben oder unten gezogen wird. Wer oben zieht, ist so frei, wer unten zieht, hängt im Freien. »Nächstes Jahr in Greenwich«: Das ist so eine Parole unter Tschipekianern, sie meinen aber das New Yorker Village, in dem sich die besseren Lokale befinden. Man trifft sich, man begießt sich und wundert sich, weil das Fell nicht nass wird. Eigentlich wundert man sich nicht, man wundert sich nur, weil es angesagt ist und unter Kennern als reflektiert gilt. Reflektierte Kritik ist das, was von der kritischen Reflexion übrigbleibt, sobald sie nicht länger geübt, sondern nur verlangt wird, so wie, zum Vergleich, ein Reporter vom Läufer verlangt, er solle erst duschen und sich umziehen, bevor er fürs Zielfoto über die Linie huscht. Oder, mit Tschipek zu reden: »Erst der Fleck, dann die Ware.« Wer sich entfernt, sieht ihn noch lange, über die Flecken einer Theorie gebeugt, die außer ihm niemand sieht, und murmelnd: »Das ist nicht Rost, das ist rot.«

15.

Tschipek zog es in den Westen, nachdem er da war. Er war auch vorher schon drüben, wie der Igel im Märchen, doch ohne Stacheln und daher unkenntlich. Aus diesem magischen Grundwiderspruch zieht er zwar keine weißen Kaninchen, aber weiße Elefanten: »Seht ihr nicht, was im Raum steht? Seht ihr es nicht? Seid ihr denn blind? Seid ihr taub? Seid ihr sediert? Bin ich der einzige Sehende unter lauter … lauter … ah, da da gehen die Finger hoch, zwei, drei, fünf – fünfzig wäre besser, geht doch, da kommen wir der Sache schon näher.« Der Hauptantagonismus ist nicht leicht zu finden, seit die Welt aus lauter Antagonismen besteht, die einander beharken. Besser, man trägt ihn immer mit sich herum und lässt ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit frei. Alle Ausbeutung, so Tschipek, meint letztlich ein Ding: »Dieses Mathem, diese transhistorische, transkulturelle, formale Matrix, ist das ›Reale‹ des Kapitalismus: das Ding, das gleich bleibt.« Überraschenderweise schließt er daraus, dass es nicht so wichtig ist, wer wen wo wie ausbeutet. »Stellt euch nicht so an«, scheint er den Gebeutelten aller Länder zuzurufen, »besser wird’s nicht.« Das ist seine Deutung des bereits erwähnten Satzes, dass Veränderung erst da eintreten kann, wo alle Hoffnung zertreten wurde. Haut drauf, aber werdet nicht kriminell, bevor ich weg bin. Tschipek sitzt im Flieger, wenn ihn die Nachrichten einholen, er fliegt sich frei, darüber erwartet die Welt ein Buch von ihm, Teile davon zirkulieren bereits, aber unerkannt. Tschipek testet seine Bücher, bevor er sie auf die Menschheit loslässt, indem er ihre Bestandteile in denen versteckt, die bereits auf dem Markt sind. Das hat den Vorteil, dass der Leser stets weiß, woran er ist. Er weiß nur nicht, warum er es jetzt zum zweiten oder dritten Mal liest. Dialektisch gesehen ist er damit im Unrecht, denn Tschipek bewegt sich stets auf einer höheren Stufe. Er hat’s halt drauf.

16.

Wenn Tschipek keine Lust hat, sich mit anderer Leute Geschwätz zu befassen, dann findet er es obszön. So findet er es »vollkommen obszön, die elitären ›Nomaden‹, die im Flieger die Welt umkreisen, auf eine Stufe mit Flüchtlingen zu stellen, die verzweifelt auf der Suche nach einem sicheren Ort sind, an dem sie sich zugehörig fühlen können«. Warum obszön? Warum nicht ›unanständig‹? Vielleicht, weil es peinlich wäre? Die Frage wäre natürlich: Wer beschwert sich hier? Der nomadisierende Professor? Der spezialisierte Facharbeiter auf Dienstreise nach Singapur? Der Manager im separierten Abteil? Beschwert sich überhaupt jemand? Ist nicht die ganze Gegenüberstellung ›gegriffen‹? Von wem gegriffen? Von Tschipek natürlich, der damit Theorie macht. Tschipek findet, ›obszön‹ sei eine gute Vokabel, um obenauf zu liegen. Zum Beispiel fände er, spräche er über sich selbst, es obszön, dass so viel über ihn gesprochen wird. Das bedeutet nicht, dass die Dinge sich besserten, hielte er stattdessen den Mund. Das Gegenteil wäre der Fall. Das Obszöne existiert ja, es will heraus, so wie das Böse, auf dessen Oberfläche es glitzert. Nicht die Existenzform ist obszön, sondern die Weise, in der sie sich äußert. Auf Tschipeks nach oben offener Obszönitätenskala ist obszön, wer das Obszöne obszön findet. Allerdings findet er ihn nicht ganz so obszön wie einen Denkansatz, der ihm persönlich nicht passt: »Ich finde diesen Gedankengang obszön.« Ende der Diskussion. Moralische Diskreditierung, schamgesteuert, ist so etwas wie ein Hausmittel, den akademischen Diskurs tabufrei durch die Gewässer des öffentlichen Geschwätzes zu steuern. Ein B-Typ, denkt Tschipek, wer nicht danach greift.

17.

Tschipek lässt die Beine baumeln und starrt ins Leere. »Adieu Psyche, adieu Seminarwelt, adieu Universum! What comes next? Wer hat die Pfoten verdeckt im Spiel, wenn das Spiel aus ist?« Wer im Märchen lebt, der will am Ende heraus. Was aber, wenn das Märchen aus lauter Märchen besteht, die einer selbst gesponnen hat? Wohin fällt, wer beschlossen hat, nicht mehr aufzufallen? Im Grunde, sinniert Tschipek, ist das exakt die Lage, in der sich der Westen befindet. Er ist der Westen nicht mehr, während er doch davon lebt, der Westen zu sein. In dieser Lage »Go West!« zu rufen, hat etwas Trotziges: Dort, im Westen, lauert der Klassenfeind, der jetzt vorgibt, er lauere überall. Angekommen zu sein und das Haus stände leer: ein Debakel. Das darf nicht sein. Der Kapitalismus braucht keine Demokratie. Aber ist das noch der Kapitalismus, den wir lieben? Wenn die Amerikaner vor lauter fehllaufender Correctness anfangen, Leute wie Donald Trump zu wählen, dann hat die Theorie, mit Verlaub gesagt, versch***. Allein die Sternchen zeigen schon, wohin dort die Reise geht. Zu dieser (zugegeben späten) Stunde wird es Zeit, sich auf das alte Europa zu besinnen. Platon – ein europäisches Ereignis! Der radikale Egalitarismus – europäischer Zündstoff! Die moderne Subjektivität, nun gut, wir müssen sie kritisieren, aber als Idee – europäisch! Was noch? Der Kommunismus, da kommen wir der Sache schon näher – das europäische Ereignis schlechthin! Nun gut, streichen wir das ›schlecht‹, es verdirbt den Sinn, schreiben wir ›guthin‹. Gut Ding hat Weile, das gute Stück Wegs dahin will genossen werden. Nur im Genuss findet der Mensch sich, jedenfalls bruchstückhaft. Was will mir ein Bruchstück von mir? Das soll mir genügen? Eurozentristisch gedacht, ist der Eurozentrismus schlecht. Nieder mit dem Eurozentrismus! Ganz nach unten damit, denn er ist die Basis von allem. Was wäre die Welt ohne einen gesunden Eurozentrismus? Sie wäre ärmer – das zumindest verbindet uns mit den Reichen. Oder mit den Armen? Oder mit den Anderen? Oder mit den Fremden? Wieso dann fremd? Mittun kann jeder, es käme drauf an, was einer daraus macht. Oder wir mit ihm. Oder es mit uns. Oder es mit sich… Unsinn.

Slavoj Žižek, Der Mut der Hoffnungslosigkeit. Frankfurt M. (S. Fischer) 2018